Der Ukrainekrieg – eine Dissidentensicht

von Max Ludwig

Der Globkult-Autor Helmut Roewer hat dieser Tage eine originelle Kombination aus essayistischer Analyse und Tagebuch vorgelegt – zum seit nunmehr bereits über 900 Tage währenden Ukraine-Krieg. Das Buch besteht aus einem längeren Aufsatz zu den historischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen des Krieges, seiner unmittelbaren Vorgeschichte, seinem Verlauf und seinen Konsequenzen auf knapp siebzig Seiten. Dann folgen 250 Seiten des öffentlichen, im Netz geführten Tagebuchs des Autors, der sich manchmal täglich, dann wieder sporadisch zu den Ereignissen im Osten Europas äußert. Gemeinsam haben beide Teile den lässig-polemischen, oftmals amüsierten Duktus, der gewissermaßen cool und distanziert über den euphorisch-angstbesetzten ambivalenten Geisteszustand des westlichen Kollektivs schreibt, wobei manchmal etwas Wehmut über den Zustand des Landes durchschimmert, dem der Autor als junger Mensch als Soldat und dann später als verbeamteter Jurist und Inlandsgeheimdienstler auf Landesebene gedient hat.

Um es gleich vorwegzunehmen: Roewer ist das, was meine Kinder einen ›Checker‹ nennen. Er durchschaut die Machtkonstellationen hinter den Propagandafassaden, die mit viel Mühe ständig gepflegt und umdirigiert werden müssen, wenn sich die bisherigen Botschaften nicht mehr verkaufen lassen, weil sie für jeden sichtbar von der Realität widerlegt werden. Roewer ist überzeugt davon, dass die Regierung in enger Abstimmung mit dem Capitol Hill, der Machtzentrale der US-Plutokraten (die Roewer Oligarchen nennt) ihr Land zerstört. Dabei spiele auch der offene Ukraine-Krieg eine Rolle.

Sprachlich teils polemisch, teils nonchalant, argumentiert der Autor in der Sache äußerst umsichtig und systematisch; der im strukturierten Denken geschulte staatstragende Jurist schimmert durch. Zunächst geht er auf die historisch-kulturellen Ursachen des Krieges ein, indem er die geopolitischen Zusammenhänge seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schildert. Die Vereinigten Staaten wurden, so Roewer, damals zum Welthegemon und begannen damit, über von ihnen finanziell kontrollierte Oligarchen – dem Modell der Nachkriegszeit am Persischen Golf folgend – die Gewinne aus der Ausbeutung der riesigen Bodenschätze Russlands abzuschöpfen. Deswegen habe der nach dem Ende des kalten Krieges pausierte Konflikt mit Russland nach gut zehn Jahren neue Fahrt aufgenommen, nachdem Putin diese aus russischer Sicht unerträgliche ökonomische Blutung ab 1999 gestoppt hatte. Roewer weist darauf hin, dass die USA bereits 2002 mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland reagierten, eine Tatsache, die oft vergessen wird.

Gleichzeitig sei das Land durch den Bruch der der russischen Führung bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zum Status Deutschlands gegenüber gemachten Versprechungen, auf eine NATO-Erweiterung zu verzichten, militärisch wie durch ein Hufeisen umzingelt worden, ein Prozess, der nun mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens seine Vollendung gefunden habe. Sodann blickt Roewer auf den eigentlichen Kriegsschauplatz, Ukraine. Dort führten die USA mit dem Ziel, die Ukraine langfristig in ihre Imperialsphäre einzugliedern, mit Hilfe von CIA, den NGOs des State Departments und einschlägigen Partnerinstitutionen des Vereinigten Königreichs zwei Farbrevolutionen durch: 2004 die orangene Revolution, die es den US-Plutokraten ermöglichte, die wesentlichen landwirtschaftlich nutzbaren Böden und Bodenschätze unter ihre Kontrolle zu bringen, 2014 die Farbrevolution zur Ablösung des pro-russischen Präsidenten Janukowytsch, der durch den westlich orientierten Poroschenko ersetzt wurde. Poroschenko kündigte den Pachtvertrag über den Schwarzmeerhafen Sewastopol, was den Russen den Zugang zum Meer versperrte. Daraufhin annektierte Russland – im Einverständnis mit der dortigen Bevölkerung, wie Roewer hervorhebt – die Krim. Die ukrainischen Truppen fielen von der Ukraine ab und schlossen sich Russland an; da Russland für diese Annexion kaum Truppen benötigte, war dies ein echter Abfall. Dies ist ein historisch oft zu beobachtendes Muster, das modernen Betrachtern der Nachkriegsordnung allerdings fremd geworden ist.

