7. Was tun?
Wer die Kälte nicht mag, die von einem solchen Szenario ausgeht, verfügt über mehrere Möglichkeiten: er kann sich indigniert von ihm abwenden, er kann über politisch-administrative Regularien nachdenken und er kann sich in die Mysterien der Reproduktion und Migration vertiefen, die ihn aus den Statistiken anblicken. Veraltete Bevölkerungsprognosen haben auch etwas Erheiterndes. Angesichts der in ihnen kondensierten kollektiven Zukunftsängste genießt man den Status des Entronnenen oder dessen, der zuverlässig weiß, dass alles doch ganz anders gekommen ist. An dieser Zuverlässigkeit Zweifel zu streuen, kann angebracht sein, wenn die Fakten mehrdeutig bleiben. Den Siegeszug der Pille begleitete der Albtraum der globalen Bevölkerungsexplosion, die binnen kurzem die Vorräte dieser Erde weggezehrt haben und unvorstellbare Hunger-, Elends- und Gewaltexzesse mit sich bringen würde. Angesichts der ungewohnten sexuellen Freiheit beruhigte er das religiös imprägnierte Gewissen, das den Eingriff in die Schöpfung als frevelhaft empfand. Er legte die Verantwortung für die Schöpfung, für ›unseren blauen Planeten‹ in die Hand jedes Einzelnen und eröffnete damit dem ›verantwortlich denkenden Menschen‹ einen neuen Spielraum. So real der Anstieg der Weltbevölkerung, so irreal war die Vorstellung, durch die eigene Zeugungsmoral den Prozess zu stoppen oder umzukehren – ein Fall jener ›Hypermoral‹, von der damals konservative Haudegen schrieben.
Angesichts der trivialen Erkenntnis, dass Weltprobleme sich nach Regionen differenzieren und einen nicht daran hindern sollten, die eigenen Verhältnisse zu bedenken, meldet sich das häusliche Gewissen in Formen zu Wort, denen sich eine gewisse Komik nicht absprechen lässt. Während viele nach wie vor die Alten von morgen als neue Ressource betrachten, die man nur angemessen erschließen müsse, um wie gewohnt für Wachstum und Wohlstand zu sorgen, und Finanzminister die erhofften Einsparungen im Bildungssektor verplanen, erinnern sich andere Publikumslieblinge an menschliche Ursituationen und setzen auf Überlebenskonzepte, in denen der Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft bereits als ›unaufhaltsam‹ vorweggenommen wird. Andererseits ist sich die Bevölkerungswissenschaft ihrer Instrumente wie der Verlässlichkeit ihrer Aussagen ziemlich sicher. Auf die komische Seite gehört vielleicht auch das aktuelle UN-Szenario, nach dem jährlich 3,4 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um die heutige support rate, das Verhältnis von arbeitender und zu versorgender Bevölkerung, zu erhalten – das ergäbe im Jahr 2050 eine Bevölkerung von 299 Millionen bei einem Migrantenanteil von 80 Prozent. Zahlenspiele wie dieses sollen die Tatsache erläutern helfen, dass, Zuwanderung hin oder her, die Veränderung der Altersrelation durch den Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung in den ›entwickelten‹ Gesellschaften ›gegeben‹ sei. Doch es existieren keine Tatsachen in der Zukunft. Auch die Entscheidungen, die sie herbeiführen werden, sind noch unbekannt und bestenfalls in Umrissen erahnbar. Gut möglich also, dass sich im Jahr 2050 besagte Millionen im Lande aufhalten werden, ebenso gut möglich, dass die Altenheim-Vision der berühmten Variante eins des Statistischen Bundesamts (67 Mio, davon 25 Mio über Sechzigjährige) ›eins zu eins‹ umgesetzt wird – möglich, wenngleich wenig wahrscheinlich. Selbst im letzteren Fall wird vorausgesetzt, dass das Land als Einwanderungsland attraktiv bleibt – was vermutet werden, aber ebensowenig den Status eines gesicherten Wissens beanspruchen darf. Es sollte nicht schwerfallen, Gründe für eine Massenflucht aus dem Altenheim zu ersinnen. Eine Klientel, die dem Gedanken an Einbürgerung skeptisch bis gleichgültig gegenübersteht, kann auch weiterziehen, wenn die Bilanz der Einwanderungs- oder Bleibegründe negativ ausfällt, und sie kann sich darin ohne weiteres mit einer anderen treffen, für die auch dieses ›Herkunftsland‹ schon jetzt einen Hautgout besitzt, wie ihn Herkunftsländer nun einmal haben. Das alles ist denkbar, es existiert als Trend mit- und nebeneinander im Zeichen des Liberalismus, der sein planetarisches Prosperitätsversprechen weder dosieren noch zurücknehmen kann, weil er nicht als Akteur in Erscheinung tritt, sondern als dieses Versprechen.
– wird fortgesetzt –
Teil 1: Demographischer Wandel: Der große Übergang (1)