von Felicitas Söhner

Vor bald 50 Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein Bericht zur Lage der Psychiatrie und damit zusammenhängender Empfehlungen veröffentlicht. Die reformorientierten Debatten, in denen die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung sowie deren Wandel hin zu einem gemeindeorientierten System sozialpsychiatrischer Hilfen gefordert wurde, begannen weit vorher und in einem größeren Raum. Vorliegende Betrachtungen nähern sich diesen Entwicklungen aus der Perspektive der Sozialpsychiatrie und ihres Verbandes eingebettet in sozioökonomische, politische und kulturelle Prozesse in der Bundesrepublik.

Der Autor Christian Reumschüssel-Wienert befasst sich seit Jahren eingehend mit Fragen der sozialen Psychiatrie. Als Soziologe und Sozialwirt ist er in verschiedenen Funktionen der Gemeindepsychiatrie tätig und engagiert er sich im ›Berliner Archiv für Sozialpsychiatrie‹. Ziel seiner vorliegenden Publikation ist es, in einer Chronik der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP)

»nicht nur in die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in Deutschland einzuordnen, sondern auch in die jeweilige sozio-ökonomische und kulturelle Entwicklung (West-)Deutschlands, insbesondere in die Entwicklung des deutschen Sozialstaats, des Gesundheitssystems und der Psychiatrie- und Behindertenpolitik.« (S.11)

Dieser Band ist nun kürzlich in der Reihe ›Histoire‹ des transcript-Verlages erschienen.

Zunächst geht der Autor in einem Vorwort auf seine Motivation, den einbezogenen Forschungsstand und seine Zielsetzungen ein. Im Folgenden bettet er die reformorientierten Prozesse innerhalb der Psychiatrie ein in den gesellschaftlichen und professionellen Kontext. Dazu strukturiert Reumschüssel-Wienert die Ereignisse und Prozesse chronologisch in folgende Kapitel: Erste Sozialpsychiatrie in der Nachkriegszeit, Reformära und Krise der 1970er Jahre, Die 1980er Jahre – Ende der Reformen? Zeitenwende – die 1990er Jahre, Herausforderungen des Neuen Jahrtausends sowie Flüchtlinge und Klimawandel: 2010 – 2020.

Innerhalb dieser Abschnitte werden der Wandel und die damit einhergehenden Debatten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Prozesse und Zäsuren aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. So befassen sich die Unterkapitel mit politischen Rahmenbedingungen, sozial- und gesundheitspolitischen Hintergründen, Diskursen innerhalb der westdeutschen und später gesamtdeutschen Psychiatrie, der ideellen Formierung und Strukturierung der sozialen Psychiatrie, sowie der Gründung, Etablierung und weiteren Entwicklungen der DGSP. Dabei reicht der chronologische Blick vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Jetztzeit.

Damit zeichnet Reumschüssel-Wienert ein äußerst komplexes Bild nach, das lange nicht sämtliche Entwicklungen und Prozesse enthält. Auf die in diesem Band fehlenden Perspektiven verweist der Autor selbst: die Entwicklung der naturwissenschaftlich-medizinischen Psychiatrie, der Psychologie, der Psychotherapie, der Pflege wie der Sozialarbeit. Deren Entwicklungen und Einfluss konnten zum Teil nur angedeutet werden. Nichtsdestotrotz berücksichtigt die integrierte Sichtweise des Bandes sowohl sozialpsychiatrische Diskurse wie auch politische Aspekte für Menschen mit Beeinträchtigungen in klinischen und außerklinischen Kontexten.

In seiner Zusammenfassung ordnet der Autor die Entwicklungen der sozialpsychiatrischen Forschung und Praxis nochmals ein und unterstreicht, dass

»die DGSP und ihre Mitglieder […] insbesondere die Entwicklungen der Sozial- und Gemeindepsychiatrie in den ersten 20 Jahren seit 1970 ganz wesentlich vorangetrieben und entwickelt« haben und »die DGSP Mitglieder und auch der Verband als kollektiver Akteur […] mit einem enorm engagierten persönlichen Aufwand die Psychiatriereform [initiierten]« (S.347).

Reumschüssel-Wienert zeigt auf, dass die Sozialpsychiatrie gesellschaftliche Modernisierungsschübe reflektiert und nachholend umsetzt. Doch bleibt es nicht bei einem Blick zurück, vielmehr richtet der Verfasser diesen nach vorn und formuliert angesichts heutiger Fragestellungen derzeitige Herausforderungen und Chancen für die soziale Psychiatrie. Dabei positioniert er sich eindeutig, was sicher als gelungener Impuls für aktuelle Debatten verstanden werden kann. Die Leserschaft darf eine »interessante, manchmal sogar aufwühlend[e]« (Umschlag) Lektüre erwarten, die für jede weitere Auseinandersetzung zu Aspekten der Psychiatriereform ausgesprochen nützlich sein kann.