Sodann erläutert Roewer die Ereignisse im Donbass: die Unterdrückung der dortigen russischsprachigen Bevölkerung und deren Abspaltungsbewegung. Man muss sich klar machen, dass dort seit 2014 die Waffen sprechen und viele tausende Zivilisten getötet worden sind. Wie Roewer zeigt, waren die Minsk-I- und -II-Verträge, deren Garantiemächte Deutschland und Frankreich waren, lediglich Vorwände, um den USA Zeit zu geben, die Ukraine gegen Russland aufzurüsten, was Merkel im Herbst 2022 offen zum Ausdruck brachte. Der Autor zeigt auf, wie der Westen Russland immer weiter provozierte und auf immer intensivere Verhandlungsangebote nicht einging, bis Russland im Februar 2002 schließlich angriff: Ein klassischer Fall der Fortsetzung von Politik mit kriegerischen Mitteln (Clausewitz), der es dem Westen ermöglichte, eine intensive Propagandakampagne zu beginnen, um Russland die alleinige Schuld am Krieg zuzuweisen. Es folgt bei Roewer eine Chronik der Kriegsereignisse inklusive einer Bewertung des Butscha-Massakers und der britischen Zerschlagung der von der Türkei vermittelten Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022, deren Erfolg wohl eine Millionen Soldaten vor Tod oder Verstümmelung bewahrt sowie Millionen Menschen das Flüchtlingsdasein und der Ukraine eine Zerstörung ihrer Infrastruktur und den Verlust bedeutender Territorien erspart hätte. Zu den Stärken des Aufsatzes zählt die Beschreibung der bedeutenden Sabotagehandlungen des Westens, unter denen die von den USA angekündigte, geplante und durchgeführte Sprengung der Nordstream-Pipeline besonders hervorsticht.

Was sind die Kriegsziele beider Parteien? Aus Roewers Sicht geht es den USA um die Kontrolle über Bodenschätze und landwirtschaftliche Flächen, den Zugang zum Schwarzen Meer und die Schwächung Russlands bis zum Regimewechsel und der Einsetzung einer US-freundlichen Regierung. Außerdem wird eine Stärkung der NATO und die permanente Verausgabung öffentlicher Mittel für den militärisch-industriellen Komplex angestrebt, der sich in fester Hand der US-Plutokraten befindet, die die staatlichen Institutionen des Capitol Hill kontrollieren. Russland gehe es ebenfalls um Bodenschätze und die geostrategische Kontrolle seiner Umgebung (cordon sanitaire), aber auch um den Schutz der eigenen nationalistischen Interessen und den Erhalt der territorialen Integrität. Die Integration russischsprachiger Bevölkerungsanteile der Ukraine in die RF wird als Nebenmotiv gewertet. Die in der Öffentlichkeit gemachten anderslautenden Angaben beider Seiten betrachtet Roewer als Propaganda. Weder werde in der Ukraine die Freiheit verteidigt noch gehe es Russland in erster Linie um das Selbstbestimmungsrecht der ethnischen Russen in der Ukraine. Den absurdesten Aspekt westlicher Propaganda benennt der Autor in klaren Worten: Wie kann ein Staat, der angeblich so schwach ist, dass er noch nicht einmal die Armee eines Landes besiegen kann, das mittlerweile fast zehnmal weniger Einwohner als Russland und kaum noch ein nennenswertes Steueraufkommen hat, aber vollkommen überschuldet ist, gleichzeitig kurz davor stehen, Polen und Deutschland anzugreifen?

