Schreibverfahren in Medizin und Literatur– ein interdisziplinärer Blick

von Felicitas Söhner

Ärztliches Alltagshandeln ist geprägt von Schreibverfahren: medizinische Akteure protokollieren, beschreiben, empfehlen und halten in Akten fest. Technischer, diagnostischer und therapeutischer Fortschritt, administrative Anforderungen wie mechanische Aufzeichnungsformen nehmen und nahmen Einfluss auf medizinisch-epistemische Genres. Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine Ringvorlesung internationaler Wissenschaftler der Mercator-Forschergruppe Räume anthropologischen Wissens an der Ruhr-Universität Bochum in den Jahren 2011 und 2012. Darin konzentrieren sich die Herausgeber Yvonne Wübben, Medizinerin und Literaturwissenschaftlerin, und Carsten Zelle, Germanist, auf das Verhältnis von Literatur und Medizin.

Die achtzehn interdisziplinären Beiträge zu Schreibverfahren in Medizin und Literatur, widmen sich insbesondere drei Aspekten: praktisch instrumentellen, rhetorischen und poetologischen bzw. genealogischen (Vgl. 9). Die Einzelbeiträge befassen sich mit der Frage des Zusammenhangs zwischen Schreibverfahren und der Konjunktur bestimmter Pathologien wie auch die einer nachhaltigen Präsenz literarischer Formen in der Medizin.

Die Autorinnen und Autoren nähern sich den Zusammenhängen von medizinischem Schreiben und klinischer Praktik aus ihrer jeweiligen fachbezogenen Perspektive. In diesem Zusammenhang fragen sie danach, inwiefern verschiedene Schreibverfahren das Aufgezeichnete mit beeinflussen.

Um der Vielfalt der Ansätze gerecht zu werden, gliedert sich der Band in zwei Kapitel. Während sich der erste Teil verschiedenen Aufzeichnungsverfahren in Klinik und Literatur sowie deren Bedeutung für die medizinische Diagnostik wie auch literarische Rezeption widmet, setzt sich der zweite mit gattungsgeleitetem Schreiben auseinander und behandelt dabei Aspekte der epistemischen Darstellung wie auch Bezüge medizinischer Genres zur Literatur. Die beiden ausgesprochen informativen Einleitungen der beiden Herausgeber bilden die dabei die themenübergreifende Klammer.

Im ersten Teil des Bandes Aufzeichnen in Pathologie, Psychiatrie und Literatur (13 – 276) finden Lesende Beiträge, die sich mit dem Aufzeichnen von Pathologien in Medizin, Wissenschaft und Literatur sowie der Pathologie des Schreibens befassen. (13) Den Zeitraum von der Frühen Neuzeit bis hin zur Postmoderne umfassend gehen die Beitragenden auf die literarische Reflexion und Transformation von Aufzeichnungsverfahren ein. Neben der Betrachtung medizinischer Gebrauchstexte (Protokolle, Akten) wird Schreiben auch als operativer Vorgang betrachtet, der sich in Schrift konkretisiert. (13f.) Gianna Pomata reflektiert in ihrer Untersuchung der Entwicklung des medizinischen Genres der ›observationes‹ des 18. Jahrhunderts verschiedene Denkmuster und kognitive Praktiken. Christoph Hoffmann gibt exemplarische Einblicke in die epistemologische Besonderheit von Autopsieberichten. Die Beiträge von Sophie Ledebur, Maike Rotzoll, Hubert Thüring, Yvonne Wübben und Georg Juckel analysieren klinische Schreibverfahren und betrachten diese in Bezug zur psychiatrischen Praxis sowie epistemischen Idealen der Wissenschaft anhand von Personal-, Patienten- und »Euthanasie«-Opfer-Akten. Einige von ihnen befassen sich mit »konkreten Folgen der Verschriftlichung für die Diagnostik und Nosographie« (16); beispielsweise untersuchen Ledebur und Juckel Aufschreibeprozesse in der Psychiatrie und Psychotherapie. Wübben analysiert in ihrem Beitrag Lehrbuch-Kasuistiken und deren didaktische, klinische sowie klassifikationssystemische Funktion. Andreas Mayer, Stephan Kammer wie auch Cornelia Ortlieb betrachten Schreibprozesse exemplarisch an psychophysischen Reaktionen im 19. und 20. Jahrhundert, zerebraler Bewegungskoordination sowie des Phänomens der Hypergraphie; damit geraten weitere interdisziplinärere Aspekte von Medizin und Literatur ins Visier.

