von Helmut Dahmer
Im Oktober 1905 wurde ein 24jähriger Feuerkopf in die Exekutive des Petersburger Arbeiter-Delegiertenrats gewählt, der unter dem Pseudonym »N. Trotzki« in drei Zeitungen schrieb und als einer der besten Redner der revolutionären Bewegung galt. Der junge Mann war der Sohn eines wohlhabenden, jüdischen Bauern im südrussischen Gouvernement Cherson. Bücher gingen ihm schon in seiner Kindheit über alles.
Er besuchte ein Gymnasium, bildete sich selbst durch umfangreiche Lektüre und studierte kurze Zeit an der Universität Odessa Mathematik. Im Frühjahr 1897, also ein Jahr vor der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), organisierte er einen Südrussischen Arbeiterbund (der etwa 200 Mitglieder umfasste und für den Bronstein-Trotzki eine eigene Zeitschrift schrieb und vervielfältigte) und wurde im darauf folgenden Jahr wegen seiner illegalen Aktivitäten verhaftet.
Im Gefängnis eignete er sich die Marxsche Theorie »in einer nichtdogmatischen Form« an, nämlich in der Interpretation, die ihr der italienische Hegelianer-Marxist Antonio Labriola gegeben hatte. Der Deutungsrahmen, den sich der politische Gefangene aus der Lektüre von Labriola, Plechanow und Kautsky, Marx und Engels zurechtzimmerte, lässt sich etwa folgendermaßen skizzieren: Die Menschen einer jeden Epoche kämpfen in den formellen oder informellen Korporationen (Kasten, Ständen oder Klassen), denen sie angehören, um eine Verbesserung ihres Lebens, um Arbeitszeit und arbeitsfreie Zeit. Sie leben in drei Sphären: in der natürlichen, in der – nur scheinbar natürlichen – gesellschaftlichen und in der geistigen Welt ihrer Selbst-, Natur- und Gesellschaftsdeutungen. Das durch die Arbeit vieler Generationen umgestaltete natürliche Milieu, die Organisationsformen von Arbeit und Herrschaft (Institutionen) und die Bewusstseinsformen (Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie) bilden zusammen die »Totalität« der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Bei ihrem Kampf um das Überleben und um das gute Leben sind die vergesellschafteten Individuen auf die Kenntnis ihrer kulturellen Tradition (der herrschenden ebenso wohl wie der unterdrückten) und der jeweils entwickelten Formen der Traditionskritik ebenso angewiesen wie auf das Arsenal der Techniken zur Natur- und Menschenbeherrschung. Die gesellschaftliche Praxis ist (besonders im kapitalistischen Zeitalter) eine weithin bewusstlose; ihre historisch-spezifischen Formen müssen erst aufgedeckt werden. Die Philosophie ist im Grunde immer Sozialphilosophie, und die im 19. und 20. Jahrhundert aus ihr entwickelten Spezialdisziplinen der Wissenschaft von der Gesellschaft und von der Politik dienen der Konkretisierung und »Verwissenschaftlichung« der philosophischen Interpretation der Gegenwart. Die Soziologie, vor allem auch die marxistische, folgt, sofern sie etwas taugt, dem von Auguste Comte (dem reaktionären Schüler des Frühsozialisten Saint-Simon) formulierten Programm, die widersprüchlichen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft zu erforschen, also das, was in ihr sich vorbereitet, beizeiten zu antizipieren, um unheilvolle Entwicklungen abwenden und neue Möglichkeiten nutzen zu können. Trotzki zitierte gern Ferdinand Lassalles Maxime, jederzeit »auszusprechen, was ist«. Das, was ›ist‹, ist aber keineswegs das, was auch die Mehrheit der Zeitgenossen schon sehen kann oder wahrhaben will. Darum bedarf es einer ›Wissenschaft‹ der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Soziologe braucht Bundesgenossen. Liefern ihm die Philosophen ›Ideen‹ und Begriffe, so sind die Künstler, vor allem die Dichter, seine Verbündeten. Gerade eine ›autonome‹ Kunst, die sich der moralischen und politischen Propaganda verweigert, vermag es, Vergangenheit und Gegenwart ungeschminkt zu vergegenwärtigen und die Zukunft zu antizipieren. Die Gesellschaftsdiagnose bedarf unabhängiger (angstfreier) Autoren, die sich »hellsichtig« machen (Arthur Rimbaud), also versuchen, ein Stück weit über die Illusionen ihrer Epoche (ihrer Klasse, ihrer Partei, ihrer Clique) hinauszukommen, mehr und anderes zu sehen als ihre