von Johannes R. Kandel
In der Grundschule in den fünfziger Jahren hatten wir einen Klassenlehrer, der Geschichte und Deutsch unterrichtete. Er hatte den Zweiten Weltkrieg als junger Soldat überlebt und war dann ins pädagogische Fach gewechselt. Er war ein guter Lehrer und wenn er mitunter Geschichten aus dem Krieg erzählte, dann waren wir mucksmäuschenstill, weil es erschreckend aber spannend zugleich war. Am Ende des Unterrichts ließ er oft seine Geige erklingen und gab eine Vertonung von Schillers berühmten Versen aus dem Wilhelm Tell zum Besten:
Begeistert sangen wir mit. Unsere Eltern, denen wir das erzählten, haben sich nie beschwert. Das wäre heute völlig undenkbar, ein solcher Lehrer hätte sogleich die Elternschaft, das Lehrerkollegium und die Schulbehörde auf dem Hals: Rüge, Entlassung, Schmähung in den öffentlich-rechtlichen und sozialen Medien.
Patriotismus, geschweige denn Nationalismus, sind mega-out in unserer multikulturellen, kosmopolitischen Gesellschaft der offenen Grenzen und des postmodernen Dekonstruktivismus.
Erinnerungspolitisches Dilemma
Für die Hüter erinnerungspolitischer Korrektheit scheint es stets ärgerlich zu sein, wenn die Erinnerung an zentrale Ereignisse in der Geschichte der deutschen Nation nicht so einfach im Modus des zerknirschten ›Nie wieder!‹ und im Büßerhemd ›bewältigt‹ werden können, wie z.B. der 4. August 1914, der 30. Januar 1933, der 9. November 1938, der 1. September 1939, der 22. Juni 1941, der 8. Mai 1945 oder der 27. Januar 1945. So ein Ereignis ist der Tag der deutschen Reichsgründung am 18. Januar 1871. Vor fünfzig Jahren raffte sich die Bundesregierung (sozialliberale Koalition) gerade mal zur Herausgabe einer 30-Pfennig Sonderbriefmarke und eines Fünfmarkstücks auf. Minister Egon Franke durfte immerhin einen Kranz niederlegen. Außerdem hielt der damalige Bundespräsident, Gustav W. Heinemann (1899-1976) eine viertelstündige Rede im Fernsehen ›an das Volk‹, in der deutlich machte, dass ihm nicht zum Feiern zumute sei, denn hundert Jahre Deutsches Reich bedeuteten »eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945«. Trotzdem stand auch der Sozialdemokrat Heinemann zu seinem Vaterland: Am 1. Juli 1969 hatte er nach Leistung seines Amtseides als Bundespräsident erklärt: »Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland«.
Was das deutsche Volk über das Kaiserreich 1971 dachte, ist mangels Meinungsumfragen und qualitativen Analysen schwer zu ermitteln. Bekannt ist, dass 1951 noch 45 Prozent der Deutschen (!), glaubten, dass es Deutschland in diesem Jahrhundert „unter der Herrschaft des Kaisers am besten gegangen“ sei. Das ging dann in den sechziger Jahren allerdings auf 5% zurück. Wen wunderts? Aktuelle Umfragen sind mir nicht bekannt, weil es wohl keinen mehr interessiert.
In diesem Jahr Zwei der Corona-Pandemie war es Bundespräsident Steinmeier beschieden, sich über das angemessene erinnerungspolitische Gedenken im „schwierigen Vaterland“ den Kopf zu zerbrechen. Der Gedenktag der Reichsgründung kam ihm ausgesprochen „ungelegen“. Öffentliche Veranstaltungen oder gar Feierstunden waren ja ohnehin wegen Corona nicht statthaft, es hätte sie aber auch ohne Corona kaum gegeben, höchstens in bescheidenem Rahmen hinter verschlossenen Türen, z.B. in Kreisen der jüngst wieder auf „Entschädigung“ drängenden Familie Hohenzollern, in Lesezirkeln der „Preußisch-Allgemeinen Zeitung“ (PAZ) oder der „Jungen Freiheit“ (JF), die das Thema breit aufnahm und ein Riesenposter von Anton von Werners berühmten Bild der Kaiser Proklamation („Friedrichsruher Version“) am 18. Januar 1871 in Versailles in ihrer Ausgabe vom 15. Januar 2021 publizierte. Vorstellbar wäre auch ein Seminar der „Otto-von-Bismarck Stiftung“ zu den Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges gewesen sowie Leseabende in regionalen Heimatvereinen, etwa zu den Erinnerungen von Theodor Fontane und deutschen Soldaten aus verschiedenen Regionen des Reiches (alles bei Tobias Arand, 1870/71).
