von Johannes Eisleben

Die öffentlichen Äußerungen deutscher Politiker und Journalisten zur neuesten Eskalation im Nahostkonflikt sind nicht so recht befriedigend. Einerseits hören wir vom Bedauern über das grausame Massaker, das die Islamisten der Hamas Anfang des letzten Monats verübten und vom Recht des Staats Israel, sich zu verteidigen. Andererseits verurteilen viele Teilnehmer am öffentlichen Diskurs das Vorgehen Israels. Derweil demonstrieren Islamisten in den migrationsintensiven westeuropäischen Ländern überall, teilweise auch gewalttätig, gegen Israel und zweifeln dabei das Existenzrecht des Staates an. Die Kommentare dazu versäumen es, die Ursachen des Konflikts klar darzulegen, nahezu keiner der Texte ist richtig schlüssig, fast niemand äußert sich mit der notwendigen Klarheit zu diesem Konflikt. Auch die alternativen Medien, die sich eindeutig für Israel einsetzen wie achgut.com sind in ihrer Berichterstattung nicht ganz klar.
Woran liegt das?

Worum es in diesem Konflikt geht

Der Zionismus entstand im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus. Er hatte und hat das Ziel, den Juden in Palästina eine Siedlungsmöglichkeit und einen eigenen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt zu ermöglichen. Seit der Errichtung des Staates Israel im Jahr 1948 mit der israelischen Unabhängigkeitserklärung ist das Ziel des Zionismus die Aufrechterhaltung und Erweiterung des Staates, der seit seiner Gründung von den arabischen Nachbarn, die ihn umgeben, mit unterschiedlicher Intensität bekämpft wurde. Israel war und ist weiterhin stets existentiell bedroht, weil der Islam im Wesentlichen das Ziel verfolgt, andere Religionen auszuschalten und die ganze Welt unter die Umma, die theokratische islamische Herrschaftsform, zu bringen. Der islamische Antisemitismus ist fundamental, im Koran und vielen theologischen Schriften wird zur Vernichtung der Juden aufgerufen, und unter den Ahl al-kitāb, den nichtmuslimischen Buchgläubigen, also Juden und Christen, sind die Juden gegenüber den Christen deutlich schlechter gestellt [1].

Der Islam ist eine theokratische Religion, die anders als das Christentum, in dem Religion und Staatswesen klar voneinander abgegrenzt sind, einen religiösen Staat vorsieht, in dem Herrschaft durch die Religion erfolgt. Während historische Herrschaftsansprüche der christlichen Kirchen biblisch durch nichts zu rechtfertigen sind, weil in der eindeutigen Auffassung der Theologie des Neuen Testaments einzig dem Staat weltliche Herrschaft gebührt, ist der Islam essenziell theokratisch ausgerichtet [1]. Aus seiner Sicht darf ein jüdischer Staat in Palästina nicht existieren. Die Hamas ist radikal islamistisch und hat aus religiöser Motivation die totale Vernichtung des jüdischen Staates zum Ziel. Nicht alle Muslime hassen Israel und wollen es vernichten, moderatere Nachbarn haben sich auf eine Koexistenz mit Israel eingestellt. Doch ist die seit Jahrzehnten angestrebte Zweistaatenlösungen unrealistisch. Denn viele in Palästina lebende Araber (sog. Palästinenser, eine Fehlbezeichnung), die nicht jüdische Staatsbürger sind – Israel hat 20 Prozent muslimische Bürger – wollen keine Zweistaatenlösung. Und die Mehrheit der Israelis will sie ebenso wenig. Die Juden wissen nämlich, dass es mit den in Palästina lebenden Arabern keine Kompromisse und keine Koexistenz geben kann. Beide Gruppen betrachten das Land als heilig und beanspruchen Israel aus religiösen Gründen. Der israelische Staat ist zwar nicht theokratisch wie muslimische Staaten, aber die Religion ist das ideelle Fundament dieses Staat.

Es kann für diesen Konflikt keine Lösung geben, Israel ist von theokratischen Gegnern umgeben, die aus religiös-politischen Gründen seine Existenz nicht ertragen oder sich lediglich, wie Ägypten und Jordanien, einstweilen mit Israel arrangiert haben. Kommt es in diesen Ländern jedoch zum Machtwechsel und einer Theokratisierung, wie wir sie unter dem Islam immer wieder beobachten, werden sich diese Ländern auch gegen Israel stellen. Beide Ländern wollen ebenso wenig wie andere muslimische Staaten in der Region, die in Palästina lebenden Araber aufnehmen, weil sie wissen, dass diese Menschen massiv radikalisiert sind. Sie sind nicht einmal dazu bereit, falls Israel die ethnische Säuberung des Westjordanlandes und des Gazastreifens, die viele Politiker seit Jahrzehnten fordern, militärisch vollzieht.

