von Detlef Lehnert

Der Ausgangspunkt: Wird ›rechts‹ nun in der ›bürgerlichen Mitte‹ salonfähig?

Vom Recht, rechts zu sein, so lautet der Titel über den »Gedanken eines heimatlosen Konservativen«, als der sich Ulrich Greiner, langjähriger Feuilleton-Chef der als ›liberal‹ geltenden Wochenschrift Die Zeit, nunmehr zu erkennen gibt (10.3.2016, S. 44 ).

Das Wort ›rechts‹ ist dabei mit knapp 8 cm Höhe des Buchstabens h – gegenüber nur 0,2 cm des Autoren-Namens – dermaßen übergroß geraten, dass eine Provokation redaktionell beabsichtigt erscheint. Der Verfasser legt offen, er habe »so gut wie immer SPD gewählt«, sei aber »froh, am Sonntag nicht wählen zu müssen« – dem 13. März der drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Die Verantwortung für seine Haltungsänderung trägt Greiner selbst: »Doch nun, da ich alt bin, nehme ich das Recht in Anspruch, konservativ geworden zu sein.« Das erläutert er zuvor an drei Dissenspunkten zum beklagten Zeitgeist: Ein solcher Konservativer beharre »erstens« strikt auf »den Gedanken der Verfassungsväter: Der Staat soll Ehe und Familie schützen, weil ihm daran gelegen sein muss, die Generationsfolge zu erhalten.« Dies richtet sich gegen die Öffnung des Ehe- und Familienverständnisses, zu der übrigens auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beigetragen hat, nämlich als geltungsfortbildender Interpret jener – nicht auf 1949 »versteinert« zu lesenden – Verfassungsnormen. Es folgt »zweitens« eine Aufzählung von Einzelpunkten seiner EU- und Euro-Skepsis mit betont restriktivem Fazit: »Europa könnte froh sein, wenn es ein halbwegs funktionierender Staatenbund wäre«. Das greift hinter den integrationsfreundlicheren christdemokratischen Konservatismus auch der CDU-Kanzler Adenauer und Kohl zurück; es kollidiert auch mit einem im geltenden europäischen Recht bereits verankerten Charakter eines Staatenverbunds, wie das BVerfG die (nicht notwendig transitorische) Zwischenform jenseits von Staatenbund und Bundesstaat bezeichnet. »Drittens« folgt der ersichtliche Anlass eines solchen Bekenntnisses, »rechts zu sein«, nämlich die »Sorge« um die »Flüchtlingskrise«. Greiner findet »die Warnung vor einer Islamisierung keineswegs absurd«; »der okzidentale Konservative sucht im Glauben seiner Väter Trost, denn er rechnet sich zu jenen, denen der Begriff Abendland noch etwas bedeutet«. Natürlich »verabscheut« der Autor die »Anschläge auf Asylantenheime und den Fremdenhass, der sich darin Bahn schafft«. Aber z.B. über ›Pegida‹ verliert er kein Wort, obwohl dieses Kürzel in den hinteren vier Buchstaben ›gegen die Islamisierung des Abendlandes‹ bedeutet. Insofern bleibt die Verwendung solcher Begriffe wie ›Islamisierung‹ und ›Abendland‹ durch Greiner klärungsbedürftig, zumal für ihn die AfD »anfangs eine respektable konservative Partei zu sein schien« (die nun aber »schmutzige Signale aussendet«).

Merkwürdig daran ist zunächst der vermittelte Eindruck, als müsse hierzulande und gerade jetzt besonders dafür gestritten werden, im noch demokratischen Meinungsspektrum ›rechts‹ sein zu dürfen. Eine repräsentative Umfrage (Philipp Schneider, Rechtsruck in Europa, in https://yougov.de/news/2015/12/22/rechtsruck-in_europa_2) vom Dezember 2015 ergibt zur Frage, ›wie sich die politische Einstellung der Gesellschaft in den letzten 5 Jahren entwickelt‹ hat, für Deutschland mit 49 Prozent ›nach rechts‹ und nur 10 Prozent ›nach links‹ (Rest: keine Änderung/ohne Antwort) ein sogar etwas deutlicheres Bild aus der Sicht von Befragten als zum je eigenen Land in Frankreich (42 zu 17 Prozent) und in Großbritannien (40 zu 10 Prozent). Das wird man auch als höhere Sensibilität und Wachsamkeit in der Wahlbevölkerung angesichts der deutschen Vergangenheit deuten können. Außerdem ist die Stärke des Front National in Frankreich nicht völlig neu (der noch offener rechtsradikale Vater Le Pen stand 2002 in einer Präsidentenstichwahl) und der rechte Flügel der britischen Konservativen schon lange nicht mit dem Mainstream der kontinentalen Christdemokraten auf einer Linie. Also nicht eine ›rechtere‹ Einstellung als in diesen großen Nachbarländern wurde erfasst, sondern eher der Eindruck, dass sich in Deutschland vor der Euro- und Flüchtlingskrise weniger ›rechte‹ Stimmungen in der Gesellschaft artikulierten.

