von Herbert Ammon

Für den Historiker bestehen wenig Zweifel über den Schuldanteil des deutschen Protestantismus am Aufkommen des ›Dritten Reiches‹ und am weitgehenden Versagen der Kirchenführer, auch der Bekennenden Kirche, an den Wegstationen der im Holocaust gipfelnden Verbrechen des NS-Regimes. Das ist nicht identisch mit Haupt- oder Alleinschuld. Es gehört indes zur Ironie der Geschichte, dass in einem längeren Prozess der Nachkriegszeit innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die deutsche Schuldthematik – mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 als Ausgangsdatum – wenn nicht zum Kern des christlichen Credo, so zu einem zentralen Dogma erhoben wurde. Den tonangebenden Protestanten geht es nicht mehr um das Seelenheil der Gläubigen, sondern um den aus der Schulderkenntnis – de facto ein Bekenntnis zur deutschen Kollektivschuld an den Nazi-Verbrechen – abgeleiteten Anspruch auf Anleitung zu ›richtigem‹ politischem Handeln zum Heil der Menschheit.

Nicht zufällig bezeichnete der gegenwärtige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm die im November 2020 Corona-bedingt per Internet tagende Synode als »Avantgarde des Reiches Gottes«. Insofern der an Gedenktagen und in öffentlichen Reden beschworene Bezug auf die NS-Geschichte die bundesrepublikanische Zivilreligion fundiert, ist das protestantisch-religiöse Bekenntnis von der säkularen Ausdeutung der deutschen Geschichte, komprimiert unter dem Begriff des ›deutschen Sonderwegs‹, kaum zu unterscheiden. Die christliche Heilsbotschaft wird zum Vehikel der Zivilreligion einer post-christlichen Gesellschaft. Deren ideelle Widersprüchlichkeit, der Bezug auf die deutsche Nationalgeschichte als Amalgam der postnationalen Einwanderungsgesellschaft, wird durch die Beschwörung der Werte (samt Wertepluralismus) der liberalen Demokratie überdeckt.

Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 wurde seinerzeit von Hans Asmussen, Theophil Wurm und Martin Niemöller verfasst und von einer ökumenischen Delegation unter Willem Visser ´t Hooft – in Abwesenheit des anglikanischen Bischofs George F. Bell, des Freundes von Dietrich Bonhoeffer – gebilligt. Den zeittypischen Umgang mit dem Dokument illustriert der Gedenkartikel des württembergischen Landesbischofs Frank Otfried July über Das Erbe des Stuttgarter Schuldbekenntnisses (in: FAZ v. 19.10.2020, S. 10). Das Bekenntnis stehe »wie kein zweites Dokument für ein Umdenken, eine Vision von Ökumene und ein friedliches Europa«. Es fehle darin jedoch ein Wort zum millionenfachen Mord an Juden und zu vielen anderen Opfern des Regimes.

Der Landesbischof versteht den unter dem Eindruck der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) entstandenen Text nicht primär politisch, intendiert als eine Art »›Eintrittskarte‹ in die demokratische Welt« und als materieller Hilferuf, sondern als Schuldbekenntnis vor Gott. Derart »öffentlich bekannte Schuld ist etwas anderes als ein politisches Statement«. Doch dann heißt es im Nachsatz: »Schuldbekenntnisse sind aber auch zutiefst politisch. Sie erheben den Anspruch (sic!), stellvertretend für andere Menschen individuelles Fehlverhalten auszusprechen.« Die Sätze zielen – sofern der Begriff der Kollektivschuld abzuweisen ist – auf eine Bevormundung der nicht schuldig Gewordenen und implizieren einen Widerspruch. Dessen Aufhebung lautet wie folgt: Die Legitimation kirchlicher Stellungnahmen resultiere »zum einen aus der großen Zahl der Menschen, für die die Kirche spricht. Zum anderen gewinnt die Kraft der Argumente, wenn Glaubensüberzeugungen so in eine säkulare Öffentlichkeit hinein übersetzt werden, dass der Eigensinn der ›religiösen Grammatik‹ produktiv für die Debatte werden kann.« Von der petitio principii abgesehen, erschließt sich der Sinn des Satzes nur dem, der mit der spezifischen Grammatik vertraut ist. Des weiteren heißt es, »in den großen Debatten« stünden die politisch-ethischen Wortführer der Kirche in der Nachfolge der alttestamentarischen Propheten.

Dass der Verfasser das Schuldthema mit dem ›richtigen‹ Verhalten der Kirche in der – wie dereinst Pest und Cholera – hereingebrochenen Corona-Pandemie assoziiert, sei dahingestellt. Die Fragwürdigkeit einer politischen Aktualisierung des historischen Schuldbekenntnisses tritt in der Verknüpfung mit dem Thema ›Seenotrettung‹, realiter Migration, zutage. Mit dem auch aus kirchlichen Mitteln finanzierten Rettungsschiff Sea-Watch 4 werde »die glaubwürdige Rede von der Barmherzigkeit...manifest.« »Das zeichenhafte Handeln der Kirche wird hier tatsächlich Politik, weil es staatliche Versäumnisse anschaulich macht.« Überflüssig zu erwähnen, dass die Art und Weise der ›Seenotrettung‹ auch in Kirchenkreisen (s. Richard Schröder, Die Welt v. 1.7.2019) Kritik erfährt. An der Erkenntnis, dass die Rettungsschiffe de facto verbrecherisches Treiben begünstigen und die illegale Einwanderung befördern, führt kein Weg vorbei. Rechtfertigen ließen sich derlei Aktionen, wenn die aus Seenot Geretteten an politisch-militärisch geschützte Orte in der Nähe ihrer Herkunftsländer gebracht würden, wo über Asylgesuche zu befinden wäre. Selbst dann stellte sich die Frage nach den Grenzen des Machbaren.

