Offener Brief an Jana Hensel

von Werner Schulz

Werte Frau Hensel,

was haben Ihnen die Bürgerrechtler nur angetan, dass Sie sich so arglistig an ihnen abarbeiten? Da Sie im tiefsten Jammerton der Enttäuschung in der ZEIT im Osten Nr. 29/2020 einen sehr persönlichen Text geschrieben haben, in dem auch ich erwähnt wurde, will ich Ihnen auch ganz persönlich darauf antworten. Von Wolfgang Leonhard kennen wir die Geschichte, wie die Revolution ihre Kinder entlässt. Sie hingegen versuchen als verlassenes Kind die Revolutionäre zu entwerten. Ich kann ja verstehen, dass Sie seit Jahren darum bemüht sind sich die Deutungshoheit über den Osten zu erschreiben. Aber dass Sie nun wie ein Oberzensor versuchen, die Bürgerrechtler in die »Guten« und die »medialen« zu zerlegen, übersteigt Ihre Kompetenz und analytischen Fähigkeiten. Völlig unerwähnt bleiben in Ihrem Artikel diejenigen, die nach rechts abgedriftet sind. Kein Wort über deren Entwicklung und Beweggründe ihrer heutigen Positionen. Ihnen geht es vielmehr darum die wenigen Prominenten, die Ihr Ostbild stören und noch Gehör finden zu delegitimieren. Wobei Ihre »Guten«, wie Friedrich Schorlemmer, wahrlich kein mediales Präsenzdefizit beklagen können. Die medialen »Damen und Herren Bürgerrechtler« sind hingegen laut Klaus Wolfram: »Moralisten, Karrieristen und Opportunisten«! Ein Urteil, das Ihnen als Nachgeborene nicht zusteht, wie Sie schreiben, das Sie aber gern aufgreifen und verwenden, um Ihren Begründungstext darum zu ranken. Nun weiß kaum jemand wer ihr Souffleur ist, der unlängst durch eine umstrittene Rede in der Akademie der Künste auf sich aufmerksam gemacht hat. Eine Rede voller Geschichtsklitterung, die der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Wesentlichen widerlegt hat.

Dennoch haben Sie Wolfram mit Ihrem unkritischen Interview in der ZEIT im Osten Nr. 19/2020 eine Möglichkeit geboten, weitere Legenden und Lebenslügen zu verbreiten. Bei sorgfältiger Vorbereitung auf das Interview und ein wenig Geschichtswissen wäre sein unwahres Narrativ nicht unhinterfragt geblieben. Ich habe Ihnen daraufhin geschrieben, dass seine Aussagen, die nachweislich falsch sind, so nicht stehen bleiben sollten und angeboten, das in einem gleich langen Interview zu klären. Darauf sind Sie nicht eingegangen. Offenbar ist es Ihnen wichtiger, dass seine unwahren Behauptungen und Denunziationen unwidersprochen in der ZEIT bleiben, denn sie passen gut in Ihr DDR-Erklärungsmuster. Doch wer ist dieser Klaus Wolfram? Hier eine Kurzvita: Philosophiestudium an der Humboldt Uni, SED-Mitglied, nach Gründung einer trotzkistischen Oppositionsgruppe Entlassung aus der Akademie der Wissenschaft, Arbeit in einem Produktionsbetrieb. Im Herbst 89 stößt er zum NEUEN FORUM, wird der Partner von Bärbel Bohley und ihr marxistischer Ratgeber. Daher sein Spitzname: ›der Kommissar‹ oder kurz ›Suslow‹, weil er mit dem Kreml Chefideologen Michael Suslow nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten aufwies. Im NEUEN FORUM übernahm er die Programmkoordination und versuchte die Bürgerbewegung auf einen dritten Weg zu lenken: einer eigenständigen DDR mit Reformsozialismus. Als dann auf der Gründungsversammlung des NEUEN FORUM seine Vorstellungen nicht durchkamen und der Antrag von Jochen Gauck mit der Option zur deutschen Einheit eine große Mehrheit fand, wollten er und Bärbel Bohley das NEUE FORUM verlassen. Schließlich haben sie das nicht getan und die Gruppe ›Aufbruch 89‹ im NEUEN FORUM gegründet. Der angebliche Basisdemokrat führte dann, in der Manier eines Linkssektierers, Geheimverhandlungen mit Gregor Gysi über eine Prominentenliste zur gesamtdeutschen Wahl. Heute spreizt er sich im politischen Glanz von Bärbel Bohley, um in pauschaler Gesellschaftskritik seine verblichenen Träume aufleben zu lassen und diffamiert zugleich all die Bürgerrechtler, die seinen kruden Ideen nicht folgen wollten.

