von Christoph Jünke

Die russische Revolution von 1917 und die durch sie zum Teil ausgelösten, zum Teil nur beförderten weltrevolutionären Prozesse bis mindestens zur Mitte der 1920er Jahre führten nicht zuletzt auch zu einer Umwälzung der Theorie-Debatten, zu dem Versuch verschiedener Denker, ihre revolutionäre Zeit in Gedanken zu fassen. Man findet solche Reflexionen in den Arbeiten von Lenin und Trotzki, Luxemburg und Liebknecht, Bucharin und Preobrashenski, oder, mehr philosophisch, bei Gramsci, Korsch, Bloch und Lukács. So unterschiedlich diese Denker in einzelnen Fragen auch waren, es einte sie, dass sie sich gegen den vermeintlichen Determinismus und Fatalismus der klassischen Sozialdemokratie, gegen Kautsky, Plechanow u.a. wandten und versuchten, den ›subjektiven Faktor‹ in der marxistischen Theorie, den Einbruch der Massen in die Geschicke ihres eigenen Schicksals und das Verhältnis von Theorie und Praxis also, neu zu durchdenken. 

Rüdiger Dannemann (Hrsg.): Lukács und 1968. Eine Spurensuche, Bielefeld (Aisthesis-Verlag) 2009, 358 Seiten

Christoph J. Bauer u.a. (Hrsg.): »Bei mir ist jede Sache Fortsetzung von etwas«. Georg Lukács – Werk und Wirkung, Duisburg (Universitätsverlag Rhein-Ruhr) 2008, 250 Seiten

Das im intellektuellen Zentrum dieser Debatte stehende Werk von Georg Lukács', seine 1923 unter dem Titel Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlichten Studien über marxistische Dialektik (so der Untertitel), zieht noch immer einen Gutteil seiner Kraft aus dieser Konstellation. Es ist zuallererst der Versuch einer Reformulierung der damals weitgehend verdrängten dialektischen Methode bei Hegel und Marx. Orthodoxer Marxismus, so Lukács' klassische These, zeichne sich nicht durch den Glauben an eine bestimmte These aus, sondern sei zuallererst und vor allem der Glaube an eine bestimmte gesellschaftswissenschaftliche Methodik: die Subjekt-Objekt-Dialektik.

Lukács benutzte nun diese Methodik – dies ist der zweite nachhaltige Strang seines Werkes – zur Erneuerung und Radikalisierung der Kritik des Kapitalismus. In Anknüpfung an Max Weber betrachtete er den sich damals modernisierenden Kapitalismus als einen Rationalisierungs- und Abstraktionsprozess, als einen tendenziell totalitären Prozess zunehmender Verdinglichung. Das Geheimnis des Kapitalismus finde also seine Lösung »in der Lösung des Rätsels der Warenstruktur« und das Wesen der Warenstruktur bestehe darin, dass Beziehungen zwischen Menschen als Beziehungen zwischen Dingen/Waren erscheinen, dass sie auf diesem Wege eine »gespenstische Gegenständlichkeit« erlangen und einen Fetischismus der Warenform produzieren, der sich als Verdinglichung fassen lasse. Diese Verdinglichungsstruktur dehne sich auf alle Gebiete menschlicher Theorie und Praxis aus, auf Ökonomie, Politik, Kultur und Denken – »immer tiefer, schicksalshafter und konstitutiver in das Bewusstsein der Menschen hinein« – und degradiere den Menschen zum bloßen Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie, deren Gesetzen er sich willenlos zu fügen habe.

Einer Theorie der Emanzipation, so Lukács weiter, müsse es deswegen darum gehen, die Bedingungen und Formen zu entfalten, mit diesen Verhältnissen von Entfremdung und Verdinglichung zu brechen – theoretisch: durch die Reformulierung eines dialektischen Totalitätsdenkens; praktisch: durch die Entfaltung, Organisierung und Mobilisierung des Klassenbewusstseins der Arbeiterschaft. Dessen subjektiv nicht automatisch gegebenes, aber objektiv mögliches Klassenbewusstsein sei nichts anderes als die kritische Selbsterkenntnis der Warenform und mache das moderne Proletariat zum potenziell identischen Subjekt-Objekt der Geschichte. Das Schicksal der Revolution – »(und mit ihr das der Menschheit)« – hänge deswegen »von der ideologischen Reife des Proletariats, von seinem Klassenbewusstsein ab«, und das organisatorische Mittel dieser Politisierung von Klassenbewusstsein, dieser Vermittlung von Theorie und Praxis, könne, so Lukács, unter kapitalistischen Bedingungen einzig die kommunistische Partei sein.

