von Wolfgang Rauprich
Als Markus Wolf 1986 vorzeitig seinen Generalsrock an den Nagel hing und den Dienst als Chef der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR quittierte, ahnte mancher wache Beobachter in diesem Land und sicher auch anderswo, dass da mehr dahintersteckte als die Ambition dieses Mannes, Kochbücher zu schreiben und sein Altenteil zu genießen. Was wurde nicht alles spekuliert über die Hintergründe. Waren es seine Misserfolge in den Jahren zuvor, die unter anderem dazu führten, dass der ›Mann ohne Gesicht‹ kenntlich wurde? Waren es seine zweifellos vorhandenen amourösen Abenteuer, die, wie der Spiegel später kolportierte, den spröden Stasi-Chef Erich Mielke dazu bewegten, ihn aus dem Apparat zu drängen? Oder war es doch Wolf selbst, der diesen Abgang ganz zielgerichtet betrieb, um völlig andere Absichten effektiver verfolgen zu können? Als mit allen Wassern gewaschener Geheimdienstler wusste Wolf längst, dass die DDR als Staat nicht zu halten sein würde, da sich auch der große Bruder Sowjetunion bereits in einem Abwärtssog befand, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Von alledem und mehr handelt das Buch von Michael Wolski 1989 Mauerfall in Berlin mit dem Untertitel Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion.
Waren manche Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 keine Zufälle?
Ein Blick auf die zeitliche Parallelität der Aktivitäten führender Genossen in Moskau im Jahr 1986 gibt zumindest einen Hinweis darauf, das spätere Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die zum Ende der DDR führten, keine Zufälle waren, und ein Markus Wolf durchaus in solche Aktivitäten eingebunden gewesen sein könnte. Er war bestens vernetzt in Politik und in Sicherheitskreise der Sowjetunion. Als Emigrantenkind war er dort aufgewachsen, sprach russisch so gut wie seine Muttersprache und verfügte im KGB über einen exzellenten Ruf als herausragender Geheimdienstler. Wer, wenn nicht er, war also besser geeignet in Pläne eingebunden zu werden, die das Ende der DDR zum Ziel hatten. Nicht zuletzt deuten die bis heute undurchsichtigen Machenschaften der Gruppe ›Luch‹ (Strahl), einer Sondereinheit des KGB, die in der DDR operierte, in diese Richtung.
Michail Gorbatschow war ein Jahr zuvor zum Generalsekretär der KPdSU gekürt worden. Er verkündete nicht nur Glasnost und Perestroika, sondern zog auch Bilanz zur Situation der Sowjetunion mit dem Ergebnis, dass dieser Staat der Arbeiter und Bauern politisch, wirtschaftlich am Ende, ideologisch ausgebrannt und in der Staatengemeinschaft, nicht zuletzt wegen des Afghanistankrieges, weitgehend isoliert war. Aus der Sicht des Generalsekretärs rückte der Untergang dieses Riesenreichs immer näher. Da wurden die Satellitenstaaten, insbesondere die DDR, nicht mehr als wichtige Verbündete betrachtet, sondern als Klötze am Bein, die es loszuwerden galt, um die Sowjetunion zu retten. Eduard Schewardnadse, Gorbatschows Außenminister, war es schließlich, der bereits 1986 mit einer Aussage zur Notwendigkeit der deutschen Einheit zitiert wird.
Blick in die Geschichte bis zum Hitler-Stalin-Pakt
Es ist diese Ausgangssituation, von der aus Michael Wolski in seinem Buch 1989 Mauerfall in Berlin mit dem Untertitel Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion eine Reihe auffälliger Geschehnisse rund um die plötzliche Grenzöffnung am 9. November 1989 beleuchtet. Bei einer anderen griff der Autor in die Geschichte zurück, bis zum Hitler-Stalin-Pakt, der 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken abgeschlossen wurde. Die Existenz der dazu gehörenden Geheimprotokolle hat die KPdSU jahrzehntelang bestritten. Wenn es nun aber darum gehen sollte, sich die allein nicht lebensfähige DDR vom Hals zu schaffen und damit notwendigerweise die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, gab es ein gravierendes Problem, welches mit eben diesem, auch als ›Nichtangriffspakt‹ geführten Dokument nebst seinen Zusatzprotokollen zu tun hat.