Seine Aussagen in dem Interview mit Ihnen sind weitgehend falsch und überstehen keinen Faktencheck. Es würde zu weit gehen, hier auf alle Fake Oldies einzugehen, deswegen nur ein paar Kostproben. Wolfram behauptet, dass Bärbel Bohley die 30 Unterzeichner des Gründungsaufrufes alle persönlich eingeladen hätte und deswegen auch kein Stasi Spitzel dabei gewesen sei. Wahr ist: Die Hälfte der Teilnehmer am Wochenende des 9./10. Septembers 1989 in Grünheide kamen auf Einladung von Rolf Henrich und Erika Drees zusammen. Allein die Geschichte, wie Martin Klähn zufällig dahin geriet ist abenteuerlich. Mit Reinhardt Pumb alias IM Paule war auch ein Stasi IM dabei und Mielkes Firma bestens informiert. Wolfram behauptet es sei die Idee von Bärbel Bohley gewesen, eine allgemeine Volksaussprache zu initiieren. Wahr ist: Bärbel Bohley wollte in diesem 89-Gründungsfieber etwas Eigenes gründen, ohne »Eppelmann und die Popen und anderen aus der IFM«, wie sie sagte. Denn im März 89 gab es bereits einen Aufruf der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) zur Gründung einer Bürgerbewegung; im August ein Papier von Markus Meckel und Martin Gutzeit zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei; etliche Theologen arbeiteten seit der gefälschten Kommunalwahl an einem Programm für einen ›Demokratischen Aufbruch‹; während der Kreis um Hans-Jürgen Fischbeck, Konrad Weiß, Ulrike Poppe, Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn einen Gründungsaufruf für die Bürgerbewegung ›Demokratie Jetzt‹ verfasste. Wahr ist: Es waren der Ansatz und die Überlegung von Rolf Henrich, über die Bildung einer politischen Plattform und ihre formelle Zulassung einen demokratischen Dialog anzustoßen. Der unprätentiöse und den Nerv der Zeit treffende Text von Jens Reich wiederum war der Grund, warum der Aufruf eine so überwältigende Resonanz fand. Überraschend auch für die Protagonisten selbst, die das nächste Treffen für Anfang Dezember verabredet hatten, um mal zu sehen ob der Aufruf Zuspruch gefunden hat und wie es weiter gehen könnte. Es war keine breite Mehrheit, welche die Friedliche Revolution bewirkt hat, sondern eine oppositionelle Minderheit, die gut vernetzt und lange in verschiedenen Vorlaufaktionen auf einen demokratischen Aufbruch hingearbeitet hat und im entscheidenden Moment durch den Zustrom tausender Ausreiseantragsteller Unterstützung erhielt. Sie waren die Schwungmasse und die evangelischen Kirchen das Basislager der Friedlichen Revolution. Die Atmosphäre in den Volkseigenen Betrieben war merkwürdigerweise bis auf den VEB Steremat, in dem Wolfram zuletzt als Produktionslenker gearbeitet hat, nicht von politischer Offenheit geprägt, sondern von Unzufriedenheit und Apathie. Das änderte sich erst mit den zunehmenden Protesten im Herbst 89. Dass sich die Aufarbeitung in den ersten Jahren nach der friedlichen Revolution sehr einseitig auf die Stasi konzentrierte, ist auch Beteiligten wie Wolfram zu zuschreiben und nicht nur sensationslüsternen Westjournalisten und aufarbeitungsnachholenden 68ern. Er hat sich als Redakteur der Zeitschrift DIE ANDERE und im Basis Druck Verlag stark damit beschäftigt. Damit ist genau das eingetreten, was Hans Modrow, Markus Wolf und Genossen geplant hatten: Die Stasi wurde zum Buhmann und Blitzableiter, damit sich die Partei und ihre Funktionäre als die Hauptverantwortlichen für all die Verbrechen und den Staatsbankrott klammheimlich aus dem Staub machen konnten. Heute versuchen sie ihre katastrophalen Hinterlassenschaften als »Nachwendeschäden« und Folgen der Vereinigung und Transformation darzustellen. Die SED wurde nicht von ihren Genossen aufgelöst, wie Wolfram behauptet, sondern wegen der Rettung ihres Vermögens wurde genau das verhindert. Diese Partei, die sich heute nach mehrfacher Umbenennung als die LINKE bezeichnet, ist die Rechtsnachfolgerin der SED. Dass die DDR eine Lüge mit drei Buchstaben war, eben keine Demokratische Republik, sondern ein Dogmatisches Diktatur Regime, ist keine zeitgeistkonforme Deutung abgehobener Bürgerrechtler, wie Wolfram meint. Diese Einschätzung fußt auf umfangreichen Untersuchungen der Enquetekommission des Bundestages und Expertisen zahlreicher Wissenschaftler. Deswegen haben sich die Bürgerrechtler dafür eingesetzt, dass auf Grundlage dieser Vorarbeiten eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geschaffen wurde. Deren Arbeit könnte auch Ihren Horizont erweitern und Ihren Artikeln guttun, wenn Sie sich dort vorurteilsfrei umschauten.