Kenntnisreich erläutert Roewer, warum die westlichen Sanktionen Russland nicht geschadet hätten, enthält sich im weiteren aber einer Bilanzierung der Verluste oder der militärischen Materialquantität und -qualität beider Seiten, da es hierzu keine verlässlichen öffentlich verfügbare Daten gebe. Er macht aber klar, dass aus Sicht der USA nur ein Teil der Kriegsziele erreicht wurde, nämlich die Beauftragung der US-Rüstungsindustrie sowie die Erweiterung der NATO, auf die er nicht im Detail eingeht. Auch zum absehbaren Kriegsende äußert er sich nicht. Er macht allerdings klar, dass das westliche Kriegsziel einer Rückeroberung der an Russland verlorenen Gebiete ausgeschlossen werden kann.

Was fehlt in seiner Analyse? Wahrscheinlich lediglich eine klare Erklärung dessen, was Barbara Tuchman einmal als ›The March of Folly‹ (›Die Torheit der Regierenden‹) bezeichnet hat, nämlich das politische Handeln gegen die eigenen Interessen. Offenbar sind die Neocons und Plutokraten in den USA von der Realität entkoppelt und verfolgen wie einst die Renaissancepäpste eine derart kurzfristige Interessenpolitik, dass sie mittelfristig einen massiven Machtverlust erleiden werden.

Stattdessen liefert Roewer eine bedenkenswerte Analyse des Krieges der USA gegen Deutschland, nach der Ukraine der zweitwichtigste Verlierer des Krieges. Er zeigt, wie unsere politischen Eliten mit den USA kolludieren, um unser Land zu zerstören. Am Ende des ersten Teils steht aber die Hoffnung, dass sich Deutschland mittelfristig wieder auf sein Eigeninteresse besinnen wird. Es fragt sich nur, wie lange das dauern wird und welche politischen Kräfte an dieser Wende beteiligt sein werden.

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Insgesamt liegt hier ein trotz des furchtbaren Themas unterhaltsames Buch vor. Leser, die intuitive Zweifel an der westlichen Propaganda zum Ukrainekrieg haben, sich aber mit der Faktenlage noch nicht befassen konnten, finden im ersten Teil eine kompakte und nahezu lückenlose Zusammenfassung der Tatsachen und Zusammenhänge. Leser, die die Sachverhalte bereits kennen, können im zweiten Teil die Erkenntnis- und Meinungsbildung eines äußerst intelligenten und mit Urteilskraft gesegneten Autors verfolgen, der Polemik und Komik als Mittel des geistigen und seelischen Widerstandes nicht scheut. Doch ist das Buch eindeutig das, was die Angelsachsen ›preaching to the choir‹ nennen. Globalistische Anhänger des westlichen postmodernen Kollektivismus wird der Text nicht überzeugen. Diese die öffentliche Meinung dominierende Gruppe wird den Autor als ›rechts‹ oder ›russlandhörig‹ diffamieren. Zu Unrecht, denn er nimmt ohne besondere Sympathie für Russland – ähnlich wie John Mearsheimer – lediglich eine nüchterne Analyse aus der Perspektive des um das Wohl seines Landes besorgten Bürgers vor. Sie sei allen Lesern wärmstens empfohlen.

Helmut Roewer: Nicht mein Krieg. Deutschland und der Ukrainekonflikt. Bericht und Journal 2022/24, Dresden (edition buchhaus loschwitz) 2024, 344 Seiten