In dem Vertragswerk regelten diese beiden großen europäischen Diktaturen nichts weniger als weite Teile Mittel- und Osteuropas untereinander aufzuteilen. Für die Sowjetunion galt diese Aufteilung bis 1990 weiter, nicht so für das Deutsche Reich, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besetzt und schließlich als Staat liquidiert wurde. Die Besatzung betraf auch das nördliche Ostpreußen, später als Gebiet Königsberg beziehungsweise Kaliningrad bezeichnet. Nun durfte die Sowjetunion alle Territorien behalten, die ihr im Hitler-Stalin-Pakt und den zugehörigen Zusatzprotokollen zugesprochen wurden. Für andere besetzte Gebiete des Deutschen Reichs, wie das um Königsberg, blieb der Sowjetunion nur die zeitweise treuhänderische Verwaltung bis zum Abschluss eines Friedensvertrages, wenngleich Stalin diesen Teil Ostpreußens ohne langes Federlesen in die Sowjetunion eingegliedert hatte.
Dennoch durfte er nicht einfach annektiert werden, so die Vereinbarung zwischen den vier Alliierten. Doch auf keinen Fall sollte Kaliningrad in die Verhandlungsmasse einer möglichen deutschen Wiedervereinigung oder eines Friedensvertrages fallen. So erklärt Wolski den Hintergrund für die geheimen Aktivitäten der Sowjetunion zur vollständigen und möglichst geräuschlosen Annullierung des Hitler-Stalin-Pakts als Ganzem, also auch der Vertragsbestandteile, die es angeblich nie geben hat. Der Autor erkennt darin sogar das zentrale Motiv maßgeblicher Teile der Sowjetführung, das Ende der DDR aktiv voranzutreiben.
Im Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung
Und er geht noch einen Schritt weiter. Wolski führt im Zusammenhang mit dem Hitler-Stalin-Pakt die These ein, dass Stalin längst einen Angriff auf das Deutsche Reich geplant habe, Hitler ihm mit dem Überfall auf die Sowjetunion lediglich zuvor gekommen sei. Dazu verweist er auf den Historiker Stefan Scheil, auf Schriften von Viktor Suworow, einem ehemaligen Militärnachrichtendienstler der Sowjetarmee sowie auf ein ebenso faktenreiches wie lesenswertes Buch von Bernd Schwipper mit dem Titel Deutschland in Visier Stalins. Bemerkenswert daran ist, dass Schwipper, mehr noch als Wolski, der Führungselite der DDR angehörte. Als Generalmajor der Nationalen Volksarmee der DDR und als Militärhistoriker hatte er tiefe Einblicke in manche besonderen militärischen Zusammenhänge zwischen der Sowjetunion und der DDR, die er 1990 in seinen damals noch möglichen Archivrecherchen in Moskau mit besonderem Blick auf den Hitler-Stalin-Pakt und die wahren Absichten des Woschd – so ließ sich Stalin als Führer nennen – noch vertiefen konnte (siehe: Schwipper, Bernd, 2015, Deutschland in Visier Stalins). Auch den Historiker Bogdan Musial führt Wolski an, der ebenfalls hierzu gearbeitet hat. (siehe: https://www.welt.de/politik/article1799869/Stalins-Angriffsplaene-fuer-den-Westen.html)
Wolski hat diese Motivstränge verfolgt und meint, an deren Verästelungen eine gewaltige geheimdienstliche Operation erkennen zu können, die schließlich zum Mauerfall geführt habe und im Resultat zur deutschen Wiedervereinigung. Manchem Mitstreiter der DDR-Bürgerbewegung überbringt er damit eine verstörende Botschaft. Insbesondere aber stellt er sich mehrfach quer zur offiziellen Geschichtsschreibung. In dieser gilt der Mauerfall als Zufallsergebnis im Gefolge der Friedlichen Revolution. Gravierend erscheinen Wolskis Interpretationen rund um den Hitler-Stalin-Pakt und um dessen Annullierung. Als komplettes No-Go gilt in der Geschichtsschreibung die Hypothese von Stalins Angriffsplänen gegen das Deutsche Reich. Dennoch greift der Autor nicht irgendwelche Behauptungen aus der Luft, sondern führt eine Vielzahl von Indizien auf, die er zur Kette verknüpft. Erst anhand einer solchen Indizienkette werden Vorgänge und Zusammenhänge plausibel, die in der Einzelbetrachtung als Zufälle abgetan werden könnten. Doch wie steht es mit Beweisen? Hier tut sich Wolski zwangsläufig schwer, geht es doch um geheimdienstliche Operationen, die ihrer Natur nach der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Dabei hofft er auf kommende Archivöffnungen in Russland. Das könnte aber das Warten auf den Sankt Nimmerleinstag sein, zumal auch Putins heutiges Russland kaum ein Interesse daran haben dürfte, dass solche Geheimoperationen, sollte es sie gegeben haben, ans Licht der Öffentlichkeit gelangen.