Lapidar erwähnen Sie, dass Ihr Vater aus Karrieregründen in den Achtzigerjahren ein paar Jahre in der SED war. Als hätte es da Schnupperkurse gegeben. Vielleicht fragen Sie mal, wenn sich Ihr Ärger über die »medialen Bürgerrechtler« gelegt hat, ihn und seine Genossen Mitläufer inwieweit sie sich heute der Verantwortung bewusst sind und stellen, dass sie Mitglieder einer Staatspartei waren, die ihr Volk eingesperrt, unterdrückt, überwacht und politisch indoktriniert hat. Die das Land ökonomisch und ökologisch in den Ruin getrieben hat. Statt ihre Erinnerungen an das legendäre Leipziger Biermannkonzert im Dezember 1989 aufzufrischen, wäre es besser gewesen ihre Eltern zu befragen, warum sie zu seinem Rausschmiss aus der DDR und den Folgeschikanen und der Vertreibung weiterer Persönlichkeiten, die sich mit Biermann solidarisierten, geschwiegen haben. Da wäre ein interessantes und bisher journalistisch wenig bearbeitetes Recherchefeld.

Damit komme ich zur Kernthese Ihres Artikels, zu der Ihnen Wolfram als Stichwortgeber dient: Die Revolution von 1989 gehöre nicht den Bürgerrechtlern allein! Ich kenne zwar niemand, der das behauptet, aber es macht sich offenbar gut ein solches Phantom zu entwerfen, um es dann zu zerlegen. Allenfalls haben Lenin und seine revoltierenden Bolschewisten den alleinigen Besitzanspruch auf eine Revolution bzw. Umsturz erhoben. Ganz im Gegenteil, von vielen Bürgerrechtlern, auch von mir, ist immer wieder der mittlerweile eingebürgerte Satz zu hören, dass die Ostdeutschen stolz sein können auf die Friedliche Revolution. Die erste, die in Deutschland überhaupt geklappt hat und bei der außer Kerzenwachs kein Blut geflossen ist. Die Ostdeutschen haben nicht nur marode Betriebe, runter gekommene Altbauten, eine dürftige Infrastruktur und einen Keller voller Stasiakten in die Einheit eingebracht, sondern auch ihre in der Mangelgesellschaft erworbene Improvisationsfähigkeit und große Veränderungsbereitschaft. Ihre komplette Lebensumstellung und ihre Leistungen in den letzten 30 Jahren sind enorm. Da gibt es keine Wende zu vollenden, wie die AfD in Anlehnung an den Begriff von Egon Krenz suggeriert. Auch sind sie keine Bürger 2. Klasse. Denn mit der Friedlichen Revolution wurden die unveräußerlichen Bürgerrechte für alle errungen. Gewiss waren nicht alle daran beteiligt. Nicht nur Ihr Vater ist zu Hause geblieben. Manche sind sogar gegen ihren Willen befreit worden, die noch heute oder neuerdings durch ihr ideologisches Denkgebäude irren. Durch den Anstoß der Bürgerrechtler ist einer kritischen Masse empörter und endlich selbstermächtigter Bürgerinnen und Bürger, aus eigener Kraft die Selbstbefreiung und Errichtung einer Demokratie gelungen. Die Impulse und die Initialzündung kamen unbestritten aus der DDR-Opposition. Auch diese Revolution hatte mit etlichen Ereignissen ihren ›Vormärz‹. Denn welcher plötzlichen Eingebung ist Ihre Mutter gefolgt, das übliche Zettelfalten zur Kommunalwahl im Mai 1989 sein zu lassen, und wenn sie es denn gemacht hat, jeden einzelnen Namen auf der Liste der Nationalen Front durchzustreichen? Genau dazu haben die Oppositionsgruppen vorher wochenlang Aufklärung betrieben und zur Ermutigung aufgerufen.

