Lenin und die Oktoberrevolution.
von Holger Czitrich-Stahl
Der an der Berliner Freien Universität lehrende Stefan Bollinger veröffentlichte im 100. Jubiläumsjahr der beiden russischen Revolutionen gleich zwei Bücher zur historischen Erinnerung an diese Epochenzäsur von 1917. Er unternimmt in seinen beiden Büchern über die Oktoberrevolution und ihr historisches Erbe und über ihren Hauptprotagonisten Wladimir I. Lenin den Versuch, Weltereignis und Hauptprotagonisten voneinander zu trennen. Im Vorwort zum Lenin-Band macht Bollinger den Hintergrund deutlich: Die Identifikation der Oktoberrevolution mit der Person Lenins, des einstmaligen Aufbruchs einer sich als Alternative zum Kapitalismus verstehenden Bewegung mit seinem Schrifttum und seinem politischen Wirken gehört der Vergangenheit an. Durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung geriet auch sein Wegbereiter immer mehr in Vergessenheit oder wurde mehr oder minder dämonisiert. Bollinger möchte beiden, der Oktoberrevolution und ihrem bedeutendsten Kopf, differenziert begegnen, um standortgebundene Bewertungen überwinden zu können.
Der Begriff der ›Revolution‹ steht im Zentrum der Betrachtungen zur Oktoberrevolution. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert, der Vor- und Ereignisgeschichte der Revolution, ihrem Nachleben bis zum Ende der Sowjetunion und des von ihr geführten Staatensystems, zuletzt um ihre sehr verschiedenartige Rezeption in unserer Gegenwart. Immer wieder fügt Bollinger seinen Darlegungen längere Textpassagen von – auch revolutionskritischen - Zeitzeuginnen und -zeugen an, wohl auch um die tradierten Zitierkartelle zu vermeiden, aus denen nicht selten eine Selbstheroisierung auf der eigenen Seite oder eine Pauschalverurteilung seitens des Westens erwuchs. Die Haltung zur Sowjetunion wurde zur ideologischen Wetterscheide im Ost- West-Konflikt.
Mit einem Zitat von Leo Trotzki führt uns Bollinger in seine Gedankengänge ein: »Die Revolution erwuchs unmittelbar aus dem Krieg, und der Krieg wurde allen Parteien und revolutionären Kräften zum Prüfstein« (S. 9) Die Februarrevolution fällte zwar den Zarismus und brachte auch Sozialrevolutionäre wie Kerenski und Menschewiki wie Skobelow in die Provisorische Regierung, diese aber führten den Krieg weiter, statt ihn zu beenden und den Hunger und die Rückständigkeit in jeder Hinsicht zu bekämpfen. Doch Bollinger führt den Menschewiken Nikolaj Suchanow als Kronzeugen für den Siegeszug der Bolschewiki zwischen Februar- und Oktoberrevolution an: Es war das Festhalten der gemäßigten Linken an der alten Ordnung und am Krieg, das der Revolution des Oktobers Tür und Tor öffnete, die vorher menschewistisch dominierten Räte für die Bolschewiki öffnete und wieder neue Räte entstehen ließ, die den vollständigen Bruch mit der alten Ordnung zu erkämpfen bereit waren (S. 38-41). Ohne die Revolution kein Ende des Krieges, das bleibt. Aber es war der ungewollte Krieg, der nach der erfolgreichen Revolution zunächst von Brest-Litowsk aus, dann als Bürgerkrieg bis 1922 die Revolution bedrohte und durch seine furchtbaren Folgen das Antlitz der Herrschaft der Partei Lenins und Trotzkis herausmeißelte. Es war eine »Revolution in feindlicher Umwelt«, die sich behauptete, diese erschwerten Umstände aber als Modell für jede weitere Revolution oder die ihr nachfolgende Herrschaft verallgemeinerte und vorschrieb. Die »antistalinistischen Revolutionen« der Jahre von 1953-1989 versuchten eine Korrektur und die Einlösung des eigentlichen sozialistischen Anspruchs, scheiterten aber stets, bis es zum Systemkollaps 1989-1991 kam (S. 181-183). Die Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen vor und nach Stalin werden nicht unter den Tisch gekehrt. Insgesamt sieht Bollinger ein historisches Verdienst der Oktoberrevolution darin, den Kapitalismus gelehrt zu haben, »dass das Funktionieren des Kapitalismus von Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen und staatlicher Intervention zugunsten der sozial Schwächeren geprägt sein muss« (S. 92). Mit dem Ende des Staatssozialismus glaubte nun sein Widerpart wieder zu alter Rücksichtslosigkeit zurückkehren zu können. Dabei bedient sich die heutige Politik des »Regime change« sogar eines neoliberal und globalstrategisch umfunktionierten Revolutionsbegriffs, der nichts anderes beabsichtigt als die »Perfektionierung des globalen Kapitalismus« (S. 192ff). Aktuell scheint eine andere, radikal demokratische Entwicklungslogik kaum durchsetzbar zu sein. Aber hier zitiert Bollinger Rosa Luxemburg, die Lenin und Trotzki zugutehält, dass sie den Durchbruch gewagt haben.
