– ein unabhängiger Linkssozialismus im geteilten Deutschland
von Peter Brandt
Der Ost-West-Konflikt während der viereinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere in der Phase des offenen Kalten Krieges zwischen den späten 40er und den frühen 60er Jahren, hatte die Tendenz, sich alle politischen und sozialen Konflikte unter- bzw. zuzuordnen, auch wenn sie eigentlich gar nicht in das Schema der Blockkonfrontation passten.
Die bestehenden Systeme – von denen eine Vormacht den Anspruch erhob, für die Freiheit in der Welt zuständig zu sein, die andere sich zuständig für sozialen Fortschritt erklärte – und ihre bedingungslosen Anhänger waren stets schnell dabei, innere Opposition, vor allem wenn sie grundsätzlicher Art war, der ›anderen Seite‹ zuzuordnen. Dieses Deutungsschemas bediente man sich im Ostblock plumper als im westlichen Block, und die Konsequenzen waren weit unangenehmer für die Kritiker des Poststalinismus im Osten als für Antikapitalisten und Radikaldemokraten im Westen (jedenfalls in der nördlichen Hemisphäre), doch die Logik war die gleiche. ›Objektiv‹, so hieß es, nutze der Widerspruch gegen die jeweils kanonisierten Glaubenssätze nur dem Gegner im Systemkonflikt. Während die Existenz eines vermeintlich sozialistischen Kontrahenten in den kapitalistischen Ländern die materiellen und sozialpolitischen Zugeständnisse an die breiten Massen (und damit die gemäßigten Gewerkschaften sowie teilweise auch die Sozialdemokratie) zweifellos begünstigte, trug die Anschauung der im Wettbewerb mit dem Westen materiell zurück bleibenden, jede unabhängige Regung unterdrückende Diktatur der Nomenklatura im Osten zur Marginalisierung unabhängiger Bestrebungen auf beiden Seiten der Konfrontationslinie der Blöcke bei.
Besonders offenkundig war dieser Mechanismus in Deutschland, dessen staatliche Teilung anfangs von allen politischen Formationen nur als eine vorläufige verstanden werden konnte. Die Teilung verschaffte in beiden Fragmenten Kräften Vorrang, die unter anderen Umständen sicher bzw. wahrscheinlich in der Minderheit geblieben wären: den sowjetorientierten Kommunisten um Walter Ulbricht einerseits, dem katholisch geführten, westorientierten Flügel des bürgerlichen Lagers um Konrad Adenauer anderseits. Leidtragend war in beiden Staaten die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, deren Potenzial teils durch die Zwangsfusion mit der KPD, teils durch die Abtrennung der alten Hochburgen östlich der Elbe gewissermaßen neutralisiert wurde.
Nach der – wie plausibel auch immer begründeten – Akzeptierung der gesellschaftspolitischen wie der außen- und sicherheitspolitischen Weichenstellungen der ersten beiden Regierungen Adenauer durch die SPD 1959/60 wären Vertreter der früheren sozialdemokratischen Grundpositionen heimatlos geworden, hätte es nicht den SPD-nahen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gegeben, der in den Jahren des sich seit 1964/65 abzeichnenden Wiederanwachsens radikal-oppositioneller Strömungen in Westdeutschland (und West-Berlin) zum Kristallisationspunkt einer »Neuen Linken« zwischen (oder besser: neben) Parteikommunismus und weitgehend integrierter Sozialdemokratie wurde, eine Entwicklung, die auch international zu beobachten war.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, sind einzelne Zeithistoriker und Journalisten seit den 90er Jahren eifrig bemüht, die Protestbewegungen und die Fundamentalopposition in der Bundesrepublik seit den 50er Jahren als nicht nur objektiv den Interessen der SED dienend, sondern auch von Agenten des DDR-Staatssicherheitsdienstes angeleitet, zumindest in hohem Maß beeinflusst darzustellen. Politisch handelt es sich darum, die Legitimität kapitalismuskritischer Positionen prinzipiell in Frage zu stellen. Das Beweismaterial für die behauptete Fernsteuerung ist in den zentralen Punkten alles andere als überzeugend. Gewiss gab es solche Versuche, und bestimmte Sektoren der westdeutschen Linken gerieten wiederholt unter direkten oder indirekten SED-Einfluss. Pauschal gilt das keineswegs, und es gilt am wenigsten für die linkssozialistische Haupttendenz des SDS in den späten 50er und frühen 60er Jahren sowie für dessen (schließlich mehrheitlichen) antiautoritären Flügel in den mittleren und späten 60er Jahren.