Der Autor als Insider des DDR-Apparats
Man kann den Autor getrost als Insider des DDR-Apparates bezeichnen, zumindest des Teils, der der Devisenerwirtschaftung für diesen chronisch klammen Staat diente: dem von Alexander Schalck-Golodkowski geleiteten Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Im Internationalen Handelszentrum in Ostberlin hatten die Devisenbeschaffer ihr Domizil. Dort war auch Wolski tätig, als Verkaufsrepräsentant der Europa-Tochter des Weltkonzerns 3M mit Sitz in der Schweiz. Die großen Westfirmen holten sich gern ihre Mitarbeiter für die DDR aus der Trans Inter GmbH, einem Unternehmen für Arbeitnehmerüberlassung, das zur KoKo gehörte. Wolski schreibt selbst, dass es damals etwa fünfundzwanzig sogenannte kommerzielle Mitarbeiter in den Büros ausländischer Firmen im Internationalen Handelszentrum gegeben habe, die alle von Trans Inter kamen. Man erhielt von dort qualifizierte Außenhändler zum günstigen Preis – natürlich in konvertibler Valuta – mit guten Beziehungen zu wichtigen Entscheidungsträgern.
Michael Wolski muss für seinen Auftraggeber gute Arbeit geleistet haben, schickte ihn doch der Konzern, nachdem es keine KoKo und keine DDR mehr gab als Repräsentant nach Moskau. Gewiss war er auch ein wacher Beobachter, der frühzeitig registrierte, in welchem Zustand sich die DDR bereits gegen Ende der 1970er Jahre befand und der durchaus besser als mancher andere DDR-Bürger absehen konnte, dass das fortlaufende Zehren von der Substanz schon bald an seine Grenzen stoßen würde. Indirekte Hinweise, dass er sich von der herrschenden Ideologie emanzipierte, gibt Wolski mehrfach, aber zurückhaltend, mit Hinweisen auf eine gewisse Hinwendung zur Marktwirtschaft.
Eine andere Deutung von Schabowskis konfusem Auftritt
Der Autor beginnt seine Darlegungen zum Mauerfall dort, wo das Geschehen seinen Lauf nahm: in der Pressekonferenz von Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989. Schabowski war nicht irgendein subalterner Verkünder von Nachrichten, sondern kam als Mitglied des Politbüros der SED von ganz oben. Offenbar um die Bedeutung seines Auftritts zu unterstreichen, hatte er zudem drei weitere Mitglieder des Zentralkomitees der Staatspartei zu der Pressekonferenz mitgebracht. Anfangs verlief diese so, wie man es von derartigen Verkündungsveranstaltungen in der DDR gewohnt war: Die Journalisten langweilten sich die meiste Zeit mit allerlei Politplattitüden. Erst am Ende kam zur Sprache, was schließlich zur Maueröffnung führte. Und Wolski identifiziert einen Stichwortgeber: den italienischen Journalisten Riccardo Ehrmann. Er habe den obersten Informationspolitiker der DDR zu seinem schicksalhaften Spruch zum Inkrafttreten einer neuen, anlassunabhängigen und genehmigungsfreien Reiseregelung für DDR-Bürger animiert: ›Das trifft nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich …‹ Damit hatte er eine falsche Information weitergegeben, denn eigentlich besagte die Regelung, dass sich DDR-Bürger in dem Meldestellen einen Genehmigungsstempel hätten abholen müssen.