Ähnliche Umdeutungen wie die Oktoberrevolution selbst erfuhr auch ihr theoretischer und strategischer Kopf W. I. Lenin. Entkam er bis 1991 nicht der Apotheose durch seine Epigonen, so ist er jetzt entweder vergessen oder wird über den Leisten russischer Großmachtprojektionen geschlagen. Dabei kommt selbst Stalin besser davon, da dieser die Großmacht Sowjetunion als Formwandel eines mächtigen Russlands wieder aufgerichtet habe (S. 7). Doch auch die populistische Rechte in den USA bedient sich gern bei Lenin, was dieser sicher angewidert von sich gewiesen hätte, und macht es sich damit einfacher als die politische Linke, deren kommunistischer Flügel seine Verwandlung in einen Halbgott mittrug. Bollingers Rat lautet: »Heutiges Beschäftigen mit Lenin wird stets mit diesem Zwiespalt zwischen historischen Leistungen, Fehlentwicklungen, Irrtümern, zwischen Bewahrenswertem und unter sozialistischen und demokratischen Gesichtspunkten zu Verwerfendem zurechtkommen müssen« (S. 13). Bei der Analyse des Theoretikers, Strategen und Politikers Lenin begegnet dem Leser so manche Aussage des Revolutionsbuches erneut. Doch zeigt der Autor hier natürlich die Charakterzüge Lenins stärker auf, so seine Entschlusskraft und seine Fähigkeit, scheinbar konträre Interessen und Situationen in einer griffigen Formel aufzulösen und mit ihr Menschen in Bewegung zu bringen: »Lenin und die Bolschewiki mobilisierten die russische Gesellschaft mit deren ureigensten Forderungen: Frieden, Brot, Freiheit und Land« (S. 26). Dem Theoretiker Lenin nähert sich Bollinger vor allem mit einem Durchgang durch »Staat und Revolution« (S. 27-54) Der Stratege Lenin zeichnete sich durch Prinzipienfestigkeit und Unbeirrbarkeit und durch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Lageanalyse aus, das Allgemeine und das Besondere wusste er auseinanderzuhalten, wo es nötig war. Er blieb dialektisch denkender Marxist und Realpolitiker, auch wo er »falsche Positionen« aburteilte. Gelegentlich hat man aber den Eindruck, dass der Autor Lenin vor allem vor den Kulthandlungen seiner Nachfolger und Verehrer, die ihn verabsolutiert hätten, in Schutz nehmen möchte (S. 62ff). Dass Lenin die einmal gewählten Schritte der kommunistischen Partei durchaus zu verabsolutieren wusste, erkennt man an den Verhandlungen über die einundzwanzig Bedingungen an die USPD zum Beitritt zur Kommunistischen Internationale 1920 oder am Umgang mit Paul Levi sowie an der »Selbstthermidorisierung« nach dem Kronstädter Aufstand, nach dessen Niederschlagung keine Rückkehr zu demokratischen Elementen im Sozialismus mehr angestrebt wurde. Das stellt Bollinger in Rechnung und erklärt diese und andere zum Teil verhängnisvolle Entscheidungen Lenins und seiner Nachfolger mit der »Revolution in feindlicher Umwelt«. Doch waren sie tatsächlich alternativlos? Wäre ein Mehr an Demokratie nicht ein möglicher Weg zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Entwicklung zumindest nach dem Ende des Bürgerkrieges gewesen? Gilt nicht auch an diesem Punkt eigentlich Rosa Luxemburgs Impuls, es zumindest gewagt haben zu sollen?
Schlussendlich bleibt festzustellen, dass Bollinger zwei anschauliche und gut erzählte, in ihrer Kompaktheit fein lesbare Darstellungen der Oktoberrevolution und ihres wichtigsten Repräsentanten Lenin vorgelegt hat, den er jedoch vor allem in seinen Vorzügen beschreibt. Vielleicht war ja ein Motiv des Autors, der Aburteilung dieser Epochenzäsur nach dem Muster von Orlando Figes etwas entgegenzusetzen.
STEFAN BOLLINGER: Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922, Berlin (Verlag Edition Ost) 2017, 224 Seiten
DERSELBE: Lenin. Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker. Köln (PapyRossa Verlag) 2017, 147 Seiten