Israel ist Teil des Westens und genießt dessen sehr weitgehende Unterstützung. Doch wenn Israel und der Westen nicht mehr in der Lage sein sollten, das Land gegen die demografische Übermacht der es umgebenden theokratisch regierten Araber, die sein Ende wollen, zu schützen, wird dieser Staat, der historisch gesehen erst seit einem Augenblick besteht, vernichtet werden und untergehen. Das wäre eine Katastrophe, die Juden sind ein unverzichtbarer, wertvoller Teil des Abendlandes.

Mittelfristig gibt es daher aus israelischer Sicht nur zwei Lösungen des Konflikts, die mit dem Fortbestand des jüdischen Volkes ohne erneute Katastrophe und anschließender Diaspora vereinbar sind: Entweder ein nachhaltiger Sieg gegen die Nachbarn nach ethnischer Säuberung des Gazastreifens und der Vertreibung der nichtisraelischen Araber aus dem Westjordanland. Dies ist die Politik, die der jüdische Staat heute zu verfolgen scheint. Oder ein Auszug aus Israel und eine Neuansiedlung des jüdischen Volkes im Westen, also entweder in Westeuropa oder den USA. War dies bis vor 20 Jahren abgesehen von Frankreich, das schon damals stark islamisiert war, eine theoretische Möglichkeit, muss man angesichts der Islamisierung fast ganz Europas (ausgenommen sind nur Nordmittel- und Osteuropa) anerkennen, dass eine Umsiedlung der Juden zu uns, die ich immer für die beste Lösung gehalten habe, nun unrealistisch ist. Aus Sicht des theokratischen Islam ist die Lösung die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Dieser Realität muss man sich stellen, wenn man den Konflikt verstehen will.

Warum wir eine Denksperre erleben

Über all dies lesen wir nichts, auch nicht in den alternativen Medien. Wer pro-israelisch ist, begründet dies mit dem Recht auf Selbstverteidigung, denn natürlich will niemand Israel explizit eine ethnische Säuberung des Westjordanlands und des Gazastreifens zugestehen. Hier steht im Hintergrund der deutsche Holocaust. Wer für die in Palästina ansässigen Araber ohne israelische Staatsbürgerschaft ist, argumentiert, Israel agiere als Unterdrücker dieser Menschen und habe sie entrechtet und ihnen schweres Unrecht angetan. Radikalere Kritiker wie die scheinbar unter islamischem Stockholm-Syndrom leidende Aktivistin Vanessa Beeley bezeichnen den Gaza-Streifen als Freiluft-KZ. Hier steht im Hintergrund der Westmarxismus, der sich die ›Palästinenser‹ und die Muslime überhaupt als neues neo-hegelianisches Subjekt der Geschichte erwählt hat, nachdem die Arbeiterklasse und die Frauen als Unterdrückte dieser Erde zumindest im Westen ausgedient haben.

Warum kann im Westen niemand die Dinge beim Namen nennen?

Dies hat zwei wesentliche Gründe.
Erstens war der Identifikationstopos der alten Bundesrepublik der Holocaust. Sahen sich die Deutschen vor dem ›Dritten Reich‹ als Volk der Dichter und Denker, wurden sie dann von Brecht zum ›Volk der Richter und Henker‹ im industriellen Maßstab erklärt. Nur ex negativo, aus dem als historisch einmaliges Ereignis deklarierten Holocaust, sollten Deutsche ihre Identifikation als Volk und ihre Individuation als Citoyens ableiten. Die positive Identifikation der Deutschen mit ihrer großartigen Kulturnation sollte in den Augen von Claus Leggewie, Jürgen Habermas und anderen progressiven, prominenten Intellektuellen der Nachkriegsjahrzehnte einer permanenten selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Schande der politischen Nation Deutschland weichen. Dieser zentrale Mythos der Bundesrepublik war der Subtext des in den 1980er Jahren ausgetragenen Historikerstreits. Die historisch einwandfreie Einschätzung Ernst Noltes, dass alle historischen Ereignisse im Sinne der Hermeneutik vergleichbar sind und ein industrieller Massenmord im ersten Zeitalter des abendländischen Totalitarismus (wir erleben gerade den Beginn des zweiten) nicht nur in Deutschland stattfand, musste negiert werden, um diesen Mythos zu schützen. Denn nur unter dieser Ideologie waren die Westdeutschen die perfekten Vasallen im westlichen Bündnis. Wer sich kritisch zum jüdischen Staat äußerte, war in diesem Zusammenhang immer suspekt und wurde als Antisemit gebrandmarkt – die schlimmstmögliche Kategorie im Nachkriegsdeutschland.