Das ist eines der Ergebnisse der 2011 erschienenen Untersuchung von
Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker: Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links. Eine deutschlandpolitische Streitschrift mit Dokumenten von Michael Mauke bis Rudi Dutschke. Mit einem Vorwort aus östlicher Sicht von Rolf Schneider und einem Vorwort aus westlicher Sicht von Christian Semler, Essen (Klartext-Verlag) 2011, 318 Seiten.
Obwohl der legendäre Rudi Dutschke zu Recht einen prominenten Platz einnimmt, behandelt das Buch der beiden Experten – aus ihrer Feder stammen mehrere einschlägige Werke – die gesamte Wirkungszeit des Verbandes seit seiner Gründung 1946. Vorsitzender war damals Helmut Schmidt.
Als besonders fruchtbar für das Verständnis der Entwicklung des SDS erweist sich erneut das Konzept unterschiedlicher, durch die jeweiligen Lebenserfahrungen geprägter Generationen. Ohne die generationsspezifischen Erfahrungen bleiben (nicht nur in diesem Fall) die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen unwirklich abgehoben, ihre Nachzeichnung im schlechten Sinne idealistisch.
Fichters und Lönnendonkers Darstellung wird ergänzt um einen mehr als die Hälfte umfassenden, nicht nur instruktiven, sondern auch eigene Studien anregenden Dokumententeil, der dem Leser bis zu einem bestimmten Grad ermöglicht, die Interpretation der Autoren selbst zu überprüfen. Er beginnt mit einer Stellungnahme der SDS-Zeitschrift Unser Standpunkt vom Juli 1953 zum vorangegangenen Arbeiteraufstand vom 17. Juni in der DDR: Die gerechte Sache wird siegen, und endet mit zwei als Erwiderungen geschriebenen Artikeln der beteiligten Zeitzeugen Jürgen Seifert und Urs Müller-Plantenberg aus den Jahren 1998 und 2009, dazwischen 20 thematisch einschlägige Resolutionen, Positionspapiere, Reden und Interviews aus und zu der untersuchten Zeit, überwiegend mit Quellencharakter. Darunter befindet sich der Auszug des Protokolls einer zum 30. Jahrestag der doppeldeutschen Staatsgründung 1979 stattgefundenen Diskussionsveranstaltung, an der u.a. Egon Bahr, Rudi Dutschke, Tilman Fichter und Peter Glotz beteiligt waren.
Die Autoren nennen den selbst verfassten Teil im zweiten Untertitel eine »deutschlandpolitische Streitschrift«. Diese Bezeichnung passt nur bedingt. Es handelt sich um eine in der Deutung bewusst zugespitzte und in geschichtspolitischer Absicht verfasste zeithistorische Abhandlung, die ausgesprochen meinungsfreudig daher kommt. Die einzelnen Handlungen und Stellungnahmen der Akteure der Geschichtserzählung werden nicht nur im Sinne eines (meist plausiblen) analytischen Sachurteils, sondern häufig auch politisch wertend kommentiert. Es ist aber stets erkennbar, auf welcher Ebene die Urteile angesiedelt sind, so dass die Darstellung auch für Leser Gewinn bringt, die den Wertungen nicht folgen möchten. Zudem trägt das skizzierte, gewissermaßen als intensive Ansprache des Lesers zu verstehende, manchmal gewöhnungsbedürftige Kommentierungsverfahren zur Lebendigkeit des ausgesprochen gut lesbaren Werkes bei.
Eine wertvolle Ergänzung und historisch-politische Einordnung liefern die beiden Vorworte von Rolf Schneider, dem SED-kritischen Schriftsteller aus der DDR, und Christian Semler, dem SDS-Aktivisten, dem Funktionär einer maoistischen Gruppierung und späteren unabhängigen linken Journalisten; beide gehörten in der Periode der betonierten Zweistaatlichkeit zu denjenigen, die ein ausgeprägtes Gespür für die andauernde potentielle Brisanz der »deutschen Frage« entwickelt hatten. Auch in diesen Vorworten spiegelt sich die Leidenschaft, die das Thema seit jeher begleitet und die die Hauptverfasser Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker umtreibt. Sie artikulieren, was sie seit jeher vertreten haben: dass sich die deutsche Linke (in des Wortes denkbar weitester Bedeutung) auf äußerst dünnem Eis bewegt, solange sie nicht zu einer realistischen, durchaus kritisch-selbstkritischen, doch nicht allein negativen Einstellung zu Volk und Nation, namentlich zur deutschen Einheit, (zurück)findet. Eine solche Position als »deutschnational« oder »nationalistisch« zu bezeichnen, wie es heute bisweilen geschieht, ist schlicht abwegig.
