von Holger Czitrich-Stahl
Das zweite Heft des Jahres 2017 dieser Zeitschrift besitzt das Schwerpunktthema Judentum und Revolution: Der Weltverband Poale Zion zwischen Zionismus und Kommunismus. Einschließlich des einleitenden Beitrages von Ralf Hoffrogge nehmen sich fünf Aufsätze dieses Themenkomplexes an, der in der Historiographie der Arbeiterbewegung bestenfalls subkutan präsent war – höchstens durch hervorragende Persönlichkeiten wie Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Moses Heß oder Leo Trotzki –, aber einer historischen Längsschnittbetrachtung dringend bedarf. Geschichtlicher Ausgangspunkt der im aktuellen Heft vorgenommenen Auseinandersetzung ist das Jahr 1917, in dem sich nicht nur die russische Doppelrevolution des Februar und Oktober ereignete und die folgenden Zeitläufte entscheidend beeinflusste, sondern der britische Außenminister Lord Balfour am 2. November die Errichtung einer ›nationalen Heimstätte‹ des jüdischen Volkes in Palästina versprach.
Fortan richtete sich das Augenmerk des Zionismus als nationaler Bewegung stärker auf die Auswanderung nach Palästina und begann die konkurrierende Traditionslinie des Arbeiterzionismus mehr und mehr in den Hintergrund zu drängen. Diesen Arbeiterzionismus repräsentierte vor allem der nach der russischen Revolution von 1905 im Jahr 1907 gegründete »Allweltliche Jüdische Sozialistische Arbeiterverband Poale Zion«, mit dessen Verhältnis zur Politik der Komintern sich Mario Keßler auseinander setzt. Sympathisierte die Mehrheit der russischen Juden 1917 zunächst mit der Februarrevolution und stand der Oktoberrevolution skeptisch gegenüber, erfolgte nach dem Ausbruch der Bürgerkrieges und der kriegerischen Interventionen von außen gegen die Herrschaft der Bolschewiki eine Hinwendung von beträchtlichen Teilen der Poale Zion zum radikalen Sozialismus: »Die Juden in der ganzen Welt beginnen immer mehr zu begreifen, dass ihre gesellschaftliche und nationale Selbstbehauptung untrennbar mit der Zerstörung des kapitalistischen Systems verbunden ist.« (S.17) Gleichzeitig geriet die gesamte Emanzipationsbewegung der Juden in die Mühlen der Weltpolitik. Die Balfour-Deklaration verfolgte unter anderem das Ziel, durch die Stärkung des auf Auswanderung und nicht auf Revolution gerichteten Zionismus Russland zu schwächen und auf gemäßigten Bahnen zu halten (S. 18).Tatsächlich scheiterten mehrjährige Verhandlungen der Linken der Poale Zion über ihren Beitritt zur Komintern, wohingegen sich die nichtkommunistisch orientierten Kräfte teils an der neuen »Sozialistischen Internationale« oder vorübergehend an der »2 1/2-ten Internationale«, der auch die USPD angehörte, beteiligten. (S. 20). Fazit Keßlers zur Beziehung zwischen Komintern und Poale Zion: »Der Hauptgrund der Unvereinbarkeit von Kommunismus und Linkszionismus war die gegensätzliche Sicht auf die Perspektiven revolutionärer Politik im Allgemeinen und auf die Lösung der jüdischen Frage im Besonderen. Während die Kommunisten diese Lösung nur im internationalen Maßstab für denkbar hielten, sahen die Poalezionisten in einem nationalen Territorium für die Juden die notwendige Voraussetzung einer sozialistischen Revolution.« (S. 30) Die weiteren drei Beiträge lauten »Sozialistischer Zionismus in der europäischen Revolution. Widersprüche emanzipatorischer Identitäten« (Jan Rybak), »Zwischen Sowjetrussland und Eretz Israel. Die Radikalisierung des österreichischen Arbeiterzionismus 1918-1920« (Christian Dietrich) sowie »Judentum, Islam und Russische Revolution« (Orel Beilinson). Hier stößt man auf hilfreiche Vertiefungen und vergleichende Kontextbildung zum Arbeiterzionismus der Revolutionszeit vor hundert Jahren. Unter den zahlreichen Buchbesprechungen finden sich weitere thematische Anknüpfungspunkte. So werden Biographien über den Berliner Arzt Julius Moses, den Frankfurter Sozialisten Bruno Asch, den Gewerkschaftsvorsitzenden Ludwig Rosenberg und ein Titel über die Auseinandersetzungen in der KPD mit dem Antisemitismus vorgestellt.