Klar ist: Es gibt wohl keinen deutschen Historiker mehr, der, überwältigt von der Bedeutsamkeit dieses Tages, Tränen vergießt, wie einst Geschichtsprofessor Heinrich von Sybel (1817-1895):
Und natürlich auch keinen Theologen, der sich zu einer kühnen heilsgeschichtlichen Deutung der Reichsgründung hinreißen ließe, wie sie weiland der berühmt-berüchtigte Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) zum 18. Januar 1871 präsentierte:
Der Nationalprotestantismus von Kaiserreich und Weimarer Republik ist lange vorbei und die Evangelische Kirche übt sich seit Jahren in stetiger Zerknirschung über ihre unheilige Vergangenheit und forciert den Kampf gegen Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Zur Reichsgründung offiziell kein Wort.
›Gedenken‹ oder ›Damnatio Memoriae‹?
Der Bundespräsident, der zweifellos richtig sah, dass gegenwärtig niemand »nach einer nationalen Feier der Reichsgründung« verlangte, entschied sich für eine Talk-Runde mit Fachhistorikern. Das war begrüßenswert, denn es war dem ersten Repräsentanten unseres Staates nicht entgangen, dass die Themen ›Reichsgründung‹ und ›Deutsches Kaiserreich‹ höchst komplex sind und stets von tiefgreifenden deutungs- und erinnerungspolitischen Kontroversen begleitet waren. Eine nicht mehr überschaubare Forschungsliteratur (6910 Einträge für ›Reichsgründung‹ und 13856 für ›Deutsches Kaiserreich‹ bei »historicum.net«), beginnend mit den Zeitgenossen, hat eine solche ungeheure Fülle von Fakten, Daten, Erzählungen und Analysen methodologisch-erkenntnistheoretischer Breite hervorgebracht, dass selbst Experten Orientierungsschwierigkeiten haben. International bekannte Historiker resümierten 2009, »daß es keine mehr oder weniger geschlossene Sichtweise des Kaiserreiches mehr gibt, sondern eine Vielzahl von teils konkurrierenden, teils friedlich koexistierenden Bildern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven«. (Müller/Torp, Hg., Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, S. 27). Lange Zeit wagten sich auch nur wenige Historiker an die besonders schwierigen ›Gesamtdarstellungen‹. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierten eher nationalkonservative Deutungen mit sehr deutlichen volkspädagogischen Intentionen (z.B. Heinrich von Sybel, Otto Hintze, Heinrich von Treitschke u.a). Den Nationalkonservativen und Nationalliberalen erschien die Reichsgründung als die Vollendung des legitimen Strebens der Deutschen nach Einheit, Freiheit und Selbstbehauptung in Europa. Fürst Otto von Bismarck, der ›weiße Revolutionär‹ (Lothar Gall), erreichte als die Lichtgestalt der Deutschen eine ungeheure Popularität (etwa 700 Bismarck Denkmale in Deutschland!). Wenn es im 19. Jahrhundert eine Persönlichkeit gegeben hat, die im Sinne Jacob Burckhardts tatsächlich ›historische Größe‹ repräsentierte, so war das Bismarck. Dagegen fiel dann die höchst problematische Verwaltung (oder besser: Verschleuderung) seines Erbes von ›W Zwo‹ und seinen ›cronies‹ (1890-1918) drastisch ab und sorgte schon damals für Katzenjammer unter nationalliberalen und konservativen Historikern.
Die permanent beschworene »deutsche Katastrophe« (Friedrich Meinecke) der Jahre 1933-1945 verengte den Interpretationskorridor erheblich und bestärkte eine von Historikern, Sozialwissenschaftlern, Journalisten und Politikern vorangetriebene Fundamentalkritik am Kaiserreich in erinnerungspolitischer und volkspädagogischer Absicht. Bei ›fortschrittlichen‹ Historikern (die Marxisten-Leninisten seien hier ausgeklammert) mutierte das Deutsche Kaiserreich seit Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, mehr oder weniger ausgeprägt, zur Vorgeschichte der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan), dem Ersten Weltkrieg, und schließlich auch des Nationalsozialismus:
Diese ›Kontinuitäten‹ im Blick auf Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur scharf herauszuarbeiten und den ›deutschen Sonderweg‹ zu betonen, war angesagt und darin reüssierten vor allem die weit über ihr Fach hinaus gepriesenen Historiker Hans Mommsen (1930-2015), Helmut Böhme (1936-2012), Hans-Ulrich Wehler (1931-2014), (»Deutsche Gesellschaftsgeschichte«) und Heinrich A. Winkler (* 1938), (»Der lange Weg nach Westen«), die wiederum die folgende Historikergeneration inspirierten. Nur wenige setzten seinerzeit – höchst umstrittene – Kontrapunkte, wie etwa der früh verstorbene Thomas Nipperdey (1927-1992), der Wehler deutlich kritisiert hatte oder (eher gedämpft) auch Andreas Hillgruber (1925-1989) und Klaus Hildebrand (* 1941). Eine etwas schwankende vermittelnde Position nahm Michael Stürmer (* 1938) ein (»Das ruhelose Reich«, 1983), bei den ›Linken‹ nicht gerade beliebt, weil er lange Jahre Helmut Kohl in politischen Fragen beraten und Reden geschrieben hatte. Steinmeier folgte in seiner Rede der Linie von Wehler und Winkler und konstatierte, dass es einen »ungetrübten Blick zurück auf das Kaiserreich, vorbei an Völkermord, an zwei Weltkriegen und einer von ihren Feinden zerstörten Republik« nicht geben könne. War das eine höflich verpackte Variante der groben Ableitung ›von Bismarck zu Hitler‹? Nicht ganz, denn Steinmeier ruderte gleich zurück und warnte davor, »Kontinuität« und »Zwangsläufigkeit« zu verwechseln. Es habe schließlich auch andere »Richtungen« und »Entwicklungen« gegeben und man dürfe sich nicht darauf einlassen, »Geschichte nur vom Ende her« zu lesen. »Handlungsspielräume« und »persönliche Verantwortung« dürften nicht übersehen werden. Wie wahr.
