Zur seelischen Selbsterkundung niedergeschrieben am 28. Juni 2010, dem serbisch-deutsch-österreichischen Schicksalstag

von Herbert Ammon

Von der von DFB-Gewaltigen um ihr Interview mit Horst Eckel, Sieger der Schlacht von Bern 1954, gebrachten rechtskonservativen Junge[n] Freiheit war nichts anderes zu erwarten. Das Blatt nährt seine Hoffnung auf nationale Wiedergeburt aus dem Geist der Glotze und der fahnenschwingenden Massen auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor. Aber wie steht es mit all den anderen geistesbildenden Organen im ungeliebten Lande?Angesichts des triumphalen Vormarsches der deutschen Helden am Kap, lebt die deutsche Medienseele mit sich selbst im Widerspruch. Darf sie, soll sie, wie weit muss sie in des Volkes Jubel einstimmen und Richtung Endsieg steuern?

Selbst das linksliberale Leitblatt taz, genauer: die online-Ausgabe, hat gegen schwarz-rot-goldenen Fahnenrausch und Massenjubel derzeit anscheinend wenig einzuwenden, da die deutsche Mannschaft ja nicht mehr deutsch, sondern multi-ethnisch bereichert auftritt. Zur eigenen Erbauung mokiert sich die taz über prollige NPD-Verdächtige (»Immerhin, der Türke kann was!«) − und mutmaßliche Linke-Wähler − in Kneipen der östlichen Stadtteile. Den Empfindungen des FAZ-Publikums, dem Fußball gemeinhin weniger innerlich verpflichtet als bayerische Spitzenpolitiker aus den ›Volksparteien‹, wird die Überschrift des Intelligenzblattes fraglos gerecht: »4:1 – Deutschland im Viertelfinale gegen Argentinien«, deutscher Fußballstolz verpackt im europäisch geläuterten Wir-Gefühl. In hässlichem Kontrast dazu der Aufmacher im Sportteil: »Revanche für Wembley«.

Ehe ich zum historischen Kern meiner Kritik am medial vermittelten Fußballfieber vorstoße, noch eine kurze Apologie meines nationalbolschewistischen Taumels: Der Biergarten, den ich zur nationalen Erbauung bevorzugt aufsuche, ist von der Fanmeile meilenweit entfernt, zudem trotz bemerkenswert niedriger Bierpreise von bürgerlich-gesittetem Publikum frequentiert. Dem dortigen gemäßigten Massenjubel musste ich am gestrigen Sonntagnachmittag aus Repräsentationsgründen entsagen. Ich fungierte als Gastgeber eines ethnisch gemischten Publikums vor dem wegen seiner mickrigen Dimensionen kritisierten Flachbildschirm. Zu den Gästen des private viewing gehörten ein in den USA sozialisierter britischer EU-Passbesitzer (und Teeliebhaber), dazu sein kasachischstämmiger Adoptivsohn (kein Rußlandjungdeutscher) sowie eine bezaubernde junge Dame portugiesischer Provenienz (eher ohne nachweisliche Verwandtschaftsbeziehung zum faschistischen Junggesellen Salazar).

Am Grill beschäftigt, versäumte ich den patriotischen Auftakt vor der Battle of Britain, blieb daher national so unergriffen wie sonst nur Mesut Özil und Podolski (einer von den Perunies, die es mit beiden Seiten hielten). Beim ersten Tor sah ich Klose (deutsch-nationaler Sänger, obgleich oberschlesischer Landsmann Podolskis) nicht im Abseits, wohl aber nach dem schockierenden 2:1 den Ball Lampards klar einen halben Meter hinter Neuers Torlinie. Dass die Welt ungerecht ist, gehört zu den existenziellen Lebenserfahrungen. Nicht bloß zum Seelentrost unseres in Englands Obstgarten Kent geborenen EU-Passbesitzers verwies ich von Zeit zu Zeit auf die Psychologie (›Kampfmoral‹) als wichtiges, wenngleich nicht hinreichendes Moment einer Schlacht. Die deutsche Euphorie der anwesenden Massen – man denke an den ominösen Mauerfall – ließ keinen Raum für derlei Bedenken.

Zur medialen Nachfeier heute beim Frühstück: die Überschriften in der FAZ. Danach, nach Durchsicht der Mailbox, das lebenszeitvernichtende Browsen im Internet. Da endlich, Spiegel-online berichtet vom vorhersehbaren Fauxpas: »Panne bei der BBC: Im Internet-Liveticker zum Spiel Deutschland gegen England hat Großbritanniens öffentlich-rechtliche Sendeanstalt die falsche Strophe des Deutschlandliedes präsentiert. ›Deutschland, Deutschland über alles / Über alles in der Welt‹ und so weiter − das ist die erste Strophe. Sie sollte spätestens seit dem Ersten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus deutsche Überlegenheit ausdrücken (›Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt‹) und ist seither verpönt. Bei der offiziellen Nationalhymne wird nur die dritte Strophe des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben gesungen (›Einigkeit und Recht und Freiheit...‹). « Zum Glück sind Spiegel-Leser wachsam: »Ein SPIEGEL-ONLINE-Leser bemerkte in der Nacht das Missverständnis bei der BBC – unter 14.54 Uhr britischer Zeit steht im Liveticker der falsche Text zu lesen. Gesungen wurde im Stadion natürlich die dritte Strophe.«

Gott sei Dank! Aber ach, es besteht wenig Hoffnung, dass der/die fleißige online-Redakteur/in die real vertrackte Geschichte des vom Exilanten August Heinrich Hoffmann großdeutsch-demokratisch gewendeten Preisliedes, von Reichspräsident Friedrich Ebert dereinst zur Nationalhymne erkoren, jemals noch entwirren könnte. Doch als Deutsche dürfen wir auch ein kleinwenig stolz sein: Wir haben der textualen Verwirrung widerstanden, die zweite sexistische Strophe längst vergessen und ehren unsere wahren Helden: Podolski, Mesut und Boateng (Jerome, aus dem ›bürgerlichen‹ Wilmersdorf).

Zur Ergänzung:

WM-Splitter
»Deutschland über alles« als Hymne auf BBC
WM-Splitter - Kurznachrichten vom Spieltag
[27. Juni, 23 Uhr] Leser empören sich über BBC

Der Sender ist nicht der erste, der diesen Fauxpas begeht. 2008 hat der Schweizer Fernsehsender SF2 beim letzten EM-Vorrundenspiel der deutschen Mannschaft die Nationalhymne auf gleiche Weise im Videotext falsch untertitelt. Die Verantwortlichen sprachen von einem »unverzeihlichen Fehler«. Andere stimmen die erste Strophe des Deutschlandliedes dagegen schon mal provokativ an. Skandalrocker Pete Doherty sang sie im vergangenen Dezember bei einem Auftritt in München - und bat danach um Entschuldigung.

 

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