Mit der theoriepolitischen Verdammung des Lukácsschen Werkes als ›Revisionismus‹ im stalinistischen Übergang zu den 1930ern verschwand auch Geschichte und Klassenbewusstsein von der Oberfläche der in die weltrevolutionäre Ebbe schliddernden Geschichte. Es bedurfte einer neuen Generation im Kampf gegen Verdinglichung und Entfremdung (die Ausbeutung drohte dabei, wie schon bei Lukács, aus dem Gesichtsfeld zu geraten), einer neuen Suche nach der revolutionären Vermittlung von Theorie und Praxis, um Geschichte und Klassenbewusstsein Ende der 1960er Jahre wieder zu entdecken und fleißig raubzudrucken – legal, illegal, scheißegal…

Doch auch diese revolutionäre Welle ging im darauf folgenden Jahrzehnt vorbei und die Debatte um Georg Lukács wurde wieder das, was sie vorher bereits war: eine Diskussion um die von ihm in den dreißiger und vierziger Jahren entwickelte marxistische Ästhetik als Fluchtpunkt gescheiterter oder nur unterirdisch sich vollziehender Umwälzungen – gerade das also, was die Hardcore-›68er‹ rechts liegen gelassen hatten.

Das Denken der Revolution, also auch die Auseinandersetzung mit Geschichte und Klassenbewusstsein, ist heutzutage kaum noch en vogue. Und die ›68er‹ sind bekanntlich schon lange nicht mehr das, was sie mal waren – in manchem zu Recht, in vielem zu Unrecht. Die Folge ist, dass in der überschäumenden Erinnerungskultur um ›1968‹ gerade die Theorie-Debatten jener Zeit noch immer weitgehend ausgeblendet werden.

Dass Rüdiger Dannemann gegen diesen Strom geschwommen ist und sich auf Spurensuche begeben hat nach dem Verhältnis der 68er zu Lukács, ist deswegen der Ehre und der Rede wert. Sein Lesebuch versteht sich als »mixtum compositum hoffentlich ›guter‹ Texte; es soll zum Stöbern und Entdecken einladen, zu eigensinnigen Annäherungen an das Phänomen Lukács«. Das tut es auch. Und doch kommt hier die retrospektive Analyse und Aktualisierung doch etwas zu kurz gegenüber der Erinnerungsarbeit. Über ›Lukács und 1968‹ erfährt man eigentlich recht wenig, mehr dagegen über bestimmte 68er und ihr Verhältnis zu Lukács. Es ist überaus spannend und anregend, so unterschiedliche Denker wie Wolfgang Fritz Haug und Detlev Claussen, Michael Löwy und Erich Hahn, György Dalos und Andreas Arndt, Axel Honneth und Frieder Otto Wolf, Peter Bürger und Rudi Dutschke (usw. usf.), zur selben Person sich äußern zu sehen. Einen roten Faden, der übergreifend zu besprechen wäre, sucht man in dieser Heterogenität allerdings vergebens. Was den meisten Beiträgern zu fehlen scheint, ist ein aktuelles Erkenntnisinteresse am Lukácsschen Werk. So bleibt es bei vielen kleinen, locker und leicht zu lesenden Appetithäppchen.

Wer mehr intellektuelles Futter sucht, wird eher zu dem von Christoph Bauer und anderen herausgegebenen Werk greifen. Weniger die Fragen von Revolution und Veränderung stehen hier im Mittelpunkt, sondern vor allem – neben der unvermeidlichen Ästhetik-Debatte – Fragen der Metaphysik. Nicht um Geschichte und Klassenbewusstsein geht es, es ist das Lukácssche Spätwerk, speziell seine Arbeit an einer marxistischen Ontologie, mit der sich hier eine fast ebenso bunte Mischung von Intellektuellen – davon jedoch auffallend viele jüngere – auseinandersetzt. Es scheint sich dabei das Erkenntnisinteresse einer gleichsam von vorn beginnenden Generation auszudrücken, das Interesse an einer Selbstvergewisserung, auf welchen konzeptionellen Grundlagen man heute noch kritisch und marxistisch denken kann und soll. In gewissem Sinne lässt sich dies sogar als ein Zurück zum Lukács von ›1968‹ verstehen, denn der schrieb damals, gegen seine antiautoritären Schüler gerichtet, »dass wir jetzt nicht in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts stehen, sondern in einem bestimmten Sinn am Anfang des 19.Jahrhunderts«. Der ›frühe‹ Lukács sollte aber bei dieser Neuaneignung nicht fehlen, denn liegen lassen sollte man so wenig wie möglich auf diesem Weg – wer weiß, wozu es gut sein kann.

Gekürzt auch in: Junge Welt, 10.6.2009 (Literaturbeilage).