von Herbert Ammon

Macht, Interessen und Moral

Ein Ende des vor knapp einem Jahr, am 24. Februar 2022, von Russland unter Präsident Putin eröffneten Ukraine-Krieges – und alles damit verbundenen Leides – ist vorerst nicht abzusehen. Im Gegenteil: Mit der nunmehr von der Bundesregierung beschlossenen – von Polen bereits zuvor eigenständig angekündigten – Lieferung deutscher Kampfpanzer des Typs Leopard II an die Ukraine steht eine weitere Eskalationsstufe bevor.

Wie sich das Kriegsgeschehen danach entwickelt, hängt von nicht berechenbaren Faktoren ab. Zusammengesetzt aus Machtverhältnissen und -projektionen, Interessen, Psychologie, Ideologie, militärischem Potential, Ressourcen und Strategie, ergibt sich ein ›modernes‹ politisches Puzzle. Eine Auflösung des Ukraine-Rätsels scheint in mehreren Varianten denkbar. Sofern wir eine Eskalation bis zum Einsatz von Atomwaffen ausschließen, dürfen wir über folgende Alternativen spekulieren:
a) der ›totale‹ Sieg der einen oder anderen Seite
b) beidseitige Erschöpfung, die am Ende zu einem wie immer gearteten Kompromissfrieden nötigt
c) ein Regimewechsel in Moskau oder Kiew, der den Weg zu Verhandlungen eröffnet
d) ein nachlassendes Interesse der USA, ein ›Einschlafen‹ des Krieges auf dem Gebiet der Ukraine sowie ein Erstarren der Fronten im Donbas.

Vorerst ist – mit Ausnahme der auf einen Sieg der Ukraine eingeschworenen deutschen Grünen – an die Realisierung einer der genannten Varianten nur schwer zu denken. Aus westlicher Sicht handelt es sich um einen – gemäß UN-Satzung völkerrechtlich sanktionierten – reinen Verteidigungskrieg, der ihre staatliche Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Demokratie und Freiheit verteidigenden Ukraine gegen den russisch-imperialen Aggressor Putin. Aus dieser Sicht, bestätigt und geschärft durch tagtägliche Bilder des Grauens und Leidens, ist unzweideutige Parteinahme geboten: Es geht um die Wahrung des Völkerrechts, allgemein um die Verteidigung des Rechts gegen die Amoral brutaler Macht.

Die verpasste Chance

Kritik an dieser Sicht der Dinge ist in Deutschland fast nur an den politischen Rändern zu vernehmen. Immerhin gehören zu den Zweiflern auch zwei pensionierte Generäle der Bundeswehr. Einer von ihnen ist Erich Vad, der frühere Sicherheitsberater Merkels, der andere ist der frühere Generalinspekteur und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Harald Kujat. Dieser bringt in einem Interview mit einer Schweizer Zeitschrift die hierzulande längst vergessene Tatsache in Erinnerung, dass die in der Anfangsphase des Krieges zwischen Russen und Ukrainern in Istanbul geführten Verhandlungen kurz vor einem – von der Ukraine entworfenen – Abkommen standen. Es sollte den russischen Rückzug zum Status quo ante 24. Februar sowie die ukrainische Nichtmitgliedschaft in der Nato festschreiben. Der damalige britische Premier Boris Johnson habe am 9. April in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Kujat verweist auch darauf, dass der im Minsk II-Abkommen von 2015 – die Ex-Kanzlerin Merkel interpretiert es inzwischen als eine Art auf Zeitgewinn für die Ukraine zielendes Manöver – vorgesehene Autonomie-Status für die umkämpften ostukrainischen Gebiete von Kiew nie respektiert wurde. Auch danach, beispielsweise im September 2022, hätten noch Chancen für Friedensverhandlungen bestanden. (https://zeitgeschehen-im-focus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar-2023-htmil'article_1460)

Hinsichtlich des tiefer liegenden Machtkonflikts sowie der womöglich verpassten Chancen eines Kompromiss-Friedens drängt sich der historische Vergleich mit der aus der antiken Geschichte bekannten Episode des Nikias-Friedens zwischen Athen und Sparta (421 v. Chr.) auf. Es handelte sich – ungeachtet der auf 50 Jahre geschlossenen Vereinbarung – um einen ›faulen‹ Frieden, der alsbald von den antagonistischen Mächten selbst (oder deren Verbündeten) unterlaufen wurde. Am Ende des Peloponnesischen Kriegs stand die Großmacht Athen vollständig geschlagen da.