Zeitgenossen, und das Gesehene in Essay und Traktat zu formulieren oder in Verse, Bilder und Töne zu fassen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist keineswegs, wie die heutige Ideologie es will, eine einfache Funktion des Fortschritts der Naturerkenntnis und ihrer technischen Anwendungen; vielmehr geben die gesellschaftlichen Verhältnisse den Rahmen ab, in dem bestimmte naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken überhaupt erst möglich werden (während andere unentdeckt bleiben, nicht zur Entwicklung kommen oder in Vergessenheit geraten). Die gesellschaftliche Nachfrage entscheidet über die Richtung, die das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse und die technische Entwicklung nehmen.
Ohne Prozess (»administrativ«) auf vier Jahre nach Sibirien verbannt, wurde der Zweiundzwanzigjährige bald zum Sprecher der sozialdemokratischen Sibirischen Union und zu einem Schriftsteller, dessen Ruhm bis nach Petersburg und Moskau drang. Unter dem Pseudonym »Antid Oto« veröffentlichte er, (meist) in der Östlichen Rundschau, die in Irkutsk herauskam, eine ganze Serie von Sozialreportagen und von Essays nicht nur über russische Literatur (Balmont, Herzen, Berdjajew, Solowjew, Dobroljubow, Gogol, Uspenski, Andrejew), sondern auch über die damals aktuelle ›westliche‹ Literatur – über Nietzsche und Hauptmann, Ibsen und Schnitzler…
Der junge Trotzki entschied sich zu Beginn des Jahrhunderts gegen ein Studium und für die Organisation von illegalen Arbeiterzirkeln. Das Universitätsmilieu blieb ihm fremd, und von der Bohème und den Intellektuellen distanzierte er sich. Er war ein revolutionärer Literat, der das Interesse am Geschichte-Machen mit dem am Geschichte-Schreiben verband, und ein ingeniöser Gesellschaftstheoretiker. Seine enorme Fähigkeit zu Organisation und Administration und sein Talent als Militärstratege wurden erst sichtbar, als er im Frühjahr 1918 die Rote Armee aufbaute, die er dann zum Sieg im russischen Bürgerkrieg führte. Seine ›Welt‹ war die Gegenöffentlichkeit der in der II., sozialdemokratischen Internationale locker zusammengeschlossenen internationalen Arbeiterorganisationen, der Kosmos der Gewerkschaften und Genossenschaften, der anarchistischen, reformistischen, pazifistischen und revolutionär-marxistischen Strömungen und Fraktionen, der Massenparteien, Parlamentsfraktionen und illegalen Verschwörerzirkel. Die damalige Arbeiterbewegung verfügte über ein ausgedehntes Pressewesen und über eigene Verlage, die Hunderte von Journalisten und Redakteuren eine Existenzbasis boten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zerbrach dieser Kosmos der Vorkriegs-Arbeiterbewegung, und was davon überlebte, löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich auf. Trotzki bewegte sich in der Welt der sozialdemokratischen Organisationen als ein keiner Fraktion zugehöriger, nonkonformer Journalist und politischer Analytiker, der die Deutung der gesellschaftlichen Situation und der jeweils aktuellen politischen Auseinandersetzungen (vor allem auch der Konflikte innerhalb der Arbeiterbewegung) zu seinem Metier machte. Dass er nicht nur in der russischen, sondern auch in der deutschen und polnischen Sozialdemokratie gehört wurde, verdankte er einzig der Schärfe seines Intellekts und der Prägnanz seines Stils. Das Schreiben wurde für ihn zu einer wahren Leidenschaft, er lebte mit der Feder und von der Feder. Aus Dutzenden von Stellungnahmen, Briefen, Artikeln und Essays wurden im Laufe der Jahre viele Hunderte, und zu den Dutzenden von Broschüren gesellten sich nach und nach dicke Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Immer wieder gründete er eigene (russische) Zeitschriften wie die Wiener Prawda (1908-12), Unser Wort (Paris, 1915-16) und schließlich das berühmte Bulletin der Opposition (Berlin, Paris, New York, 1929-1941), die er nicht nur redigierte, sondern zum guten Teil auch selbst schrieb (wie Karl Kraus seine Wiener Fackel [1899-1936] und Franz Pfemfert in Berlin Die Aktion [1911-1932]). Wollte man Trotzkis Schriften und Briefe vollständig publizieren, würden sie etwa 80 starke Bände füllen.
