Wie wir in die Öko-Falle gerieten
von Steffen Meltzer
Als Schönwettertouristen fassten wir kurzfristig den eiligen Entschluss, die letzten Sonnenstrahlen des zu Ende gehenden Sommers in der Toskana genießen zu wollen. Ein abgelegener großer Bauernhof, inklusive eines eigenen Restaurants, mitten in der mediterranen Kulturlandschaft: Das war es. Den fehlenden Fernseher im Appartement betrachteten wir als willkommene Erlösung von der in Deutschland üblichen einseitigen 24/7-Berichterstattung. Anfangs wunderten wir uns etwas, dass wir unter den Gästen vorwiegend Frauen und nur wenige Männer sahen. Letztere hatten meistens die Taschenträgerrolle inne. Dagegen war Öko-Kleidung mit einem fröhlich aufgesetzten femininen Hallöle-Singsang angesagt.
Wo waren wir hingeraten?
Ein Lichtlein ging uns auf, als wir zur Speisekarte griffen. Es wurde ganztägig vegetarische Kost serviert. Kuhmilch? Fehlanzeige. Vegetarischer Kuchen – mit dem Hinweis ›Glutenfrei‹ versteht sich. Nun ja, zufälligerweise hatte ich ca. zehn Tage vor Reisebeginn ohnehin beschlossen, meine Ernährung umzustellen. Aber so krass doch bitte nicht! Ich begann, mir die bevorstehenden Tage in puncto Essen schön zu reden. Was will Mann auch machen? Kein Kiosk mit Currywurst in der Nähe. Die zukünftig in Deutschland ›empfohlenen‹ (also erlaubten) zehn Gramm Fleisch pro Tag und Person begannen sich in meiner Phantasie als Verwöhnprogramm in Form einer großen leckeren Schlachtplatte aufzutun. Ich war schon kurz davor, Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (»Weg zur Ernährungsstrategie der Bundesregierung«) einen Dankesbrief aus Italien zu schreiben. Für den Luxus von zehn Gramm Fleisch hätte ich hier alles stehen und liegen gelassen.
Bald wurde uns der Zusammenhang zwischen dem vorherrschenden Publikum und der ausschließlich vegetarischen Kost klar.
Eine Schweizer Yogagruppe, fast nur aus Frauen unseres Jahrgangs bestehend, nahm den Poolbereich für sich in Anspruch. Früh wurde auf Kommando trainiert, nach dem Frühstück am Wasser meditiert. Bitte nicht stören! Ein Mann, im Gegensatz zu den Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts sehr beleibt, machte nach dem Mittag mit den Damen umfangreiche Fotoshootings, die am Abend bei schöngeistigen Getränken gemeinsam betrachtet und lautstark ausgewertet wurden. Bei Tag galt: Keinesfalls am oder im Wasser planschen oder durch das Kamerabild laufen. Hier geht es um Eingebungen der höheren Schule.
Eine Familie mit zwei kleinen Kindern war auch vor Ort. Der allgemeine Ton im Umgang war woke: »Danke für Ihr Verständnis, dass sich unsere Kinder für Ihren Hund interessieren dürfen!« rief es schon von weitem. Ich finde es prinzipiell richtig, dass Eltern den/die Besitzer fragen, ob ihr Kind in die unmittelbare Reichweite eines angeleinten Hundes darf: »Ihre Kinder können gern unsere Hündin berühren, sie ist sehr kinderlieb.« »Wunderbar! Dankeschön, das ist ja toll«, schallte es mit der extrovertierten Stimmmodulation einer gewollten Sopranistin zurück, dass die angrenzenden Scheiben klirrten.
»Das ist doch ganz normal, dass sich die meisten Kinder für Tiere und auch für Hunde interessieren, mir ging es damals auch nicht anders«, versuchte ich halbwegs empathisch zu antworten, um das Gespräch von der theaterreifen Tonlage und formellen Höflichkeit wegzuführen.
Das Positive an diesem vegetarischen Lokal war der Wein und so wurde es ein schöner Abend. Bei Antialkoholikern waren wir nicht zu Gast. Winke, winke und das unvermeidliche »Hallöle« der dünnen Seniorinnen in den unpassenden Kleidungen junger Leute an alle umliegenden anderen Gäste: Der bedrohlich-lauwarme Toleranzgeist von Bullerbü schwebte über unserem Haupt.
Nach der Abreise der Yogagemeinschaft (bevorzugt im schweren VAN, denen zersticht man in Deutschland gern die Reifen) tauchte ein neues Schweizer Geschwader auf, diesmal in Gestalt mehrerer junger Familien mit kleinen Kindern. Einer der Fahrzeugführer fiel mir besonders in den Blick, da sein alter VW-Bus die Tarnfarbe des Schweizer Heeres aufwies. Das ist ja echt alternativ, schoss es mir durch den Kopf, gefällt mir! Das Vehikel weckte meine Neugierde.
Der stolze Familienvater mit korrekt hochgestecktem Dutt und Vollbart, von meinem Interesse sichtlich geschmeichelt, war sofort bereit, über sein Automobil Auskunft zu geben. Baujahr 1989, immense Kosten zur Instandhaltung, jährlich etwa 1000 bis 2000 CHF, innen familienfreundlich umgebaut, Verbrauch mindestens 13 Liter Benzin.