Bedauerlich ist, dass sich das politkorrekte Reinigungspersonal selbsternannter Geschichtsdeuter vom Bundespräsidenten nicht beeindrucken lässt, die seit geraumer Zeit zur Entsorgung der deutschen Vergangenheit aufrufen. Sie möchten alles tilgen, was auch nur im Entferntesten an ›Nationales‹ erinnert, weil dahinter stets die grausige Fratze des Nationalsozialismus aufscheine. Denkmale, Straßen- und Gebäudenamen, U-Bahn-Stationen und selbst Kirchenglocken verfallen der meist linksgrün orientierten ›Damnatio Memoriae‹. Im Blick auf die Artefakte des Kaiserreiches) hätten diese ›Putzkolonnen‹ neuer deutscher Geschichte noch ein reiches Betätigungsfeld. Da reicht schon ein flüchtiger Spaziergang von Unter den Linden durch den Tiergarten, um treffende Objekte zu markieren. Wann wird es die erste Attacke gegen die Siegessäule geben, das 1873 am Sedantag (2. September) eingeweihte Monument der deutschen Einigungskriege 1864-1871?
Talk im ›Bellevue‹ – das Kaiserreich eine ›Fehlgeburt‹?
Von einer Talkrunde mit Historikern zum 150. Jahrestag der Reichsgründung war eine nüchterne Sachdiskussion über den Weg zur Reichsgründung, ihrem Hauptarchitekten, Fürst von Bismarck, eine Abwägung von Stärken und Schwächen des Reiches, von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu erwarten. Die Auswahl der Talkpartner, immer die ›Qual der Wahl‹, zeigte schon an, in welche Richtung das Ganze gehen sollte. Kontrovers ja, aber nicht zu heftig, klare Positionen, verbindlich im Ton, ›staatsmännisch‹ gewissermaßen und ›Europa‹ nicht vergessen. Politische Korrektheit bestimmte die Auswahl der Gäste: zwei männlich und zwei weiblich, eine Französin (Hélène Miard-Delacroix, Professorin für deutsche Zeitgeschichte an der Sorbonne, Paris) und die deutsche Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld Christina Morina, von Steinmeier als ›Expertin‹ für Erinnerungspolitik vorgestellt. Bei der Auswahl der Herren Geschichtsprofessoren war von vornherein Kontroverse beabsichtigt. Die Einladung von Eckart Conze (Professor für Neueste Geschichte an der Universität Marburg) signalisierte, dass es dem Bundespräsidenten darum ging, allen vermeintlichen ›Renationalisierungstendenzen‹, einem ›nationalhistorischen Revisionismus‹ und der drohenden Wiederkehr eines säbelrasselnden Nationalismus mannhaft entgegenzutreten. Conze war mit seiner 2020 erschienenen Publikation Schatten des Kaiserreiches genau der Richtige für eine fundamentalkritische Abrechnung mit dem deutschen Kaiserreich. Sein Werk verstand er nicht nur als »historische Analyse« sondern auch als eine »geschichtspolitische Intervention« (Schattenseiten, S. 17), womit er den volkspädagogischen Intentionen Steinmeiers entgegenkam.