Das Exempel taugt zur Erläuterung einer Patt-Situation, in der sich beide Seiten auf Verhandlungen einlassen. Bezüglich des Ukraine-Krieges – und notwendig spekulativ bleibender Versuche einer Konfliktlösung – hieße das, dass man im Westen und im Gefolge in der Ukraine den Aggressor Putin als Verhandlungspartner überhaupt akzeptiert. Eine dergestalt ›realistische‹ Position hinsichtlich des Krieges im Osten Europas ist derzeit unter den westlichen Eliten nicht anzutreffen. Von den Medien unterstützt, dominiert die – in Deutschland maßgeblich von Außenministerin Baerbock und den Grünen verfochtene – ›moralisch‹ gebotene Zurückdrängung des Bösen in Gestalt der russischen Führung. (Anm.: Eine solche Beurteilung der blutig verfahrenen Lage ist nicht identisch mit einer verharmlosenden Wahrnehmung des Regimes Putin.)

Einwände gegen die vorherrschende Deutung des Ukraine-Kriegs sind nicht statthaft. Aus dem Blick geraten dabei indes die unterschiedlichen Interessen, letztlich Machtinteressen aller im Ukraine-Konflikt involvierten Staaten und Regierungen. Ausgeblendet wird zudem die lange Vorgeschichte des Krieges, die weiter zurückreicht als bis zu dem Machtwechsel in Kiew im Kontext der blutig eskalierten Maidan-Ereignisse 2013/14.

Tiefere Ursachen und aktueller ›Trigger‹

Seit dem II. Weltkrieg gründen wir im Westen, insbesondere in Deutschland, unsere Betrachtung von Geschichte und Politik auf moralische oder normative Prinzipien, in denen universal gültige Menschenrechte mit – nicht gänzlich eindeutigen – Begriffen wie Souveränität und Selbstbestimmung in Einklang gebracht werden. Unter diesen Auspizien erleben wir die Wiederkehr des Begriffs des ›gerechten Krieges‹.

Fragwürdig werden derlei Begriffe angesichts der selektiven – oder nur deklamatorischen – Anwendung im Verhältnis zu Ländern und Staaten wie China, Indonesien, Aserbaidschan, Katar, Simbabwe etc. Amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler sprechen bereits von einem ›neuen Kalten Krieg‹ zwischen den USA und China und ordnen in dieses Szenario auch den Ukraine-Krieg ein. (https://herbert-ammon.blogspot.com/2022/01/der-neue-kalte-krieg.html) Dass auch hinter den Bildern der Zerstörung in der Ukraine ein Großmachtkonflikt zwischen den USA und Russland – mit Deutschland als einem zur Parteinahme genötigten Mitspieler im Konfliktareal – zum Vorschein kommt, ist in den von grüner Moralpolitik bestimmten Debatten ein tabuisiertes Thema. Eine von einer Seite mit moralischem Absolutheitsanspruch geführte Auseinandersetzung reduziert die Komplexität eines Konflikts auf ein schlichtes Freund-Feind-Schema und versperrt den Weg zu einer möglichen – naturgemäß mit mancherlei Fragwürdigkeit behafteten – Lösung.

Thukydides und der Melier-Dialog

Eine distanzierte Betrachtung – die weder mit Amoral noch mit Teilnahmslosigkeit zu verwechseln ist – entspringt dem theoretischen Konzept der ›realistischen Schule‹. Als deren Stammvater gilt Thukydides (460 bis ungefähr 400 v. Chr.), der Verfasser der Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Vor dem Hintergrund des – in seiner Komplexität weithin unerkannten, seinem Ausgang noch ungewissen – Ukraine-Krieges ist es angebracht, an den Begründer der antiken – und seit seiner Wiederentdeckung im Humanismus bei Machiavelli über Kant, Ranke, Max Weber und Panajotis Kondylis bis hin zu den amerikanischen ›Realisten‹ – ›modernen‹ Geschichtsschreibung zu erinnern.

Neben der ›realpolitischen‹ Vorstellung von konkurrierenden Mächten führt die historiographisch und politiktheoretisch unverzichtbare Unterscheidung zwischen den tieferen Ursachen und dem aktuellen Eklatieren – als Synonym drängt sich das amerikanische Modewort ›Trigger‹ auf – eines Konflikts auf Thukydides zurück. Unbelastet von patriotischer Parteinahme zugunsten seiner Vaterstadt Athen, hat er in seinem ›Melier-Dialog‹ die Thematik von Macht, Recht und Moral exemplarisch vor Augen gestellt.

