- nationaljüdisch, sozialrevolutionär, kritisch gegenüber Zionismus und Marxismus
von Arno Klönne
Eine wissenschaftliche Studie über Chaim Zhitlowsky hat Kay Schweigmann-Greve jetzt veröffentlicht, als ideengeschichtlich-politische Biographie. Über wen? - So werden hierzulande auch belesene Interessenten an der Geschichte der Linken etwas verwundert fragen - die historische Gestalt, deren Werk und Wirken das Buch nachzeichnet, ist in der einschlägigen deutschen Literatur nicht zu entdecken, obwohl sie mit der Sozialdemokratie im Wilhelminischen Reich in vielen Verbindungen stand.
Zhitlowsky (1865 - 1943), russisch-jüdischer Herkunft, politischer Aktivist, Philosoph und außerordentlich produktiver Publizist, war unter anderem Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte (Berlin), Delegierter auf dem Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart und Miteigner des Akademischen Verlags für Sozialwissenschaften (Berlin und Bern), zu dessen Autoren Eduard Bernstein und Kurt Eisner zählten.
Dass so einer wie Zhitlowsky nahezu vergessen war, erklärt sich durch seine politischen und theoretischen Positionen im Spektrum der einstigen Arbeiterbewegung und auch im damaligen Judentum; er befand sich in mehrfacher Hinsicht auf der Seite der ›Verlierer‹ im historischen Prozess. Das betrifft seine politische Parteilichkeit wie auch das Konzept von jüdischer Zukunft, für das er sich werbend einsetzte.
Die europäische und ebenso die US-amerikanische Arbeiterbewegung in der Zeit vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg hat in großem Umfange engagierte Beteiligung von Menschen jüdischer Herkunft gefunden, und zeitweise waren jüdische politische Bünde und Gruppierungen im Feld sozialistischer Agitation und Organisation besonders lebhaft und auch mitgliederstark tätig. Das gilt vor allem für Osteuropa, fand seine Fortsetzungen jedoch in jenen Ländern, in die Juden emigrierten, zuerst fortgetrieben durch den Antisemitismus, der sich im Zarenreich verschärfte, und später noch einmal neu verjagt durch die hitlerdeutsche Judenverfolgung. Nur zum Teil war eine Hinwendung zur politischen Linken mit dem Bekenntnis zum Zionismus und der Eingliederung in zionistische Gruppierungen verbunden. Daneben gab es den Weg der Assimilation, hier in der spezifischen Form einer individuellen Integration in die sozialdemokratische oder kommunistische politische Sonderkultur, in der eine religiöse und ethnische ›Vorgeschichte‹ des Einzelnen keine Bedeutung mehr haben sollte.
Aber es bot sich einige Jahrzehnte hindurch noch eine ganz andere Perspektive an; und Zhitlowsky war einer ihrer wichtigsten Protagonisten. Seine Hoffnungen richteten sich gleichermaßen auf einen revolutionären Bruch mit dem despotischen System im zarischen Russland wie auf den internationalen Aufschwung der sozialistischen Organisationen und Parteien. Er war Mitbegründer der russischen »Sozialrevolutionäre«, die vor 1917 zeitweilig als systemoppositionelle Partei nicht weniger Einfluss hatten als die in Bolschewiki und Menschewiki gespaltene russische Sozialdemokratie. Sie legten besonderes Gewicht darauf, die unterdrückte Landbevölkerung für den »Agrarsozialismus« zu gewinnen. Zunächst waren sie liiert mit der »Sozialistischen Internationale«. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges und in der Zeit des staatlichen Zusammenbruchs in Russland entwickelte sich ein Teil der Partei hin zu einem liberal-bürgerlichen Konzept, die »linken Sozialrevolutionäre« hingegen wirkten mit bei der Oktoberrevolution. Dann kamen sie in Konflikt mit der Politik der Bolschewiki; später, in der Ära der Stalinschen »Säuberung«, galten ehemalige »Sozialrevolutionäre« ebenso als »verbrecherische Elemente« wie die »Trotzkisten«, und die Ideenwelt nichtmarxistischer Sozialisten war in der Sowjetunion verfemt.