Die wichtigste Verstärkung bekamen die Bürgerrechtler von den vielen Ausreiseantragstellern. Das waren vor allem junge Menschen, die keine Perspektive mehr sahen, welche die DDR unter allen Umständen verlassen wollten und zur Erkennung weiße Fähnchen an ihre Autoantennen oder Kleidung geheftet hatten und Gehör in Kirchenkreisen fanden. Gemeinsam mit den Bürgerrechtlern und dem dissonanten Rufen: »Wir bleiben hier« / »Wir wollen raus« sind sie auf die Straße gegangen. Unterstützt von Familienangehörigen der bereits Geflohenen, die den zynischen Honecker Satz, dass man ihnen »keine Träne nachweint«, nicht ertragen konnten. Die damit rechnen mussten ihre Lieben sobald nicht wiederzusehen. Das war keine »Bewegung, welche die Trennung zwischen Opposition und Normalbürgern aufhob und dadurch die Verhältnisse zum Umsturz brachte«. Der Normalbürger, wer immer das ist, war eher daran gewöhnt, dass alles seinen sozialistischen Gang geht. Doch diese Ausreiser, diese Totalverweigerer der DDR kommen in Ihrem Artikel mit keiner Silbe vor. Stattdessen haben Sie im Nachhinein ein »progressives Milieu jenseits der DDR-Opposition« entdeckt, »das seit spätestens der Mitte der Achtzigerjahre ihren Wunsch auf Veränderung, auf einen Wandel immer stärker zu artikulieren bereit war«. Wer hat Ihnen das nur eingeredet? Der Marxismusdozent Wolfgang Engler von der Schauspielschule Ernst Busch, der wie einige seiner subalternen Genossen auf Gorbatschow gehofft und missmutig das Sputnikverbot und den Kurswechsel seiner Partei ertragen hat? Wie die Parole »von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« durch das Thälmannwort »Hände weg von Sowjetrussland« ersetzt wurde. Wo hatte sich dieses »progressive Milieu« nur so lange versteckt, das für mich nicht wahrnehmbar war und für das Sie heute die Beteiligung an der Friedlichen Revolution einfordern?

Ausgangspunkt der Protestdemonstrationen in all den Städten und Gemeinden der DDR waren überwiegend die Kirchen. Nie Rat-, Club-, oder Kulturhäuser, Gewerkschafts- oder Parteigebäude. Auch keine Universitäten und Betriebe. Von den Friedensgebeten und Fürbittandachten, die sich oft zu Bürgerforen ausweiteten, ging es direkt auf die Straße. Mit einer Mischung aus entschlossenem Ernst, protestantischem Gestus und geradezu entwaffnender Vernunft und Disziplin, welche die Aggressionsgefahr gebannt hat. Der bahnbrechende Ruf: »Keine Gewalt« – der sich von Leipzig wie eine Losung im ganzen Land ausbreitete, war und ist die prägnante Zusammenfassung der Bergpredigt, der revolutionärsten Stelle im Evangelium. Diese im Kern auch protestantische Revolution hat der Leipziger Religionssoziologe Detlef Pollack leider nicht erkannt. In einer Art von Schicksalsneid nicht dabei gewesen zu sein hat er in einem Beitrag in der FAZ den Bürgerrechtlern abgesprochen die Friedliche Revolution bewirkt zu haben. Abgesehen davon, dass er mit drei gleichlangen Beiträgen: Behauptung, Verteidigung, und Relativierung zu Wort kam, war das ein spannender Diskurs, der auch dem Widerspruch angemessen Raum gab. Daran könnte sich die ZEIT im Osten eine Scheibe abschneiden, die auf lange Redaktionsbeiträge nur kurze Wortmeldungen von acht Bürgerrechtlern zuließ und damit ein Übergewicht der eigenen Argumentation in Richtung einer Meinungsdiktatur Vorschub leistet. Oder will man dem Vorbild des früheren Chefredakteurs Theo Sommer folgen und erneut ein geschöntes Bild über die DDR verbreiten? Der bei seiner »Reise ins andere Deutschland« mehr Positives erkennen konnte als seine Bewohner.