Anders als andere Interpreten dieses Meetings bewertet Wolski den konfus erscheinenden Auftritt Schabowskis nicht als verwirrte und unvorbereitete Stammelei, sondern als beabsichtigte Schauspielerei. Er bemüht zu diesem Zweck den Sprechzettel Schabowskis, auf dem dessen Notizen genau diesen Verlauf der Pressekonferenz ablesbar machen würden. Tatsächlich steht dort sogar hervorgehoben, dass gegen Ende eine Frage vom ZK-Mitglied zu beantworten sei. Notiert ist auch das Verlesen einer Reiseregelung, für die es eine Sperrfrist bis zum 10. November gab, die Schabowski aber offenbar nicht einzuhalten gedachte. Riccardo Ehrmann hat später behauptet, seine Frage auf Bitten einer hochgestellten Persönlichkeit gestellt zu haben. Allerdings nahm er diese Aussage wieder zurück, was der Autor für wenig glaubhaft hält. Alles in allem meint Wolski, hinter der Pressekonferenz ein Drehbuch zu erkennen. Schabowski sei zu sehr Vollprofi gewesen, um gewissermaßen aus Versehen den Mauerfall zu initiieren. Vielmehr könne das nur mit voller Absicht so inszeniert worden sein.
Der höchste Feiertag der Sowjetunion und die Maueröffnung
Wolski konzentriert sich aber nicht nur auf den Verlauf der Pressekonferenz, sondern beleuchtet deren Rahmenbedingungen: Warum musste die Pressekonferenz am 9. November stattfinden? Warum wurde sie am Abend zu einem Zeitpunkt anberaumt, als die ZK-Sitzung, über deren Ergebnisse zu berichten gewesen wäre, noch gar nicht beendet war? Warum dauerte die ZK-Sitzung, die am nächsten Tag fortgesetzt werden sollte, an dem Abend zweieinhalb Stunden länger als geplant? Seine Erklärung bezieht sich auf zwei enge Zeitkorridore, einen in Berlin für den Abend des 9. November und einen der Sowjetunion rund um das besagte Datum generell. Wobei der Letztere für ihn der entscheidende ist, um die zeitlichen Zusammenhänge überhaupt zu verstehen.
Entsprechend erläutert er, dass der 7. November der höchste Feiertag der Sowjetunion war, der Tag der Oktoberrevolution. Und dieser führte 1989 zu einer ganz speziellen Konstellation: Der Feiertag fiel auf einen Dienstag, traditionell war damals auch der darauf folgende Tag arbeitsfrei. Erfahrungsgemäß sei an den Brückentagen bis zum Wochenende mit lediglich verminderten Aktivitäten des Machtapparates zu rechnen, auch in den sowjetischen Einrichtungen in der DDR. Wichtiger sei noch die Tatsache, dass stets um den 7. November alle Einheiten der sowjetischen Streitkräfte in der DDR vollständig kaserniert wurden, 1989 vom 6. bis 13. November. Damit seien in diesem Zeitraum, so der Autor, wichtige sowjetische Entscheidungsträger in Moskau und Berlin nur eingeschränkt handlungsfähig gewesen. Er sieht dies als Grundvoraussetzung für das Gelingen der Maueröffnung.
Hinzu kommt der andere Zeitkorridor, der in Berlin von den im ›Drehbuch‹ dafür vorgesehenen Personen geöffnet werden musste. Dabei stand die Sitzung des Zentralkomitees der SED im Mittelpunkt, die für den 9. und 10. November geplant war. Am 9. November sollte die Sitzung ursprünglich um 18 Uhr beendet sein, tatsächlich aber dauerte sie bis gegen 20.45 Uhr an. Hier geht Wolski davon aus, dass Kräfte des KGB, die innerhalb der SED-Führung verdeckt tätig waren, für diese mehr als zweieinhalbstündige Verlängerung gesorgt hätten. Der Grund: Da das ZK abgeschirmt tagte, seien hochrangige Genossen, insbesondere von Staatssicherheit, Polizei und Armee, kaum entscheidungsfähig gewesen. Bezieht man die Rückfahrzeiten nach der Sitzung mit ein, dann wären die meisten ZK-Mitglieder bis etwa 22.30 Uhr paralysiert gewesen.