Mit Sir Christopher Clark, dem australischen Historiker und überragenden Kenner preußisch-deutscher Geschichte, war ein ›Schwergewicht‹ historischer Forschung per Video zugeschaltet. Clark, der in Cambridge lehrt, wurde einem breiten Publikum in Deutschland vor allem mit seinem Bestseller zum Ersten Weltkrieg bekannt (»Die Schlafwandler«, 2012 bzw. 2013). In dieser scharfsinnigen, ungeheuer materialreichen diplomatiegeschichtlichen Studie hatte er die politische Komplexität der Abläufe, die zum Ersten Weltkrieg führten, dargestellt und kam somit dem berühmt-berüchtigten Diktum Lloyd Georges nahe, dass von den damaligen politischen Akteuren keiner den Krieg gewollt, aber auch keiner ihn verhindert habe. Alle seien gleichsam »hineingeschliddert«. Conze hatte in seinen Schattenseiten Clarks luzide Analyse massiv kritisiert und gemutmaßt, dies würde – wenn auch nicht intendiert – »Revisionismus« und eine Wiederkehr nationalistischer Anmaßungen befördern, indem es das Deutsche Reich von einer »Alleinschuld«, bzw. »Hauptschuld« am Ersten Weltkrieg freispreche (Schattenseiten, S. 230ff.) Um die bis heute anhaltenden Kontroversen zur Reichsgründung und dem Kaiserreich anzusprechen, wäre gewiss auch eine andere Besetzung möglich gewesen, etwa mit Michael Epkenhans, Christoph Nonn, Ulrich Lappenküper, Klaus Bremm, Hans-Christof Kraus, Rainer F. Schmidt, Eberhard Straub, Hedwig Richter u.a. Mit ihnen wäre sicherlich auch eine kritische Reflexion deutscher Geschichtskultur und Geschichtspolitik gelungen.
Man durfte also gespannt sein. In diesem staatsmännischen Rahmen ging es nun, wie nicht anders zu erwarten, sehr gelehrt, vornehm zurückhaltend und verbindlich zu. Es wurden Themen angesprochen, die seit Beginn der Geschichtsschreibung zum Kaiserreich die historische Forschung beschäftigten und bis heute kontrovers geblieben sind. In Stichworten: Die Reichsgründung als ›Revolution von oben‹ und die Bedeutung der deutschen Nationalbewegung für die Erringung von Einheit und Freiheit; Bismarcks Bündnispolitik 1871-1890 als ›Vorläufer‹ des späteren Wilhelminischen Nationalismus und Imperialismus; ›Modernisierung‹, Parlamentarismus, Parteien, preußisch-deutscher Obrigkeitsstaat und verhinderte ›Demokratisierung‹; industrielle Revolution, wirtschaftliche Dynamik, interventionistische Staatspolitik (Solidarprotektionismus), soziale Reformen und Sozialpolitik; ›Borussische Militarisierung‹, bürgerliche Gesellschaft und Ausgrenzung von ›Reichsfeinden‹ (Sozialdemokraten, Katholiken); Nationalistische Überhebung (›Weltgeltung‹), Antisemitismus und Imperialismus als Ablenkung von inneren Krisen (›Sozialimperialismus‹). Letztlich stand wie eine gigantische Hintergrundkulisse die Frage nach den ›Kontinuitäten‹ vom Kaiserreich zum Ersten und von dort zum Zweiten Weltkrieg im Raum, vulgo: ›von Bismarck zu Hitler‹.
Im Kreise dieser hochmögenden Wissenschaftler mühte sich der höchste Repräsentant unseres Staates um eine, seines Amtes gemäße, möglichst ausgewogene Bewertung der Reichsgründung. Seine Eingangsrede stand insofern im Kontrast zu seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2020, als dass er dieses Mal auf grobe Schwarzmalereien des Kaiserreiches verzichtete. Er hatte am 3. Oktober ausgeführt:
Seine Auffassung hatte sich nicht geändert, kam aber nun moderater daher. Gleichwohl gefiel er sich gleich in der Rolle als oberster Geschichtslehrer unseres Landes. Er sprach befremdlich im Plural von »Wir Deutschen«, die dem Kaiserreich »beziehungslos gegenüber« stünden, wie auch den zahlreichen historischen »Denkmälern, Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche«. Diese entfalteten keine »prägende Kraft« mehr, konstatierte er. Das mag für den Sozialdemokraten und seine politischen Freunde von linksgrün stimmen, galt doch das Kaiserreich für die Sozialisten schlicht als Inkarnation des Bösen, in Gestalt von Monarchismus, Obrigkeitsstaat, Klassenherrschaft, Radikalnationalismus und Imperialismus.