Der nachfolgende Auszug aus dem Melier-Dialog war ursprünglich für eine für Globkult projektierte Reihe ›klassischer‹ historisch-politischer Dokumente vorgesehen. Der Text spielt gegen Ende der Zwischenkriegsphase im Sommer 416, als Athen die neutrale Insel Melos zum Beitritt zum Attischen Seebund nötigen will. Thukydides stellt dieses Vorspiel der Eroberung von Melos in Form eines Wechselgesprächs zwischen den Gesandten der auf Melos gelandeten Athener und dem aristokratischen Rat der Melier dar. Die Melier verhandeln ›under the gun‹, aus einer schwachen Position heraus. Recht steht gegen Macht, zur Durchsetzung des Rechts bedarf es der Mittel der Macht. Die Hoffnung auf Selbstbehauptung wiegt schwach gegenüber imperialer Selbstgewissheit. Doch die Arroganz der Macht, so deutet Thukydides an, ist kein Schutz vor letztendlichem Scheitern.

Text:
[84] [...] Auch gegen die Insel Melos fuhren die Athener aus mit einer Flotte von 130 eigenen Schiffen, 6 aus Chios und 2 aus Lesbos; an eigenen Truppen waren es 1200 Gepanzierte und 320 Schützen, wovon 20 beritten, von den Verbündeten und Inselstädten etwa 1500 Gepanzerte. Melos ist eine Gründung von Sparta und wollte sich den Athenern nicht fügen wie die ändern Inselstädte, sondern blieb zunächst außerhalb der Parteien [...] Mit der genannten Heeresmacht legten sich nun die Feldherren Kleomedes...und Teisias....in ihr Land; ehe sie aber irgendwo Gewalt übten, schickten sie, um zuerst zu verhandeln, Gesandte. Diese wurden von den Meliern nicht vors Volk geführt, sondern vor den Behörden und dem Rat der Adligen sollten sie sagen, weshalb sie kämen. Da redeten die athenischen Gesandten etwa so:

[85] Wenn unsre Worte sich schon nicht ans Volk richten sollen, offenbar damit die Menge nicht in fortlaufender Rede von uns verlockende...Dinge in einem Zuge hört und damit betört wird (denn dies meint doch, merken wir wohl, unsere Führung vor den Adelsrat), so geht doch, ihr hier versammelten Männer, noch behutsamer vor: gebt eure Antwort Punkt für Punkt, …unterbrecht uns gleich, sooft wir etwas sagen, was euch nicht annehmbar scheint. Und nun sprecht zuerst, ob unser Vorschlag euch gefällt.

[86] Die melischen Ratsherrn antworteten: Eure Milde, daß wir in Ruhe einander überzeugen sollen, anerkennen wir gern, aber das kriegerische Wesen, womit ihr schon auftretet, nicht erst droht, widerspricht dem sichtlich. Sehen wir euch doch hergekommen, selber zu richten in dem zu führenden Gespräch, und also wird das Ende uns vermutlich, wenn wir mit unsren Rechtsgründen obsiegen und drum nicht nachgeben, Krieg bringen, hören wir aber auf euch, Knechtschaft.

[87] Die Athener. Wenn ihr allerdings in dieser Zusammenkunft Vermutungen über den Ausgang abwägen wollt oder sonst etwas, statt aus der jetzigen Lage heraus, wie ihr sie seht, über die Erhaltung eurer Stadt zu beraten, so hören wir lieber auf; wenn aber dies, so wollen wir reden.

[88] Die Melier. Begreiflich und verzeihlich, wenn man in solcher Bedrängnis auf mancherlei Worte und Gedanken verfällt; freilich geht es in gegenwärtiger Versammlung um unsre Erhaltung, und die Verhandlung soll in der Form, die ihr vorschlagt, wenn es euch recht ist, stattfinden.

[89] Die Athener. Wir allerdings gedenken unsrerseits nicht mit schönen Worten – etwa als Besieger der Perser seien wir zur Herrschaft berechtigt oder wir müßten erlittenes Unrecht jetzt vergelten – endlose und unglaubhafte Reden euch vorzutragen, noch dürft ihr meinen, uns zu überreden, wenn ihr sagt, Abkömmlinge Spartas, hättet ihr doch keine Heeresfolge geleistet oder ihr hättet uns nichts zuleide getan; sondern das Mögliche sucht zu erreichen..., da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.