In dem Zeitkorridor, in dem die Führungsriege weitgehend an einem Ort abgeschirmt und von der Kommunikation mit ihren Organen abgeschnitten war, musste die Grenzöffnung erfolgen. Und sie musste als Massenanziehung funktionieren, damit sie nur noch mit heftiger Waffengewalt rückgängig gemacht werden konnte. Der Schießbefehl – darauf weist Wolski explizit hin – sei zu diesem Zeitpunkt aber bereits suspendiert gewesen. In diesem Zusammenspiel von Rahmenbedingungen in der Sowjetunion und der DDR, der exakten Abstimmung von zeitlichen Abläufen in Schabowskis Pressekonferenz – wann was gesagt wurde – mit der Verlängerung der Sitzung des ZK der SED, erkennt Wolski ein klares Drehbuch, welches zudem erfolgreich in Szene gesetzt wurde. Mit dieser Maueröffnung – Mauerfall wäre der falsche Terminus, denn die Mauer fiel erst wesentlich später – sieht er das Ende der deutschen Teilung, aber vor allem das Ende der Sowjetunion initiiert.
Ein Diplomat der Sowjetunion als Ruheständler in Köln
Schließlich bringt der Autor noch einen wichtigen Akteur ins Spiel, der als die graue Eminenz der sowjetischen Deutschlandpolitik gilt: Wladimir Semjonowitsch Semjonow. Zum Verständnis der Persönlichkeit dieses Spitzendiplomaten in den 1970er und 1980er Jahren legt Wolski dessen Werdegang im diplomatischen Dienst seit Stalin bis zu seinem endgültigen Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1991 dar. Der Begriff ›endgültiger Ruhestand‹ ist hier erforderlich, denn neben anderen interessanten Details aus dem Leben des Botschafters stellt Wolski anhand der Lektüre von Semjonows Memoiren fest, was in offiziellen Lebenslauf-Tabellen, also auch in der deutschen Wikipedia, ausgelassen wird. Nämlich, dass er 1986 als Botschafter der Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland zwar in den Ruhestand versetzt wurde, sich kurz danach jedoch in Köln niederließ und offenbar inoffiziell weiterhin einer außerordentlichen Botschaftertätigkeit für sein Land nachging, eben bis 1991. Offiziell galt Semjonow als Privatier in der westdeutschen Domstadt und als Kunstsammler. Beides war ungewöhnlich für einen Bürger der Sowjetunion, der auch als Ex-Diplomat nicht einfach so seinen Wohnsitz in einem westlichen Land nehmen konnte. Und bei der Betrachtung des Salärs, welches der sowjetische Staat seinen Diplomaten gewährte, dürfte Sammlertum in jenem Maß, wie es Semjonow zugemessen wurde, illusorisch sein.
Letzteres erklärt Wolski als Ablenkungsmanöver der sowjetischen Seite, um das schlechte Image des Botschafters als ›Pate‹ der DDR aufzubessern. Umstritten war Semjonow vor allem als Initiator der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone von 1945, durch seine Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und als Mitarchitekt der Berliner Mauer. So beschreibt der Autor, wie Semjonow mit einem Teil einer Sammlung in der Sowjetunion verfemter Kunstwerke ausgestattet wurde, die aus dem Besitz eines tatsächlichen Sammlers stammten, der für deren teilweise Überlassung das Land verlassen durfte. So konnte der neue Botschafter öffentliche Ausstellungen mit Werken bedeutender russischer Künstler ausstatten, die zuvor kaum jemand gesehen hatte. Die Verschiebung des Aufmerksamkeitshorizonts weg von Kalten Krieger zum Kunstmäzen, so Wolski, sei insbesondere dank der westdeutschen Medien durchaus gelungen.