Es mag ja sein, dass die Artefakte preußisch-deutscher Geschichte zwischen Charlottenburger Tor und Alexanderplatz – namentlich für eine jugendliche Partygeneration – von linken Preußenverächtern ganz zu schweigen, keine ›prägende Kraft‹ mehr entfalten. Wie sollten sie auch, wenn die Geschichte, die sie repräsentieren, aufgrund eines höchst ausgedünnten, bzw. ›sozialkundlich‹ reduzierten, Geschichtsunterrichts in unseren Schulen kaum mehr bekannt ist! Ich vermute, dass unser Bundespräsident wahrscheinlich selten oder nie die wenigen Schritte vom Schloss Bellevue zum Bismarckdenkmal (1896-1901 von Reinhold Begas geschaffen) am Großen Stern gegangen ist. Doch viele Berliner, etwa im Alter von Steinmeier, kennen ihre Stadtdenkmäler noch ganz gut, wenn auch vielleicht nur oberflächlich. Schließlich gab es auch noch Patrioten, die am 18. Januar 2021 Kränze am Bismarckdenkmal im Tiergarten niederlegten. Ich wage zu prophezeien, dass wenn das Berliner Stadtschloss vollendet ist, Scharen von Berlinern dorthin pilgern werden. Und gewiss wird der Bundespräsident zur Eröffnung eine Rede halten, in der er, wie jetzt in seiner Rede, die ›Doppelgesichtigkeit‹ der ehemaligen Hohenzollernresidenz betonen wird, die das Stadtschloss für die deutsche Geschichte symbolisiert. Die Wiedererrichtung des Schlosses hält Conze im Verein mit zahlreichen Preußenverächtern übrigens für einen Fehler. An der ›Doppelgesichtigkeit‹ des Kaiserreiches ist ja nicht zu zweifeln, da sind sich die Historiker, gleich welcher politischen Richtung, einig. Umstritten ist jedoch, wo diese sich besonders zeigt.
Zum Auftakt des Gespräches betonte Miard-Delacroix die »Demütigung«, die der 18. Januar 1871 für die geschlagenen Franzosen bedeutet habe. An diesem Tag im Jahre 1701 setzte sich der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. in Königsberg selbst die Krone aufs Haupt als künftiger ›König in Preußen‹ (Friedrich I.). Symbolisierte dies den Anspruch Preußens auf die unbeschränkte Macht im Staate, so jetzt die Kaiserkrönung auf den Tag genau den Herrschaftsanspruch des ›borussischen Militärstaates‹ Preußen-Deutschlands. Auch sei es kein ›Zufall‹ gewesen, die Zeremonie ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles stattfinden zu lassen, dem Lustschloss des Sonnenkönigs Ludwig XIV., der von den Franzosen immer noch glühend verehrt werde. Ob die zeremonielle Inszenierung als eine gezielte Demütigung des besiegten Feindes gedacht war, ist eher unwahrscheinlich. Es ist nicht auszuschließen, dass die preußisch-deutschen Adligen und Militärs eine klammheimliche Genugtuung empfunden haben mögen, dass die Kaiserkrönung in dem Saale des Schlosses stattfand, in dem der Heldenkult Ludwigs XIV. aus allen üppigen Dekorationen provozierend herausstach. Mancher mag sich grimmig an die Kriege des ›Sonnenkönigs‹ erinnert haben, die dieser zwischen 1667 und 1714 gegen seine Nachbarn (Niederlande, Deutsches Reich, Spanien, England) geführt hatte. Unvergessen blieben dabei die Zerstörungen und Verwüstungen am Oberrhein und in der Pfalz, wo blühende Städte wie Worms, Speyer, Mannheim und Heidelberg in Schutt und Asche sanken. Auch waren Erinnerungen an den ›Kaiser der Franzosen‹, Napoleon I., noch lebendig, der halb Europa unterwarf, große Teile von Preußen annektierte und Abertausende von zum Kriegsdienst gezwungene Soldaten in einem mörderischen Feldzug gegen Russland verheizte. Für die Wahl des Spiegelsaals als Krönungsort haben vielleicht auch eher pragmatische Überlegungen den Ausschlag gegeben: Versailles war ohnehin seit Monaten das militärische und politische Hauptquartier der Deutschen und der Spiegelsaal bereits seit längerer Zeit als Lazarett für deutsche Soldaten genutzt worden. Ferner war dies der einzige große Raum, der die große Zahl der erwarteten Gäste fassen konnte.