Wie angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der politischen Zustände in Afrika und anderswo ein politisch sinnvolles Konzept zur Steuerung der Migration auszusehen hätte, weiß keiner der Protagonisten der ›Seenotrettung‹ noch die mit globalen Friedensfragen befassten Kreise der Ökumene. Wer staatliche ›Versäumnisse einer inhumanen Flüchtlingspolitik‹ beklagt und nur staatlicherseits zu erfüllende Forderungen erhebt, versperrt die Augen vor der Realität der Politik. Deren Wesen ist die Kunst des Möglichen, nach Max Weber das ›langsame Bohren harter Bretter‹. Inmitten von Unwägbarkeiten und Risiken geht es um den Gebrauch von Macht im Kontext vorgefundener, historisch gewachsener Bedingungen, von Interessen, von guten und weniger guten Absichten, um Unterscheidungen und Entscheidungen. Diesen liegt die – nur subjektiv aufzulösende – Antithese von verantwortungsethischem und gesinnungsethischem Handeln zugrunde, die auf die lutherische Lehre von den ›Zwei Regimenten‹ zurückweist.

Die eingangs vorgetragene These bedarf noch einer Erläuterung: Die Ursachen der politischen Verfehlungen des deutschen Protestantismus, seiner Unfähigkeit zu rechtzeitig wirksamem, unzweideutigem Widerstand, sind komplexer als das herkömmliche Deutungsmuster: Zusammenbruch des obrigkeitsstaatlichen Regiments in der Novemberrevolution 1918, weitgehende Ablehnung der Weimarer Republik, Anfälligkeit für Nationalismus und autoritäre Staatsformen. Verwiesen sei auf das Werk von Christopher Clark The Sleepwalkers (2013), das die in der deutschen Zeitgeschichte dominante ›Fischer-These‹ (1959/1961) von der deutschen Hauptschuld an der europäischen »Urkatastrophe« (George F. Kennan) 1914 in Frage stellte. Die Unzulänglichkeit der politisch-protestantisch fundierten Argumentationslinie erhellt sich daraus, dass selbst Dietrich Bonhoeffer als Protagonist der Völkerversöhnung die in Artikel 231 des Versailler Vertrags fixierte Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg ablehnte. Vielmehr sind die tieferen Wurzeln des christlich-protestantischen Versagens in unlösbarer Verknüpfung mit der europäischen Realgeschichte seit der Französischen Revolution – von Bonhoeffer als Ursprung der »abendländischen Gottlosigkeit« gekennzeichnet – in der deutschen Geistesgeschichte zu suchen. In ihr tritt seit dem Scheitern des idealistisch imprägnierten liberalen Protestantismus im Ersten Weltkrieg die Rechtfertigungskrise des christlichen Glaubens gegenüber der Vernunft und den säkularen Mächten der Geschichte hervor.

Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 gehört zur Geschichte des Protestantismus, aber es unterliegt der Historisierung. Wenn ihm transzendente Gültigkeit zugemessen sein soll, so schützt dies nicht vor politischem Missbrauch. In den 1980er Jahren, als im Kontext der damaligen Friedensbewegung die ›deutsche Frage‹ aus der Raketendebatte auftauchte, erklärten DDR-affine, linksprotestantische Aktivisten eine auf Dauer gestellte deutsche Teilung zur Voraussetzung für den Friedens in Europa. Als Argument diente die deutsche Schuld.

Mit aller Leidenschaft widersetzte sich seinerzeit der aus dem DDR-Gefängnis freigekaufte Schriftsteller Ulrich Schacht der Teilung seines Landes. Seine analytische Klarheit, seine Verachtung der Lüge und die vitale Polemik entsprangen seinem christlichem Glauben, seinen biographischen Brüchen, seinem Widerstand gegen jegliche Art der ›abendländischen Gottlosigkeit‹ und seiner in der praktischen Vernunft verwurzelten politischen Überzeugung. Wenige Jahre vor seinem Tod erklärte er auf die Frage nach seinem politisch-philosophischen Selbstverständnis kurz und bündig: »Ich bin Lutheraner.«

Der Text ist dem Gedenkband für Ulrich Schacht (1951-1968) entnommen: Wegmarken und Widerworte. Ulrich Schacht zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Thomas A. Seidel u. Sebastian Kleinschmidt, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt), 2021, S. 21-25. Der Band enthält Beiträge von Jörg Bernig, Wolf Biermann, Siegmar Faust, Uwe Kolbe, Christine Lieberknecht, Heinrich Oberreuther, Uwe Tellkamp und vielen anderen.