[90] Die Melier. Unsres Bedünkens wäre es aber doch nützlich (so muß es wohl heißen, wenn denn nach euerm Gebot statt vom Recht nur vom Vorteil die Rede sein darf), wenn ihr nicht aufhöbet, was jetzt allen zugut kommt: daß, wer je in Gefahr ist, immer noch hoffen darf, mit Gründen der Billigkeit, auch außerhalb des strengsten Maßes, Gehör zu finden zu seinem Gewinn. Und dies gilt nicht minder auch zu euern Gunsten: denn stürztet ihr je, ihr möchtet noch für andre zum Beispiel werden gewaltiger Rache.

[91] Die Athener. Wir aber sind, sollte auch unsre Herrschaft brechen, vor diesem Ende nicht in Bangen. Denn ein Volk, das andre beherrscht, wie die Spartaner, das ist kein Schrecken für die Besiegten (übrigens geht unser Kampf ja gar nicht gegen Sparta), wohl aber, wenn die Untertanen selber einmal aufstehn und ihre bisherigen Herrn unterwerfen. Doch diese Gefahr bleibe uns überlassen zu tragen; das aber möchten wir euch dartun, daß wir hergekommen sind unsrem Reich zur Mehrung und jetzt diese Reden führen wollen eurer Stadt zur Rettung; denn so würden wir ohne Mühe eure Herren, und ihr bliebet zu beider Nutzen heil.

[92] Die Melier. Und wie rächte uns der Verlust der Freiheit Nutzen, so wie euch die gewonnene Herrschaft?

[93] Die Athener. Weil ihr, statt das Entsetzlichste zu leiden, euch unterordnen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vertilgen, dabei gewönnen.

[94] Die Melier. Daß wir uns stillhalten und euch freund sind statt feind, aber mit keiner Seite verbündet, könntet ihr nicht annehmen?

[95] Die Athener. Nicht so sehr schadet uns eben eure Feindschaft wie daß Freundschaft ein Schwächezeichen, Haß eines der Stärke bei unsern Untertanen bedeutet.

[96] Die Melier. Achten denn bei euch in der Art die Unterworfenen auf Bill und Unbill, daß sie gar keinen Unterschied machen zwischen Städten, mit denen ihr nichts zu schaffen habt, und den andern, doch fast alle von euch gegründet sind, teils auch nach einem Abfall neu in eure Hand kamen?

[97] Die Athener. Rechtsgründe, meinen sie eben, hätten die einen gut wie die andern, nur der Macht wegen könnten die einen sich behaupten und griffen wir aus Angst nicht an. So würdet ihr außer der Mehrung unsrer Herrschaft uns auch noch Sicherheit bringen, wenn ihr euch unterwerft und zumal als Insel – und gar der schwächeren eine – der Seemacht Athen nicht trotzt.

[98] Die Melier. Und in jenem Vorschlag seht ihr keine Sicherheit? Denn wie ihr vorhin aus unsren Reden die Gerechtigkeit verbannt und uns dazu vermocht habt, uns euern Nutzen zu fügen, ebenso müssen dafür auch wir jetzt euch unsern Vorteil erklären, ob er vielleicht mit dem euren zusammenfällt, und damit versuchen durchzudringen. Alle die nämlich, die jetzt noch keinem der Bünde zugehören, müßt ihr euch nicht zu Feinden machen, wenn sie dies hier mit ansehn und sagen, einmal würdet ihr auch gegen sie kommen? Und was tut ihr mit anderes, als daß ihr die bisherigen Feinde stärkt und die, die nicht daran dachten, es zu werden, gegen ihren Willen dazu bringt?

[99] Die Athener. Gefährlich, so finden wir, sind uns eben weniger die Städte etwa auf dem Festland, die gerade, weil sie frei sind, sich lange hin und her besinnen werden, ehe sie zu unsrer Abwehr etwas tun, als vielmehr die etwa noch unabhängigen Inseln wie ihr mitsamt denen, die durch den Zwang der Herrschaft schon erbittert sind. Denn die möchten am ehesten sich der Unvernunft vertrauen und sich selbst und uns sehenden Auges in Gefahr stürzen.

[100] Die Melier. Ja aber nun, wenn ihr, um eure Herrschaft zu halten, und eure Untertanen, um endlich vom Joch loszukommen, derart Äußerstes wagen, so wäre es doch von uns noch Freien gar zu niedrig und feig, nicht jeden Weg zu versuchen, ehe wir Sklaven werden.