Miard-Delacroix von der Sorbonne war fair genug, eine Mitschuld der französischen Seite für die Konstruktion des wechselseitigen Bildes vom ›Erbfeind‹, für Chauvinismus und nationalistische Hetze, einzuräumen, insbesondere nach dem Sturz Napoleons III. und damit der Monarchie. Die am 4. September 1870 gebildete Regierung der ›nationalen Verteidigung‹ knüpfte mit ihrem Appell an die ›levée en masse‹ auch gleich an die glorreichen Zeiten des imperialistischen Korsen an. Überhaupt wurde der Nationalismus als hauptsächlich treibender Faktor für die weiteren ›Fehlentwicklungen‹ des Deutschen Kaiserreiches verantwortlich gemacht, wobei sich keiner auf eine Unterscheidung von ›Patriotismus‹ und ›Nationalismus‹ einließ oder auch nur den Versuch unternahm, auf die in der Nationalismusforschung ermittelten Varianten einzugehen. Die Bielefelder Professorin Christina Morina warnte vor dem »völkisch-deutschen Hypernationalismus«, der sich im Kaiserreich durch die »Skrupellosigkeit« Bismarcks und die nationalistische Wende der Nationalliberalen ausgebildet habe. Das Kaiserreich sei – und da zitierte sie August Bebel 1870/71 – »mit dem Säbel geboren und gegründet worden und es werde mit dem Säbel auch untergehen.« Mit dem Stichwort ›Blutgeburt‹ leitete Steinmeier zu Eckart Conze aus Marburg über, der die Rolle des Richters der Geschichte übernahm. Wie in seinem Buch Schattenseiten des Kaiserreichs in epischer Breite ausgeführt, bezeichnete er das Kaiserreich als eine »Fehlgeburt«, ja eine »Kriegsgeburt«, denn in drei Kriegen habe sich »preußische Machtpolitik als Einigungspolitik« zu verkaufen gesucht. Zwar sei auch in anderen nationalstaatlichen Einigungsprozessen Krieg, Bürgerkrieg und Gewalt zu beobachten gewesen, etwa in Italien, aber im Deutschen Reich sei die »Dynamik« der Macht- und Gewaltpolitik im europäischen Vergleich doch etwas Besonderes gewesen. Sie habe sich gewissermaßen in den »genetischen Code« dieses Nationalstaates eingeschrieben. In den »sogenannten Einigungskriegen« (sic!) hätten sich »Bellizismus« und »konstitutioneller Militarismus« gezeigt und weit über 1870/72 die äußere und innere Politik des Kaiserreiches geprägt. »Krieg und Franzosenfeindschaft« seien zum »Gründungsmythos dieses Nationalstaates« geworden, wozu dann noch der sich fortwährend radikalisierende Kampf gegen die »Reichsfeinde« getreten sei.
Wir halten mit Conze fest: ›Konstitutiv‹ für das deutsche Kaiserreich ist der immerwährende Kampf gegen die ›Feinde‹ des Reiches! Krieg und nochmal Krieg! Das kann auch anders und weniger politisch absichtsvoll formuliert werden: Für das Deutsche Reich im Konzert der es umgebenden Nationen (und Bedrohungen) war es ›konstitutiv‹, den Schutz vor auswärtigen Aggressionen und die Sicherung der Grenzen zu garantieren, also eine ganz normale politische Aufgabe, die für alle seinerzeit im Mächtekonzert agierenden Nationalstaaten selbstverständlich war und machtpolitisch höchst effektiv verfolgt wurde. Und das hat Reichskanzler Bismarck – bei aller Kritik an seiner robusten Diplomatie und der mitunter paranoiden Furcht vor inneren Unruhen – gut hingekriegt. In Conzes Ausführungen kam das deutsche Volk so gut wie nicht vor, als ob es nicht nach 1871 einen bemerkenswerten Integrationsprozess von Nord nach Süd und West nach Ost gegeben hätte, begleitet von der Ausbildung eines gesamtdeutschen Nationalbewusstseins, das an die spätestens seit den Befreiungskriegen 1813 virulente sinn- und gemeinschaftsstiftende Idee der Nation anknüpfen konnte. In der patriotischen Bewegung der gegen die französische Fremdherrschaft Kämpfenden hatte sich schon lange »eine Fülle von mythologisch-symbolischen Bedeutungsgeflechten« (Hagen Schulze) gezeigt: z.B. Vereine, schwarz-rot-goldene Fahnen, Dichtung und Lieder. Der mit dem 18. Januar 1871 geschaffene nationalstaatliche Rahmen wurde vom Volk in einem längeren Entwicklungsprozess ausgefüllt und insofern ist ein Verständnis der Reichsgründung als nur eine ›Fehlgeburt‹ abwegig. Das Volk 1870/71 überwiegend als Manipulationsopfer machtgeiler, nationalistisch radikalisierter preußisch-deutscher Herrschaftseliten ins Schräglicht zu stellen, wird den realhistorischen Entwicklungen nicht gerecht. Der Wunsch nach der Einheit der Deutschen hatte sich ja sinnfällig schon in den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. ausgedrückt und verstärkte sich massiv in der deutschen Nationalbewegung. Diese wurde nicht nur von gebildeten Bürgern getragen, die sich an den Hervorbringungen deutscher Literatur, Musik (Bach, Brahms, Beethoven), Theater und Oper ergötzten und der deutschen ›Kulturnation‹ ihre Reverenz erwiesen. Die deutsche Revolution von 1848/49 wäre ohne das ›Volk‹ nicht möglich gewesen. Und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 lässt sich nicht pauschal als Kabinettskrieg adliger Herrschaftseliten beschreiben, sondern war ein Krieg von ›Völkern in Waffen‹, von denen auf deutscher Seite 49378 Mann und auf französischer 138900 auf den Schlachtfeldern Frankreichs ihr Leben ließen. Gleichgültig wie wir diesen Krieg aus heutiger Sicht interpretieren, es kann kein Zweifel daran bestehen, dass im Kampf gegen Frankreich nicht nur der Wille zur Selbstbehauptung mitschwang, sondern auch der Wunsch die Einheit Deutschlands zu erlangen. Die Bereitschaft in breiten Schichten des deutschen Volkes gegen den ›missgünstigen‹ Nachbarn Frankreich zu streiten war groß. »Die Einheit Deutschlands mußte ... erkämpft werden«, schrieb Friedrich Engels, ein sicherlich nicht des Radikalnationalismus Verdächtiger, »nicht nur gegen die Fürsten und sonstigen inneren Feinde, sondern auch gegen das Ausland. Oder aber – mit Hülfe des Auslands«. (Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, MEW, Bd. 21, S. 412)
Die von Conze zu einem zentralen Merkmal deutschen Nationalcharakters hochstilisierte ›Franzosenfresserei‹ und ›Erbfeindschaft‹ hat es zweifellos, mal stärker, mal schwächer, ebenso gegeben wie den fanatischen Deutschenhass auf französischer Seite. Leider ließ Conze auch im weiteren Verlauf des Gespräches keinen Zweifel aufkommen, dass er das Deutsche Kaiserreich bereits in seinem Entstehungskontext als historischen Vorläufer des vermeintlich gegenwärtigen ›Dunkeldeutschland‹ betrachtet, indem sich unheilvoll dräuend schon wieder gefährliche ›nationalisierende‹ Tendenzen zeigten.