Mag sein, dass die Träume der jungen Jana auf dem Teppichboden ihres Kinderzimmers sich als unrealistisch erwiesen. Doch die erwachsene Hensel könnte zumindest glücklich darüber sein, dass ihr die Bürgerrechtler den Weg in die Freiheit und eine freie Entwicklung eröffnet haben. Stattdessen sieht man sie seit Jahren mit posttraumatisch saurer Mine über die Verwerfungen und Verluste des Ostens, als hätte man ihr völlig unvermittelt das Pioniertuch vom Hals gerissen. Aber seien Sie getrost, auch ich bin enttäuscht. Nicht nur von Ihnen. Meine Enttäuschung begann schon mit der krachend verlorenen Volkskammerwahl. Für die es eigene Fehler und diverse andere Gründe gibt. Das ging weiter damit, dass der Verfassungsentwurf des Runden Tisches keine Chance bekam und schließlich ein Bauch über Kopf Beitritt zum Grundgesetz gewählt wurde und keine Volksabstimmung für eine gemeinsame Verfassung zustande kam. Aber den ›medialen Bürgerrechtlern‹ von der hohen Warte einer westdeutschen Wochenzeitung vorzuwerfen, dass sie sich auf die Siegertribüne gestellt und den Osten vergessen haben ist schon infam. Ich weiß nicht wo Sie die Zeit verbracht oder geschlafen haben? Aber offenbar sind Ihnen wesentliche Leistungen und Initiativen der ›medialen Bürgerrechtler‹ entgangen. Zum Beispiel das Kommunalvermögensgesetz, das den Gemeinden im Osten Rückhalt gibt. Oder die Aufnahme sowjetischer Juden. Das einzige Einwanderungsgesetz das es bisher im Vereinten Deutschland gab. Oder das Treuhandkonzept und -gesetz, das die Vermögensverteilung und die Sanierung/ Modernisierung weitgehend intakter volkseigenen Betriebe vorsah. Oder der Minderheitenbericht aus dem Treuhanduntersuchungsausschuss, der heute Grundlage für viele Buchautoren und Filme ist. Oder der jährliche Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, den die Bürgerrechtler eingefordert haben. Oder der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, der auf Vorschlag der Bürgerrechtler unter der rot-grünen Koalition geschaffen wurde. Und Vieles mehr.

Ihr Lamento über fehlende überregionale einflussreiche Ostmedien übersieht das diese Versuche grandios gescheitert sind. Paradebeispiel ›Wochenpost‹, deren gleichlautender Anspruch auf mangelndes Interesse und schwindende Abonnenten traf. Übrig geblieben sind der Freitag, das Neues Deutschland und die Junge Welt, die das abdecken, was Sie so sehnlichst vermissen und in die ZEIT im Osten tragen. Auch sollten Sie die in der DDR aufgewachsenen Journalisten nicht ausblenden, die ihre Herkunft nicht vergessen haben und sich in den Leitmedien des Landes mit gesamtdeutschen Themen und Problemen beschäftigen. Ich reiche gern eine lange Namensliste nach.

Eine Frage noch, bevor ich Ihre Fragen beantworte. Wieso übernehme ich die westdeutsche Perspektive und reproduziere ihre Vorurteile, wenn ich Jochen Gauck zustimme, dass wir in dem besten Deutschland leben, das es bisher gab? Ist das falsch? Kennen Sie ein besseres? Dass müssen Sie mir schon genauer erklären.

Doch nun zu Ihren Fragen:
Müssen sich die ›medialen Bürgerrechtler‹ ihrer zweifellos großen historischen Rolle noch heute selbst vergewissern?
Eindeutig Nein, denn die kann uns keiner nehmen, auch wenn Sie sich die Finger dahingehend wund schreiben.

Glauben sie daran, dass man die Ostdeutschen weiterbringt, indem man sie schonungslos mit ihren Defiziten konfrontiert?
In der Wahrheit zu leben, wie uns Václav Havel mit auf den Weg gegeben hat, bedeutet, dass man auch die Ostdeutschen nicht vor Tatsachen bewahren kann. Nur im Benennen und Erkennen der Defizite wachsen auch die Kräfte, sie zu überwinden.

Oder genießen sie die Aufmerksamkeit der westdeutschen Öffentlichkeit einfach so sehr?
Die Aufmerksamkeit der westdeutschen Öffentlichkeit für die ›medialen Bürgerrechtler‹ hält sich in Grenzen und ist durchaus nicht immer ein Genuss.

Ich habe lange gezögert Ihnen diesen Brief zu schreiben. Viele haben mir abgeraten. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass ich Ihren provokant dahin geschriebenen Artikel eher aufwerte, als dass mein Widerspruch zu Nachdenklichkeit führt. Doch irgendwie bin ich auch gespannt, ob es noch Fairness gibt und Sie sich dafür einsetzen, dass dieser Brief veröffentlicht wird oder ob Sie eher für eine Enttäuschung sorgen.

Viele Grüße
Werner Schulz

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