Bei Semjonows zweitem Auftritt in der Bundesrepublik als Kunstsammler in Köln sei er mit einem speziellen Auftrag, eventuell sogar direkt vom damaligen Außenminister Schewardnadse, ausgestattet gewesen: das Ende der DDR und in letzter Konsequenz das Ende der Sowjetunion einzuleiten. Hier kommt nun zu guter Letzt der US-Spitzendiplomat Vernon Walters ins Spiel, der im April 1989 als neuer Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Bonn antrat. Wolski geht davon aus, dass die beiden diplomatischen Schwergewichte Semjonow und Walters alle späteren Abkommen zur deutschen Einheit vorbereitet und weitgehend bis zur Unterschriftsreife ausgehandelt haben. Die Voraussetzungen aber zur Umsetzung habe der KGB mit seinen Helfern in der DDR mit der Grenzöffnung am 9. November 1989 geschaffen.
Die Friedliche Revolution allenfalls in Nebensätzen
Michael Wolski will mit seinem Buch einen anderen Zugang zu den Ereignissen um den 9. November 1989 und einen neuen Blick auf die Maueröffnung anregen, der der offiziellen Geschichtsschreibung weitgehend widerspricht. Aus Mangel an direkten Belegen für die meisten der von ihm herausgearbeiteten Zusammenhänge wendet er sich einer interpretativen Methodik zu, mit der er reale Ereignisse, Verhaltensweisen und Aussagen von Akteuren, staatliches, politisches, ja geschichtspolitisch motiviertes Handeln mit eigenen Erfahrungen und einem bestimmten Insiderwissen zu synchronisieren versucht. Man kann ihm zugestehen, dass ihm dies gelungen ist.
Ebenso erscheint das höchst komplexe Geflecht von KGB-Operationen, der Rolle von Markus Wolf, dem exakten situativen Timing von ZK-Sitzung und Schabowskis Pressekonferenz und von diplomatischen Ränkespielen, das Wolski aufspannt, durchaus schlüssig. Dabei fällt auf, dass bei ihm die Friedliche Revolution allenfalls in Nebensätzen eine Rolle spielt. Das mag daran liegen, dass er damit als einstiger Trans-Inter-Mann eher weniger am Hut hatte, oder auch daran, dass er der Bürgerbewegung der DDR im Zusammenhang mit der Maueröffnung vom 9. November 1989 eine geringere Bedeutung zuerkennt. Tatsächlich ist zu konstatieren, dass der Ansturm von tausenden DDR-Bürgern auf die Grenzübergänge in Berlin nichts mit der Bürgerbewegung zu tun hatte, von dieser erwiesenermaßen weder initiiert noch befürwortet wurde.
Ganz im Gegenteil waren die führenden Kräfte in Neuem Forum, Demokratischem Aufbruch, Demokratie jetzt und anderen Oppositionsgruppen meist konsterniert von dieser Wendung, weil dadurch deren Intention, einen demokratischen Rechtsstaat in einer eigenständigen DDR aufzubauen, weitgehend obsolet und ihre Fehleinschätzung über den tatsächlichen Willen des Volkes offenbar wurde. Hatten doch diese Bürger bereits auf der Großdemonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz einer wie auch immer gearteten und gewendeten DDR eine klare Absage erteilt. Gleichwohl waren es jene hunderttausende Bürger, die seit Oktober 1989 montags auf die Straßen der großen und später auch der kleineren Städte gegen das SED-Regime gingen, die die Voraussetzungen für den möglicherweisen KGB-Coup erst schufen. Ohne diese Friedliche Revolution (man mag ja mit diesem Begriff hadern, doch besser als die von Egon Krenz eingebrachte ›Wende‹ ist er allemal) und ohne die starke Bürgerbewegung, die solange demonstrierte, bis das Regime zu Fall gebracht war, wäre die Maueröffnung mit oder ohne Geheimdiensthintergrund nicht möglich gewesen.