Ganz anders sah das Sir Christoffer Clark. Der australische Historiker und überragende Kenner der deutschen Zeitgeschichte, pflichtete Conze zunächst höflich bei, merkte aber deutlich seine Skepsis im Blick auf die »gynäkologische Metapher Fehlgeburt« an. Es gebe keine nationale »Normalgeburt«: »Keine Nation wird normal geboren, sondern Nationalstaaten werden fast immer durch extrem kontingente, oft sehr gewalttätige Prozesse hervorgebracht«. Beispiele dafür seien Italien (mehrere Kriege) und Nordamerika (Bürgerkrieg 1865). Zweifellos sei es »unglücklich« gewesen, »dass ein Staatswesen unter diesen Umständen« entstanden sei. Gleichwohl sei anders als durch Krieg die Einheit nach den friedlichen Versuchen (1848/49) und der preußischen Unionspolitik 1850ff. nicht zu erreichen gewesen. Genau das meinte Bismarck, wenn er in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom 30. September 1862 in der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses davon sprach, dass die »großen Fragen der Zeit« nicht »durch Reden und Majoritätsbeschlüsse« entschieden würden, »sondern durch Eisen und Blut«. Der ›Eiserne Kanzler‹ war kein Kriegstreiber, er hatte den Präventivkrieg immer abgelehnt und darauf verwiesen, dass Kriege immer nur die ultima ratio der Diplomatie sein können. Energisch behauptete er stets den Primat der Politik vor dem Militär. Was für uns nach den Erfahrungen zweier verheerender Weltkriege, anhaltender atomarer Bedrohung, fortgesetzten kriegerischen Konflikten und allgemeiner Verwerfung des Krieges als Mittel der Politik höchst verwerflich erscheinen muss, war für Bismarck und seine Zeitgenossen rationales Kalkül zur Wahrung der eigenen Interessen im Mächtekonzert.
Auch die Damen kamen noch einmal zu Wort und pflichteten Conze weitgehend zu. Das Kaiserreich erschien als das Paradebeispiel eines autoritären Obrigkeitsstaates mit »bonapartistischen« Zügen (Wehler), immerwährendem deutschen Hegemoniestreben und deutscher Va-banque Außenpolitik. Was bei ›W Zwo‹ in preußisch schnarrendem Kasinoton, anmaßenden arroganten Attitüden und imperialistischen Praktiken daherkam, das sei schon längst bei Bismarck angelegt gewesen, eine These, die mit guten Gründen zu bestreiten ist. Bismarcks Diplomatie war viel zu klug und vorsichtig, um das Ausland mit hochfahrenden Überlegenheitsposen ( W Zwos ›Daily Telegraph‹-Affäre, 1908!) und martialischer Kriegsrhetorik (›Hunnenrede‹, 1900) zu beunruhigen. Bismarck war geduldig, er konnte warten, er analysierte die jeweiligen politischen Sachlagen und Veränderungen sehr genau, er hatte nicht zuletzt eine bewundernswerte Menschenkenntnis, er konnte politische Alternativen vorausdenkend skizzieren und war bereit, den Kurs zu wechseln, wenn es ihm vernünftig erschien, oft zum Entsetzen seines Königs, seiner konservativen adligen Freunde und liberalen Kontrahenten. Der Erfolg gab ihm Recht. Im Blick auf die sozialistische Arbeiterbewegung war er gewiss ein Alarmist, der die Grundlagen der Staats- und Gesellschaftsordnung durch Anarchisten, Terroristen und eben auch Sozialdemokraten bedroht sah. Da sah er fatalerweise keine Unterschiede, genauso wenig wie er in der Lage war zu erkennen, dass es in der Sozialdemokratie einen immer stärker werdenden reformistischen Flügel gab, der Revolution unter allen Umständen vermeiden wollte (Ignaz Auer, Georg von Vollmar u.a.). Trotzdem lässt sich nicht pauschal behaupten, das Kaiserreich sei von Anbeginn bis zum Ende ein ›Polizeistaat‹ gewesen. Der Begriff suggeriert eine flächendeckende und allgegenwärtige Repression der sogenannten ›Reichsfeinde‹, was ein Zerrbild ist. Das immer wieder als Beleg zitierte Sozialistengesetz vom 18. Oktober 1878 war zeitlich auf zwei Jahre befristet. Es wurde aufgrund von Bismarcks Druck und Interventionen zwar vier Mal verlängert (1881, 1884, 1886, 1888), erlaubte aber der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ungehinderte Tätigkeit und beschränkte auch nicht die Wähler der Sozialdemokraten. Letztlich führte es zu einer deutlichen Stärkung der Sozialdemokratie. Im Jahr der Entlassung Bismarcks 1890 war die Sozialdemokratie bereits zur stimmenstärksten Partei im Kaiserreich geworden (1,5 Millionen Wähler = 20 Prozent).