Auch heute ist dies der Grund, warum die Unterstützung für Israel so kategorisch und undifferenziert vorgetragen wird. Besser ist es aber, bei der Unterstützung Israels den Zusammenhang mit dem Holocaust explizit vorzutragen. Nicht weil die Deutschen den Holocaust geplant und durchgeführt haben, sondern weil Israel angesichts des theokratischen Islam mittelfristig nur mit massiver Stärke oder im Exil überleben kann, verdient dieser Staat, der einzige zivilisierte Rechtsstaat in der Region, unsere Unterstützung.

Zweitens gibt es im Westen zwei massive antisemitische Bewegungen, die dem Islamismus Erfolg wünschen. Eine davon ist gesellschaftlich unbedeutend, es ist der traditionelle, christliche Antisemitismus, der heute oft als rechtsradikaler oder -extremistischer Antisemitismus bezeichnet wird. Er ist besonders widerwärtig, weil er aus Judenhass dem theokratischen Islamismus Erfolg bei der Vernichtung des jüdischen Staates wünscht. Diese Haltung ist komplementär zu den Islamisten, die Auschwitz als großartige Leistung bewundern. Diese Haltung ist so ekelhaft wie selten, doch werden in der postdemokratischen Öffentlichkeit liberal-konservative, treue Anhänger des demokratischen Rechtsstaats, die unsere usurpatorische Regierung kritisieren, wie Hans-Georg Maaßen oder Rupert Scholz dieser Denkweise zugeordnet, was eine Form von Rufmord darstellt.

Die andere Form des Antisemitismus ist kulturmarxistisch und steht in der Nachfolge der Marxschen Idee vom Proletariat als dem neo-hegelianischen Subjekt der Geschichte, dessen Rolle nun die Muslime übernommen haben. Diese absurde Denkweise, die die Muslime immer nur als Opfer sieht und nicht in der Lage ist, die theokratische Gefahr, die vom Islam ausgeht, zu würdigen, geht auf Edward Saids Buch Orientalism [2] zurück, in dem die westliche Sicht des Orients kritisiert und mit dem Mittel des postmodernen Dekonstruktivismus attackiert wird. Saids Buch erfüllt die beiden wesentlichen Merkmale der Postmoderne: Es ist neomarxistisch und anti-rationalistisch, richtet sich gegen die abendländische Metaphysik und Kultur. Der Antisemitismus dieser Schule, die wir nicht in staatlichen Stellungnahmen, aber im Denken vieler an den postmodernen Universitäten ausgebildeter Geisteswissenschaftler finden, ergibt sich indirekt aus der Unterstützung des islamisch-theokratischen Fundamentalismus. Anders als rechtsextreme Antisemiten, die die Juden wegen ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit zur Infragestellung des Status quo hassen, wissen diese Leute nicht, wovon sie reden, wenn sie vom Islam sprechen. Ihr indirekter Antisemitismus ist eher ein Anti-Israelismus, weil er den Staat Israel als Unterdrücker der neuen ›Verdammten dieser Erde‹ ansieht.

Die Gemengelage im Nahen Osten ist scheußlich, und die ideologische Debatte im Westen ist es auch. Wenn bald mit dem israelischen Einmarsch in den Gaza-Streifen viel Blut fließen wird, werden wir aber auch bei uns die Schlagkraft des Dschihad kennenlernen. Willkommen in der durch den postmodernen Kollektivismus geschaffenen Welt ohne Grenzen. Zwölf lange Jahrhunderte hat sich das christliche Kerneuropa gegen den Ansturm der ›abartigen Ketzerei‹ (Luther) erwehrt, einzig der Balkan und die Iberische Halbinsel fielen. Nun ist diese Barbarei bei uns zu Hause.

Literatur:
[1] Tillmann Nagel: Angst vor Allah? Berlin. 2014
[2] Edward Said: Orientalism. New York. 1978