Andererseits kam schon früh der Verdacht auf, dass diese Friedliche Revolution zumindest zu Teilen von der Stasi, vielleicht auch von anderen Geheimdiensten wenn schon nicht gesteuert, so doch beeinflusst war. Dazu trugen vor allem führende Figuren der DDR-Opposition bei, allen voran Wolfgang Schnur (Demokratischer Aufbruch) oder Ibrahim Böhme (Sozialdemokratische Partei der DDR SDP), die später als Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit geoutet wurden. Auch die gescheiterten Versuche von Markus Wolf, sich der Bürgerbewegung anzubiedern, hatten daran ihren Anteil. Allerdings erreichte die Bewegung sehr schnell eine so hohe Dynamik, dass eine Steuerung der Gesamtereignisse kaum mehr möglich gewesen wäre. Ein Einzelereignis wie die Maueröffnung gezielt durch geheimdienstliche Aktivitäten herbeizuführen, lag aber durchaus im Bereich des Möglichen, insbesondere wenn dahinter der Gedanke gestanden hätte, die beiden deutschen Staaten zu vereinigen. Schließlich markierte der 9. November den Wendepunkt von dem Leitspruch der Montagsdemonstrationen Wir sind das Volk zu dem Slogan Wir sind ein Volk als anschwellende Forderung nach einem geeinten Deutschland.
Das Ende der Sowjetunion und ein Schlussstrich aus Mangel an Beweisen
Gab es jedoch die von Wolski postulierte Tragweite bis zum Ende der Sowjetunion? Der Schlussstrich unter das Riesenreich wurde am 7. Dezember 1991 bei einem geheimen Treffen in der Staatsdatscha Wiskuli in Belorussland gezogen. Dort trafen sich die Staatsoberhäupter Russlands, der Ukraine und Weißrusslands, Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch. Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion hatte zu jenem Zeitpunkt nur noch geringen Einfluss. Geschwächt durch den Putschversuch von Teilen des KGB und der Sowjetarmee vom August 1991, musste er zusehen, wie ihm Jelzin immer mehr Macht aus den Händen nahm. Im Gegensatz zu seinem hohen Ansehen im Westen war sein Rückhalt im eigenen Volk weitgehend geschwunden. So vereinbarten die drei führenden Politiker der Sowjetrepubliken die Gründung von 15 unabhängigen Staaten und mithin die Auflösung der Sowjetunion. Am 21. Dezember 1991 wurde die ›Gemeinschaft unabhängiger Staaten‹ proklamiert, am 25. Dezember trat Michail Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion zurück und am 31. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion offiziell auf zu existieren.
Sollte dieser wahrhaft historische Vorgang tatsächlich mit der Maueröffnung von Berlin initiiert worden sein? Wohl kaum! Die Sowjetunion war lange vor Gorbatschows Machtantritt marode und von Fliehkräften im Inneren gezeichnet. Versuche, durch Glasnost und Perestroika Entlastung zu schaffen, blieben angesichts der erdrückenden wirtschaftlichen Probleme und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung marginal. Der Untergang folgte einer inneren Logik, die sich entlang der Bruchlinien einer dysfunktionalen Planwirtschaft Bahn brach, die von einem überbordenden militärisch-industriellen Komplex nebst einer selbstgewissen aber weitgehend unfähigen Ideologen- und Funktionärskaste dominiert wurde. Da bedurfte es nur passender Anlässe, wie der Umbrüche in Polen, in der Tschechoslowakei und in der DDR, um den Zusammenbruch herbeizuführen.
Dass dabei auch Geheimdienste, allen voran der KGB, mitgemischt haben, sollte nicht verwundern. Ebenso dürfte das für die Maueröffnung zutreffen, mit der in der Tat das Tor zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten weit aufgestoßen wurde. Ob dies so stattfand, wie es Michael Wolski beschrieben hat, erscheint angesichts der Praktiken von Geheimdiensten wie KGB oder MfS zu Teilen zwar plausibel, mag aber dennoch dahingestellt bleiben, weil nichts davon wirklich beweisbar ist. Für die kommenden 30 Jahre ist eher nicht mit einer Öffnung der diesbezüglichen Archive in Moskau zu rechnen, wo sich eventuell Beweise für Wolskis Hypothese finden könnten. Also wird weiter der vorläufige Schlussstrich unter diesen Vorgängen und damit die offizielle Version der Geschichtsschreibung gelten: Schabowski hat sich ›verstammelt‹, die Grenzer an der Bornholmer Straße haben ad hoc gehandelt und ansonsten hatte ›Genosse Zufall‹ überall seine Hände im Spiel.