Im zweiten Teil des Bandes mit dem Titel Medizinische und literarische Schreibweisen (277 – 477) liegt der Schwerpunkt auf den einzelnen Gattungen medizinischer Schreibverfahren sowie deren Regularien und Erkenntnisleistung. (277) Anknüpfend an Pomatas Begriff des ›epistemic genre‹ wird hier der Begriff deskriptiv verwendet und über gelehrte Gebrauchsformen hinausgehend verallgemeinert. Die dort präsentierten Fallstudien bieten anhand eines reichen Spektrums Krankheit-schreibender Texte wie psychiatrisches Gutachten (Armin Schäfer), Gerichtsprotokoll (Michael Niehaus), lateinisches Lehrgedicht (Reinhold Glei), klinische Novelle (Stefan Goldmann) und Kunstmärchen (Max Bergengruen) eine vielfältige Forschungsgrundlage zur Analyse der literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive auf medizinische Aspekte. Der Beitrag des Herausgebers Carsten Zelle bietet eine wertvolle Analyse zu Verfahren der empirischen Datensammlung in der Epoche der Aufklärung. Die beiden letzten Beiträge des Bandes von Rudolf Behrens/Marie Guthmüller und Nicolas Pethes arbeiten auf komplementäre Weise heraus, auf welche Weise Aufzeichnungsverfahren der Medizin in Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts aufgegriffen und thematisiert werden. In ihrer Romankritik zeigen die Autoren den reziproken Einfluss von Medizin und der Struktur literarischer Texte.

Der Sammelband der Arbeitsgruppe Literatur und anthropologisches Wissen der Mercator-Forschergruppe richtet einen innovativen Blick auf interne und externe Dynamiken epistemischer Schreibweisen und bringt interdisziplinäre Ansätze anthropologischer Wissensbildung miteinander in Berührung. Den Herausgebern gelingt es, einander berührende Felder der Literatur- und Medizingeschichte sachkundig miteinander zu verbinden und damit an bisherige Forschungsarbeiten zur Intermedialität von Literatur und Wissenschaft anzuknüpfen. Interessierte Leser finden hier multiperspektivische Antworten auf die Frage, wie Literatur Elemente medizinischer und wissenschaftlicher Genres aufnimmt und diese zu eigenen Schreibweisen transformiert. Wübben und Zelles Edition zeichnet sich aus durch einen multiperspektivischen Blick auf die Praxis von Aufzeichnungsverfahren in der Medizin von der Frühen Neuzeit bis hin zur Gegenwart und bietet der Leserschaft methodisch wie konzeptionell spannende Einblicke in Schnittfelder von Krankheit und deren Verschriftlichung. In den einzelnen Beiträgen werden Quellen unterschiedlicher Provenienz kombiniert – von der Krankenakte, über den Autopsiebericht bis hin zum lateinischen Lehrgedicht. Bemerkenswert klar strukturiert offerieren die Editoren der Leserschaft eine epochenübergreifende Darstellung der Wechselwirkung von medizinischen Aufzeichnungsverfahren und literarischen Formen. Der Band zeigt nicht nur auf, dass die Literatur Elemente der Wissenschaft der Medizin aufnimmt, sondern auch wie medizinische Praktiken von der Struktur ihrer medizinischen Aufzeichnungsformen beeinflusst werden. Auf diese Weise lassen sich Krankheit und Gesundheit ein Stück weit im Raum der Schrift verorten.

Insgesamt lässt sich sagen, dass dieser Band überzeugend medizinische, historische und literarische Expertisen zueinander in Beziehung setzt und deren wechselseitige Beeinflussung aufzeigt. Trotz aller Komplexität des hier vorliegenden Themenfeldes gelingt es Wübben und Zelle mit einer vielschichtigen, auf breitem Quellenfundament stehenden Perspektive, nicht nur den Blick für die nachhaltige Präsenz literarischer Formen in der Medizin zu schärfen, sondern auch den Kanon der literaturhistorischen Forschung zu bereichern.