Im Jubiläumsjahr der Reformation widmet sich ein Schwerpunktbeitrag von Helmut Henicke der »Arbeiterbewegung und Reformationsrezeption vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg.« (S. 86-104) Der Autor lotet dabei deren »Erkenntnisse und Grenzen« aus. Henicke liegt die Rekonstruktion der historisch-materialistischen Aufarbeitung der Ereignisse der Reformation am Herzen, dabei stellt er bereits eingangs ein »geistesgeschichtliches Defizit« aus dem Blickwinkel der Arbeiterbewegung fest. Der Autor erinnert zunächst an Heinrich Heines positives Lutherbild, das ihn zu einem frühen Aufklärer stilisierte, der das päpstliche Wahrheitsmonopol gebrochen und eine Zeit der »religiösen Demokratie« ermöglicht habe. Diese durch den Vormärz geprägte Sichtweise nahm Luther für die demokratischen und nationalen Bewegungen in Beschlag und stand nicht von ungefähr im Kontext des ›Wartburgfestes‹ von 1817. Kritischer betrachtete Ferdinand Lassalle den Reformator, dem er Lessing vorzog, und sah nicht in der radikalen Bewegung der Bauern und Plebejer die revolutionäre Option, sondern im Bündnis zwischen Landesherren, Adel und Ritterschaft und dem Patriziat. Henicke pflichtet Lassalle im Kern bei und regt eine Neurezeption der damaligen, zwischen Lassalle und Engels geführten Debatte um Lassalles Drama Franz von Sickingen an. Engels wiederum hatte seine bedeutende Schrift Der deutsche Bauernkrieg verfasst, in der er Reformation und Bauernkrieg als ›Revolution No. 1 der Bourgeoisie‹ charakterisiert hatte. Diese Schlussfolgerung hatte er aus dem Vergleich der Zeit von 1517-1526 mit der Revolution von 1848/49 abgeleitet und somit das marxistische Paradigma von der ›frühbürgerlichen Revolution‹ geprägt, das die wissenschaftlichen Arbeiten der DDR-Historiographie bis weit in die 1980er Jahre dominierte. Henicke sieht dieses Paradigma kritisch, im Deutschland des 16. Jahrhunderts habe es keine nationale Kraft gegeben und Luther habe als einziger Revolutionär seinerzeit in Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Produktivkräfte und der politischen Alternativen gehandelt.
Franz Mehring indessen bewertete Luther als weniger wirkungsmächtig als etwa Jean Calvin in Genf. Luther habe deshalb so großen Widerhall gefunden und die Köpfe der Menschen erreicht, weil er »mit seiner Derbheit« die Sprache des Volkes sprach und mit seiner Kirchenkritik an der Papstkirche zur Bildung einer Volksbewegung entscheidend beitrug. Für Mehring waren Personen »Träger, nicht Schöpfer der Veränderungen«. Hierin sah Mehring Luthers historische Rolle, vor notwendigen sozialen Veränderungen habe er versagt, wie sein Verhalten den Bauern gegenüber dokumentiere. Damit stellte er sich nicht zuletzt der Glorifizierung Luthers durch die Hohenzollern entgegen.
Als letzter Protagonist einer historisch-materialistischen Lutherrezeption wird Karl Kautsky vorgestellt. Seine Arbeiten über Die Ursprünge des Christentums, Vorläufer des neueren Sozialismus und Thomas More und seine Utopie sind für Henicke die ausgereifteste Rekonstruktion der Verhältnisse des Reformationszeitalters, und dies sowohl inhaltlich als auch methodisch. Thomas More war für Kautsky der Typus eines radikalen Humanisten, wohingegen Thomas Müntzer das Vorbild eines mobilisierenden Kommunisten repräsentierte. Luther hingegen personifizierte für Kautsky einen dritten Revolutionärstypus, nämlich den des Vorkämpfers für das ›absolute Fürstentum‹, das letztlich das revolutionärste und erfolgsträchtigste Revolutionskonzept der damaligen Epoche darstellte. Damit rückte er in diesem Punkt näher an Lassalle heran. Henickes Fazit lautet, dass Luther endlich von den an seine Person geknüpften Instrumentalisierungen befreit werden müsse. Er ist sich sicher, dass eine Neurezeption der Arbeiten der genannten Klassiker des Sozialismus wesentlich mehr zu bieten habe als bisher wahrgenommen oder durch Determinismus verschüttet wurde. Voraussetzung für eine aktualisierte historisch-materialistische Analyse und Einordnung der Epoche der Reformation und der Person Luthers ist sicherlich eine Loslösung von gegenwartsgenetischen Erkenntnisinteressen und eine Hinwendung zu Erklärungen aus der Epoche selbst und ihren ökonomisch-politischen und ideologischen Strukturmustern heraus.
Zwei weitere Artikel über die Geschichte der Begrifflichkeit des ›Arbeitgebers‹ und des ›Arbeitnehmers‹ (Roland Karassek) und die Beziehungen zwischen SED und PCI angesichts des Prager Frühlings (Francesco di Palma) sowie drei Berichte und 28 Buchbesprechungen runden ein insgesamt sehr gut strukturiertes Heft ab.