Anders als es eine zählebige Mär wissen will, war internationales Denken und Empfinden in der Geschichte der Arbeiterbewegung bzw. der Linken nicht mit einer anti- oder anationalen Haltung identisch – das gilt übrigens auch für den kommunistischen Zweig –, zumal wenn ein so unübersehbares nationales Problem existierte wie im Nachkriegsdeutschland die staatliche und gesellschaftliche Spaltung des Landes. Es handelte sich vielmehr darum, Problemstellungen und Lösungsansätze zu artikulieren, die die Aufhebung der Teilung mit dem humanitären, friedenspolitischen und sozialemanzipatorischen Zielhorizont verband. In den 50er Jahren zogen SPD und SDS diesbezüglich noch an einem Strang: im Widerstand gegen die beiderseitige militärische Pakteinbindung von BRD und DDR sowie die Atombewaffnung der Bundeswehr und die Stationierung von amerikanischen Atomwaffen auf westdeutschem Territorium bzw. bei der Forderung nach Schaffung einer militärisch verdünnten und paktfreien Zone in Mitteleuropa.
Anders in den 60er Jahren, nach der Trennung von SPD und SDS, endgültig verbrieft im Unvereinbarkeitsbeschluss vom November 1961, als der Studentenbund, zunächst an alten Positionen festhaltend, wie sie noch im sozialdemokratischen Deutschlandplan vom 18. März 1959 niedergelegt worden waren, nach und nach ganz eigene Standpunkte erarbeitete, die Partei hingegen, in der gesellschaftspolitischen Programmatik eine eher sozial-liberale Richtung einschlagend, nach dem Mauerbau (13.08.1961) sukzessive einen neuen Ost- und deutschlandpolitischen Ansatz konzipierte und in Berlin erprobte. Dieser ging vom Status quo der Teilung und der westlich-östlichen Pakteinbindung aus, um in einem längeren Entspannungsprozess »mit vielen Schritten und vielen Stationen« (Egon Bahr 1963 in Bad Tutzing) eines Tages zur Überwindung dieser Situation und der damit verbundenen Feindbildblockade zu kommen. Als sich ab Mitte der 60er Jahre die Konturen einer linken Außerparlamentarischen Opposition (APO) mit »antiautoritärer« Stoßrichtung in der Bundesrepublik und namentlich in West-Berlin abzeichneten, als deren vielleicht wichtigster Protagonist sich der aus der DDR geflohene Rudi Dutschke profilierte, geriet diese bis Ende des Jahrzehnts Einfluss auf wohl die Mehrheit der Studierenden und beträchtliche Teile der Gymnasiasten und Lehrlinge gewinnende, in eine Art Jugendrevolte mündende antiautoritäre Bewegung naturgemäß in Gegensatz zu der auf die Große Koalition der Jahre 1966-69 zielende Gemeinsamkeitsstrategie der SPD, die der innenpolitischen Polarisierung der frühen 70er Jahre vorausging.
Wie die sozialdemokratischen Vordenker der Neuen Ostpolitik waren auch Dutschke und seine engeren Gefährten davon überzeugt, dass die deutsche Frage durch die Zweistaatlichkeit und das der Selbsterhaltung dienende Arrangement der Supermächte in Europa nach der Kuba-Krise vom Herbst 1962 nicht gelöst, sondern nur entschärft und quasi auf Eis gelegt sei. Die SPD-Ostpolitiker waren zwangsläufig auf eine schrittweise Erleichterung der gegebenen Verhältnisse auf dem Verhandlungsweg verwiesen, wobei die Machtinteressen aller Beteiligten berücksichtigt werden mussten. Die beide Systeme ablehnende Fundamentalopposition des antiautoritären SDS entwickelte einen scharfen kritischen Blick für die Staatsfixierung und die diplomatische Befangenheit der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik, befand sich indessen in der komfortablen Position, ihr keine konkreten Vorschläge für Regierungs- und Parteihandeln entgegensetzen zu müssen. Die »große Verweigerungsrevolution« (Rudi Dutschke) würde, so meinte man, ohnehin andere Wege gehen.