Oha, dachte ich, dieser bitterböse CO2-Fußabdruck und dann Urlaub auf dem Ökohof, das ist doch mal wieder typisch! Die müssten dann das restliche Jahr in einer Erdhöhle im Wald wohnen und nichts verbrauchen. Ich schielte dabei zu meinem Diesel, der deutlich weniger Kraftstoff schluckt. Offensichtlich hatte der Schweizer meine Gedanken erraten, denn er fügte ohne Unterbrechung hinzu: Zu Hause besitze er einen Tesla und eine Solaranlage auf dem Dach, von deren Strom er den Akku seines E-Autos speise. Er würde damit faktisch kostenfrei fahren.
Ob es sich um eine Ökoprotzerei handelte oder um Tatsachen, habe ich nicht erkundet. Dazu fehlt mir das Interesse, da ich mir nicht vorstellen kann, mit einem PKW voller Akkus alle 400 km stundenlang ›aufzutanken‹. Ich erinnerte mich an das vorige Jahr in der Toskana, als wir Deutsche kennenlernten, die aus dem Ruhrgebiet mit einem Elektroauto angereist waren. Sie mussten viermal dafür übernachten. Diese persönliche Konsequenz der mobilen Beschränkung fand ich in Ordnung.
Auf andere trifft anderes zu. So sind sie, die klimarettenden Grünen, entweder sie fahren einen durstigen Verbrenner und behaupten, ein E-Auto für den Alltag zu besitzen, oder sie fahren einen Tesla und haben auf Sylt einen Porsche in der Tiefgarage stehen. Alternativ fliegen sie gleich nach Bali in den Urlaub oder wie die Grüne Katharina Schulze zum Eisessen aus Plastikbechern nach Florida. Passt schon. Trotzdem, der Bulli war ein schönes Stück deutscher Ingenieurskunst. Ich bin ja auch kein Klimafanatiker und manchen ›Sünden‹ gegenüber nicht abgeneigt.
Bereits nach drei Tagen Naturaufenthalt stellten wir fest: Nur vegetarische Ernährung ist für uns nicht die Erleuchtung für Seele, Geist und Körper. Wir verbanden daraufhin den Besuch einer über 2000-jährigen Stadt mit einer ausgiebigen Fleischmahlzeit. Erstmals stellte sich ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl ein. Schlechtes Gewissen? Fehlanzeige!
Die Zeit ging ins Land, dabei schauten wir täglich auf den Wetterbericht und uns wurde klar: Die sonnigen Tage gehen zur Neige. Also noch einmal auf die angrenzende sonnige Terrasse mit dem weiten Blick ins Tal gesetzt. Bereits gestern waren von den drei Tischen zwei ganztägig belegt. Wie kann das sein? Ganz einfach, auf den Stühlen lagen Sachen zum Trocknen. Als ich mich an den verbleibenden Tisch setzen wollte, war eine der ökobewussten jungen Frauen schneller als ich: Sie begann auf den wenigen leeren Stühlen feuchte Sachen zum Trocknen auszulegen. Danach wären nur noch Stehplätze vorhanden gewesen.
Mein höflicher Hinweis, dass sie vor ihrem (entfernt liegenden) Appartement einen eigenen Wäscheständer stehen habe (allerdings ganztägig im Schatten) und dass die Gastgeber eine Wäscheleine für nasse Kleidung zur Verfügung gestellt hätten, wurde mit eisigem Schweigen und einem tödlich-kalten Blick bestraft. Wutentbrannt und stolzen Schrittes wie ein Matador nahm sie ihre Klamotten wieder ab und zog von dannen. Die gespielte Höflichkeit der Tage zuvor war schlagartig dahin. Affektierte Freundlichkeit als Ausdruck von Dominanz.
Denken Sie jetzt bitte nicht an die Grünen, die keinen Widerspruch dulden und jede aufkeimende Kritik als ›voll rechts‹ brandmarken. Dafür sind diese sehr freundlich und unglaublich demokratisch, solange man vollständig ihrer Meinung ist. Eine aufkreuzende Hamburgerin machte mit den verbliebenen Stuhlsachen kurzen Prozess: Sie nahm sie an sich und legte sie mit der Bemerkung »Die können ihr Revier woanders markieren!« über die angrenzende Mauer. Dort lagen sie auch noch zwei Tage später. Ein Hauch von mallorquinischem Handtuchkrieg wehte durch die Toskana. Diesmal hatten die Bürgerlichen gesiegt.
Als uns klar wurde: Ab dem folgenden Tag gehen die Temperaturen zurück und es regnet, verließen wir gewichtsreduziert, aber mit knurrendem Magen das ökologische Projekt. Neben der immer wieder unvergleichlichen Toskana und einigen geschichtsträchtigen Städten durften wir eine biologische Landwirtschaft kennenlernen und die dazugehörige akademische Bourgeoisie aus dem linksgrünen Lifestyle-Milieu. Wir waren von der offensichtlich gelebten Verhaltens-Hegemonie und sichtbaren Doppelmoral keineswegs überrascht. Um schnellstens nach Hause zu kommen, sind wir diesmal ohne Übernachtung durchgefahren. Ich freute mich auf Schweinefleisch, Sauerkraut und ein kühles Bier.