Zhitlowsky hatte sich in jungen Jahren von der chassidisch-orthodoxen Tradition seines Elternhauses getrennt. Er entwarf in vielen Veröffentlichungen die Vision einer säkularen jüdischen Identität, in der historische Religiösität aufgehoben sein sollte. Das Judentum sollte sich länderübergreifend als »Kulturnation« verstehen, zusammengehalten durch die jiddische Sprache, der er den Vorzug gab vor dem Hebräischen. Nicht in einer Heimstätte »Zion« sollten die weltweit verstreuten Juden sich sammeln, sondern sich selbstbewusst einen eigenen kulturellen Platz, wo möglich auch ein eigenes Territorium schaffen in den verschiedenen Ländern; die Voraussetzung dafür sei es, Demokratie und Sozialismus durchzusetzen. Folgerichtig bestand Zhitlowsky darauf, dass in den sozialistischen Parteien und Verbänden diejenigen, die sich zur jüdischen Kulturnation bekannten, das Recht auf eine eigene Organisationsform bekämen. Im Rahmen der Partei der »Sozialrevolutionäre« bestand denn auch ein »Jüdischer Arbeiterbund«. Ähnlich agierten die jüdisch-sozialistischen »Bundisten«, die vor allem im polnischen Terrain des Zarenreiches viel Anhang hatten. Im zarischen Staatsgebiet, dort oft illegal, aber auch in westlichen Ländern existierten damals in großer Zahl Zeitschriften und Zeitungen in jiddischer Sprache, auch jiddische Kulturvereine und lokale Treffpunkte. Viele von ihnen hatten ihr Publikum in der jüdischen Arbeiterschaft und neigten zur politischen Linken. Insofern hatte Zhitlowsky, der unentwegt in dieser Szene als Autor, Redakteur und Redner mitwirkte, Anhaltspunkte für sein national-jüdisches Projekt mit jiddischer Ausrichtung in den realen Lebensverhältnissen des Judentums international.
Seit 1888 lebte Zhitlowsky ganz überwiegend außerhalb Russlands. Sprachbegabt publizierte er auf Russisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch. Ein Großteil seiner Studien und Veröffentlichungen beschäftigte sich mit Philosophiegeschichte und philosophischen Kontroversen; als Kritiker marxistischer Theorien zog er sich u.a. den Ärger von Karl Kautsky zu. Will man ihn wissenschaftlich kategorisieren, lässt er sich als Neokantianer und sozialistischer Ethiker bezeichnen. Nach der Machtübernahme des Faschismus in Deutschland zeigte der in den USA lebende Zhitlowsky, obwohl eindeutiger Gegner des Bolschewismus, Verständnis für die Stalinsche Politik. Er sah darin eine Chance, das Judentum zu retten. Das erwies sich als Illusion.
Die Hoffnungen, welche Zhitlowsky in einen »jiddischen Sozialismus« setzte, hat die Geschichte brutal zerschlagen. Das osteuropäische Judentum, aus dem er mit seinen Erfahrungen und Konzepten kam, wurde ausgelöscht. In der internationalen Arbeiterbewegung heute sind jüdische Organisationen kaum noch von Bedeutung. Das alles ist ein großer historischer Verlust; ganz falsch wäre es, nun die ›Verlierer‹ in der Politik- und Ideengeschichte dem Vergessen zu überlassen. Die Studie über Zhitlowsky ist als Lektüre zu empfehlen.
Kay Schweigmann-Greve: Chaim Zhitlowsky, Philosoph, Sozialrevolutionär und Theoretiker einer säkularen nationaljüdischen Identität, Hannover (Wehrhahn Verlag) 2012, 472 Seiten.
Auch erschienen in: Jüdische Zeitung, Berlin (Dezember 2012)