[101] Die Athener. Nicht, wenn ihr besonnen überlegt. Nicht um Mannesehre geht der Kampf für euch von gleich zu gleich, daß ihr nicht in Schande fallt, sondern um euer Leben geht die Beratung, daß ihr den weitaus Stärkeren euch nicht widersetzt.

[102] Die Melier. Wir wissen aber, daß sich im Krieg manchmal die Geschicke gleichmäßiger verteilen, als dem Unterschied der beiden Stärken entspräche; und für uns heißt sofort nachgeben die Hoffnung aufgeben, handeln wir aber, ist auch noch Hoffnung, aufrecht zu stehen.

[103] Die Athener. Hoffnung, eine Trösterin in Gefahr, mag den, der im Wohlstand ihr vertraut, wohl einmal schädigen, doch nicht verderben. Wer aber alles, was er hat, an einen Wurf setzt..., der erkennt sie im Sturz, und zugleich behält er nichts übrig, weshalb er vor der durchschauten sich noch wahren sollte. Seht zu, daß es euch nicht auch so geht, ihr Schwachen, deren Waage beim ersten Anstoß schnellt, und tut es nicht den vielen gleich, die statt auf Menschenwegen die noch mögliche Rettung zu ergreifen, sobald in der Bedrängnis die klaren Hoffnungen sie verlassen, auf die verschwommenen bauen: Weissagung, Göttersprüche und all dieses, was mit Hoffnungen Unheil stiftet.

[104] Die Melier. Schwer dünkt es allerdings auch uns, wißt wohl, gegen eure Macht und das Schicksal, wenn es so ungleich steht, anzukämpfen. Dennoch trauen wir, daß das Geschick uns um der Gottheit willen nicht benachteiligt, weil wir rein und gegen Ungerechte stehen, und unsern Mangel an Macht der Spartanische Bund ergänzt, der, wenn sonst aus keinem Grund, so doch wegen der Verwandtschaft und um der Ehre willen, gar nicht anders kann als uns zu helfen. Nicht... nur unvernünftig ist also unsere Zuversicht.

[105] Die Athener. Je nun, an der Gunst der Götter soll es, denken wir, auch uns nicht fehlen. Denn nichts, was wir fordern oder tun, widerspricht der Menschen Meinung von der Gottheit und Gesinnung gegeneinander. Wir glauben nämlich, vermutungsweise, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es,...und wenn wir uns daran halten, so wissen wir, daß auch ihr und jeder, der zur selben Macht wie wir gelangt, ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten. Wegen eurer Spartanerhoffnung aber, die ihr hegt, sie würden um ihrer Ehre willen euch gewiß helfen, da preisen wir euch selig für euren Kinderglauben... Die Spartaner untereinander nämlich und unter ihren Landesgesetzen zeigen den größten Edelmut; aber gegen die andern könnte man vieles erzählen, wie sie sich betragen, und mit einem Wort etwa so sagen: kein Volk, das wir kennen, erklärt so unverhohlen wie sie das Angenehme für schön und das Nützliche für gerecht. Eine solche Haltung ist jedoch dem Unverstand eurer jetzigen Rettung nicht günstig.

[106] Die Melier. Und wir trauen gerade darum erst recht auf ihren Nutzen: sie werden nicht ihre eigene Gründung Melos preisgeben wollen, damit ihre Freunde in Hellas sie treulos, ihre Feinde sie hilfreich nennen.

[107] Die Athener. Ihr meint also nicht, daß der Nutzen mit der Sicherheit geht, während das Schöne und Gerechte zu vollbringen gefährlich ist – was die Spartaner im allgemeinen am wenigsten wagen.

[108] Die Melier. Unsretwegen, dächten wir, werden sie die Gefahr eher auf sich nehmen, und um so viel unbedenklicher als für andere, weil wir für alles zu Tuende nah am Peloponnes liegen und in der Gesinnung als ihre Blutsverwandten treuer denn andere sind.

[109] Die Athener. Verlaß findet aber der zur Hilfe Aufgebotene nicht in der Zuneigung der Hilfeheischenden, sondern wo eine tatsächliche und überragende Macht ist – und darauf achten die Spartaner noch ganz besonders; wenigstens mißtrauen sie ihrer eigenen Streitmacht so sehr, daß sie nur mit vielen Verbündeten in fremdes Gebiet einfallen. Es ist also nicht wahrscheinlich, daß sie unsrer Seeherrschaft zum Trotz auf eine Insel übersetzen werden.