Auch das sogar in ›liberalen‹ Leitmedien wie der Süddeutschen Zeitung vermittelte Bild, dass sich »die CDU zudem leicht links der Mitte positioniert« habe (4.3.2016: Thorsten Denkler, Fünf Gründe, warum die Lage der SPD so schwierig ist) und so (außerhalb Bayerns und bei AfD-Abneigung) gemäßigte ›Rechte‹ politisch heimatlos wurden, hält genauerem Blick in betreffende Daten nicht stand. Das Fünkchen Wahrheit solcher Meldungen liegt allein darin, dass im November 2015 – wegen ›rechte‹ Befragte irritierender Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin – die CDU erstmals minimalst ›links‹ von einer vorgestellten Mitte eingeordnet wurde; allerdings noch immer ebenso minimalst ›rechts‹ von der (nun wirklich nicht ›linken‹) FDP und wohlbemerkt schon einiges deutlicher ›rechts‹ als der Befragten-Durchschnitt sich selbst einstuft (Infratest Dimap, Dezember 2015). Neben dieser empirischen Mitte steht die SPD nur minimalst ›links‹, was in dieser größten Nähe zum Mittelwert aber offenbar nur die Koalitionsfähigkeit, zuletzt weniger häufig die Wahlergebnisse beflügelt; die Grünen werden nicht weiter ›links‹ von jener mittleren Selbsteinstufung der Befragten gesehen als die CDU ›rechts‹ davon. Solche Abstände sind deshalb interessanter, weil die CDU schon immer politische ›Mitte‹ sein wollte und im Meinungskontinuum vergleichsweise Rechtsstehende der Befragten sich auch deshalb gern noch als ›Mitte‹ ausgeben, während die Bekenntnisfreudigkeit ›links‹ höher ist. Tatsächlich bleibt also nach dem Ergebnis von Selbsteinstufungen der Abstand der CDU von der gemessenen Mitte unter Berücksichtigung der ›rechteren‹ CSU strategisch nachvollziehbar – und liegt vielleicht eher die Position der SPD zu wenig nach ›links‹ davon entfernt, um zumal in einer Großen Koalition noch hinreichend unterscheidbar zu sein.

Es hieße aber den persönlich gehaltenen Zeilen Greiners unnötig Aufmerksamkeit zu verschaffen, wenn der Autor nicht außer Schriftstellern wie Botho Strauß »Intellektuelle wie Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk oder Udo Di Fabio« als gesinnungsverwandte Exponenten eines »seriösen Konservatismus« bemüht hätte. Außerdem hat sich der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der 1992 Mitorganisator der ›Lichterketten‹ gegen Fremdenfeindlichkeit war, aber 2010 eine »massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze« befürchtete (Zeit Online v. 18.2.2010), vor Millionenpublikum nach den Landtagswahlen am 13. März auf Greiner bezogen: In der ZDF-Sondersendung verwies er auf dessen Beitrag in der Zeit mit der Frage an die CDU, »ob es richtig ist, den konservativen Teil der Wähler heimatlos zu machen« (https://www.youtube.com/watch?v=Jm50KJ-7rAM 38:20–39:10 min/sec). Das war allerdings gar nicht der Tenor von Greiner, der erklärt hatte, sozusagen alterskonservativ ›geworden‹ zu sein und nicht etwa parteikonservativer Nostalgie anzuhängen: »Mit der CDU habe ich kein Mitleid, immer war sie eine Machtgewinnungs- und Machterhaltungspartei.« Seine geistige Heimat ist ein Kulturkonservatismus einschließlich umgedeuteter Reste auch ›linker‹ Globalisierungskritik: »Der neue Mensch, den der Kommunismus vergeblich zu erschaffen suchte – im Kapitalismus ist er Wirklichkeit geworden« (Die Zeit, 10.3.2016, S. 44). Dieser von Greiner abgelehnten Realität stand freilich der zuvor als »konservative Partei« in Erwägung gezogene wettbewerbsorientierte Wirtschaftsliberalismus der Lucke/Henkel-AfD gar nicht entgegen. Dessen ungeachtet findet die bei di Lorenzo anklingende Neigung, den AfD-Wählenden vorsichtshalber mit mehr Verständnis zu begegnen, in bundesweit repräsentativen Umfragen nach den Landtagswahlen des 13. März keine geeignete Stütze. Auf einer Skala von 0 bis 5 lehnt die breite Wählerschaft der anderen Parteien die AfD bundesweit mit großer Entschiedenheit ab: seitens CDU/CSU-Anhänger minus 3,5; FDP und Linke minus 3,7; SPD minus 4,1; Grüne minus 4,4. Das sieht zunächst nicht nach weiteren Abwanderungen, sondern eher nach einem stimmungsbedingten Höhepunkt am 13. März aus (http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer, 18.3.2016).