Fazit
Was können wir, was sollen wir deutschen Bürger von einem solchen bundespräsidial inszenierten Gedenken lernen? Zunächst sicherlich, dass der Streit um das Kaiserreich als vermeintliche ›Vorgeschichte des Dritten Reiches‹, nicht nur unter Historikern, weitergehen wird und muss. Dabei wird es weniger um die Ausgrabung neuer Quellen und die Anhäufung weiterer zahlloser Dokumente gehen, sondern immer wieder um die Frage der Deutung und der damit verbundenen Erinnerungspolitik und der Traditionen. Zentral wird das Problem der ›Kontinuität‹ bzw. ›Diskontinuität‹ bleiben. Hier ist die Geschichtswissenschaft in erster Linie gefordert, aber nicht als einseitige Legitimationswissenschaft für politische und volkspädagogische Zwecke. Es ist schon recht dürftig und bezeichnend für den Zustand unserer Geschichtskultur, dass in unserer jetzigen politischen Lage Historikern wie Conze und seinen Adepten nicht anderes einfällt, als bei einem nationalen Gedenktag vor den Gefahren von ›Revisionismus‹ und ›Nationalismus‹ zu warnen sowie ›postnationales Denken‹, ›Verfassungspatriotismus‹ und ›Europäisierung‹ einzufordern. Das hatten wir bereits. Die Bürger sind nicht blöd. Der Nationalstaat wird, insbesondere in den Krisen der Gegenwart, der »primäre Bezugspunkt individueller Loyalität und der maßgebende Rahmen für Solidaritätsbildung« bleiben (Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 582).
Es ist den Deutschen aus Gründen, die von Legionen von Historikern beschrieben, erzählt, analysiert, seziert und im Meinungsstreit hin und her gezerrt wurden, versagt geblieben, eine Nation wie andere auch sein zu dürfen: mit Stolz auf Sprache, Herkunft und Gemeinschaftsformen, mit Stolz auf technische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Leistungen, mit Verehrung von historischen Größen in ihrer Geschichte und zugleich auch mit tiefempfundener Trauer über die Irrwege dieser Nation. Doch bis auf die Trauer und fortwährenden Selbstanklagen, ist das alles gegenwärtig politisch nicht ›korrekt‹. Mit erhobenem Zeigefinger werden wir Deutschen von Politikern, vorwiegend aus dem linksgrünen Lager, Kircheneliten, politisch korrekten Geschichtsamateuren, ›antirassistisch-antinationalistischen‹ NGOs, staatsnahen öffentlich-rechtlichen Medien, aber auch einzelnen ›Profi-Historikern‹ gewarnt, nicht dem »Mythos der Einheit« zu huldigen und das Deutsche Reich, das 1871 ins Leben trat, endlich »aus der geschichtspolitischen Vitrine der Deutschen herauszunehmen« (Tillmann Bendikowski, Der Mythos der Einheit, S. 354). Wenn die Menschen im Osten Deutschlands 1989 einem solchen Rat gefolgt wären, so würden noch heute die kommunistischen Kader einen Teil Deutschlands beherrschen. Der Einheitswunsch der Deutschen hat ihre Geschichte Jahrhunderte lang geprägt und es gibt keinen Grund zur Entsorgung der Zeit zwischen 1871 und 1918.
Der nächste Gedenktag kommt bestimmt. Wir dürfen gespannt sein, was unseren politischen Volkspädagogen und den ihnen zuarbeitenden Historikern dann einfällt.