[110] Die Melier. Dann könnten sie ja auch andere schicken. Und in den Weiten des Kretischen Meeres ist für seine Beherrscher das Aufbringen schwieriger als, wenn einer sich durchstehlen will, das Entkommen. Und mißlingt ihnen dies, so könnten sie sich auch gegen euer Land wenden und gegen eure übrigen Verbündeten....; statt um eine gleichgültige Insel habt ihr dann für euer eigenes Land und Bündnis die Müh und Last.

[110] Die Athener. Wenn solches geschähe, hätten wir ja darin Erfahrung und ist euch nicht unbekannt, daß die Athener noch nie irgendeine Belagerung aus Furcht vor dritten abgebrochen haben.

Wir bemerken aber, daß ihr trotz eurer Zusage, ihr wolltet über eure Erhaltung beraten, in diesem langen Gespräch nichts vorgebracht habt, worauf Menschen einen Glauben an ihre Rettung gründen könnten. Euer Stärkstes ist gehoffte Zukunft, und was ihr bereit habt, ist zu schwach, die schon anwesende Gegenmacht zu bestehn. So zeigt ihr viel Unverstand in eurem Denken, wenn ihr nicht jetzt noch nach unserm Beiseitetreten etwas anderes, Vernünftigeres als dies beschließt. Denn ihr werdet doch nichts geben auf die in schmählicher, selbstgewählter Gefahr so vielfach den Menschen verhängnisvolle Ehre. Viele... riß die sogenannte Schmach mit der Gewalt eines Zauberspruches hin, daß sie, besiegt von einem Wort, in der Wirklichkeit willentlich in unwendbare Not gerieten und noch Schande dazu ernteten, schmählicher als durch Schicksal wegen der eigenen Torheit. Davor müßt ihr euch hüten, wenn ihr‘s recht bedenkt, und nichts Unwürdiges darin finden, einer so mächtigen Stadt zu unterliegen, die so maßvolle Bedingungen vorschlägt: ihr würdet Verbündete, behieltet, was ihr besitzt, hättet die Steuer zu entrichten - müßt also nicht bei der euch gewährten Wahl zwischen Krieg und Sicherheit mit aller Gewalt euer Unglück erkämpfen. Wer seinesgleichen nicht nachgibt, dem Stärkeren wohl begegnet, gegen den Schwächeren Maß hält, der fährt meist am besten. So prüft also auch noch, während wir draußen warten, und bedenkt wieder und wieder: ihr beschließt über euer Vaterland, dies eine Vaterland, und auf diesen einen Beschluß, der treffen oder mißglücken kann, kommt es an.

[112] Damit zogen sich die Athener aus der Verhandlung zurück. Die Melier in der Beratung untereinander entschieden sich in gleicher Weise, wie sie schon erwidert hatten, und gaben diesen Bescheid: Nichts anderes scheint uns richtig, Athener, als vorher, und nimmer wollen wir in kurzem Augenblick einer Stadt von nun schon 700jährigem Bestand die Freiheit aberkennen, sondern wollen sie um der Götter willen dem bis heute stets hilfreichen Schicksal und von den Menschen dem Beistand der Spartaner anvertrauen und versuchen, uns zu retten. Unser Vorschlag ist, daß wir euch freund sind, keiner Partei feind, daß ihr unser Land verlaßt und wir einen Vertrag schließen, wie er zweckmäßig scheinen mag uns beiden.

[113] So also lautete der Bescheid der Melier, und die Athener brachen das Gespräch ab mit den Worten: Ihr seid schon die einzigen, so scheint uns..., die die Zukunft deutlicher sehen, als was zutage liegt, und das Verhüllte vor lauter Wunsch schon als Gegenwart nehmen; aber so tief die Verblendung eures Vertrauens ist auf Spartaner, Schicksal, Hoffnungen, so tief wird auch euer Sturz.

[114] Damit gingen die Gesandten der Athener zurück zum Heer, und da die Melier sich nicht fügen wollten, eröffneten die Feldherren nun gleich den Krieg. […]

Das Finale beschreibt Thukydides (V, 166) wie folgt: »Im folgenden Winter nahmen die Melier wieder eine Stelle des athenischen Mauerrings, wo nicht viele Wachttruppen standen. Als nach diesem Vorfall später noch ein Heer kam...und nun die Belagerung mit aller Macht führte, und auch noch Verrat mitspielte, ergab sich Melos auf Gnade oder Ungnade. Die Athener richteten alle erwachsenen Melier hin, [...] die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. […]«

(Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übers. u. hrsg. von Georg Peter Landmann, Reinbek: Rowohlt Verlag 21964, S. 249-255.)