Als Egon Bahr und Rudi Dutschke rund ein Jahrzehnt später öffentlich direkt miteinander diskutierten (Dok. 20, S. 246-275 des Buches von Fichter/Lönnendonker), verstanden sie sich wechselseitig einfach nicht. Dutschke setzte weiterhin auf Basisbewegungen beiderseits der Blockgrenze. Es ging ihm darum, dass diese sich positiv und bewusst aufeinander bezögen, sich im Kampf um radikale Demokratisierung und soziale Emanzipation als Verbündete begreifen sollten, statt dem Ost-West-Reflex (der Feind meines Feindes ist mein Freund) zu folgen. Staatliche Politik und Politik von Großorganisationen, die die erstrebte Annäherung von unten (in Deutschland fast automatisch die nationale Frage aktualisierend) tatsächlich oder vermeintlich behinderten, stießen auf Vorbehalte, Kritik oder offene Ablehnung.
Egon Bahr, dem es nicht zuletzt stets um die dauerhafte Beseitigung der Kriegsgefahr als Vorbedingung eines jeden konstruktiven Handels ging, dachte in Anbetracht dessen Politik in der Tat von oben her und sah in unkontrollierten, unberechenbaren Massenbewegungen, namentlich im östlichen Europa, vor allem die Risiken. Für ihn führte der Weg zur Quasi-Sozialdemokratisierung des Ostblocks und zur Einheit Deutschlands über die immer engere Verzahnung beider Paktsysteme und in ihrer Mitte insbesondere beider deutschen Staaten, wobei er die gedankliche Konsequenz nicht scheute, dass auf diesem langen Weg eine Liberalisierung der DDR zunächst deren innere und äußere Stabilisierung voraussetze.
Nun lässt sich nicht übersehen, dass sich große Teile des linkssozialistischen, sozialdemokratischen und linksliberalen Spektrums in der Bundesrepublik (West) im Verlauf der 60er, dann vor allem der 70er und 80er Jahre von einer gesamtdeutschen Orientierung gleich welcher Art entfernten und/oder (das musste nicht Hand in Hand gehen) die Ordnung des »real existierenden Sozialismus« in Mittel- und Osteuropa als unveränderbares, wenn nicht sogar historisch progressives Faktum ansahen, dessen Gestaltung die West-Linke nichts anginge. Dieser Trend, dessen gesellschaftliche und politische Gründe vielfältig waren, machte dezidierte Gesamtdeutsche zu Vertretern einer Minderheit, wenn auch die Friedensbewegung und die Stationierungsdebatte der frühen 80er Jahre (»Nachrüstung«) manche Problemstellungen der 50er Jahre und damit auch die nationale Frage indirekt reaktivierte.
In der Funktionärsschicht der SPD wie in der breiten Mitgliedschaft war das Verständnis sowohl für die sozialemanzipatorische Substanz eines Ansatzes der Entspannung von unten und einer Status-quo-Überwindung durch dialektische Konvergenz als auch – andererseits – einer langfristigen und graduellen Umgestaltung der Blockarchitektur Europas, mit der deutschen Teilung als Scharnier, vermittels der Fortführung und Weiterentwicklung der herkömmlichen Entspannungspolitik Ende der 80er Jahre nur noch schwach ausgeprägt. Insofern besteht auch nach Fichters/Lönnendonkers Schrift weiterhin Bedarf an kritischer Analyse und selbstkritischer Reflexion des Zustands der Sozialdemokratie bzw. der Linken während des Umbruchs 1989/90.
Umso wichtiger ist es, der Denunziationsmaschinerie Contra zu geben, die, nicht enden wollend, darauf ausgerichtet ist, diejenigen politischen Kräfte, indem sie mit der SED in Verbindung gebracht werden, zu entlegitimieren, die jüngst endlich dabei voran zu kommen scheinen, den im Zeichen des Neoliberalismus dominierenden abstrakten Freiheitsdiskurs mit der Wiederauflebung eines sozialen Diskurses herauszufordern.
Siehe ergänzend: Dieter Groth/Peter Brandt, »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992.
Leicht geänderte Fassung auch in: Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte 7/8 2012, S. 101-105.