Was an Trotzkis Publizistik fasziniert, ist zum einen die Geistesgegenwart dieses Autors, der mit seinen Kommentaren den Ereignissen immer dicht auf den Fersen war und schon die nächsten Etappen der Entwicklung realistisch antizipierte. Zum anderen ist es seine Fähigkeit, sich vom »Gang der Ereignisse« nicht überwältigen zu lassen, sondern mit hoch entwickeltem Möglichkeitssinn Auswege aus scheinbar hoffnungslos verfahrenen Situationen zu finden. Das bedeutendste Beispiel dafür sind seine in den Jahren 1929-1933 aus dem fernen Prinkipo nach Deutschland geschickten, laufenden Kommentare zur Agonie der Weimarer Republik und seine Aufrufe an die KPD-Führung, ihren von Moskau diktierten ›ultralinken‹ Isolationskurs zu korrigieren und mit den reformistischen Gewerkschaften und der SPD eine Einheitsfront gegen die Hitlerbewegung zu bilden. Trotzki mokierte sich gelegentlich über Soziologen, die nichts vorhersehen, darum in schwierigen Situationen ratlos sind, post festum aber in aufschlussreichen Studien zeigen, warum alles so kommen musste, wie es kam. (Heute sind selbst solche Soziologen rar geworden…) Er selbst analysierte die politische Situation stets in praktischer Absicht, das heißt: seine Diagnose führte zu Interventionsvorschlägen oder Handlungsanweisungen für bestimmte Gruppen und Organisationen, die auf der Suche nach einem Ausweg waren. Sehen wir von den Jahren 1918-1923 ab, in denen Trotzki an der Macht war, zur revolutionären sowjetischen Regierung gehörte und Armeen kommandierte, dann hat dieser revolutionäre Intellektuelle ein Leben lang immer zu einer radikalen Minderheit gehört oder gar eine Ein-Mann-Partei gebildet.
Wer politisch handeln will, muss mit Alternativen rechnen lernen, und wer Geschichte schreibt, muss nicht nur herausfinden, warum es so kam, wie es kam, sondern auch, wie es (ganz) anders hätte kommen können. Wie der Historiker ist auch der Revolutionär auf Gedankenexperimente angewiesen; er muss seinen Möglichkeitssinn kultivieren, indem er aus dem Faktorengefüge bestimmter geschichtlicher Situationen einzelne Faktoren isoliert und sie dann variiert, um die Folgen solcher Änderungen für den Verlauf der Ereignisse abschätzen zu lernen. In seinem Tagebuch aus dem Jahre 1935 suchte Trotzki zum Beispiel retrospektiv abzuwägen, welche Bedeutung die Anwesenheit (oder Abwesenheit) zweier Personen für den Verlauf der russischen Revolution im Herbst 1917 hatte (beziehungsweise gehabt hätte). Er schreibt: »Wären sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend [gewesen], so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben: Die Führung der bolschewistischen Partei hätte ihren Ausbruch verhindert.« Trotzki, politischer Akteur und Historiker in Personalunion, war ein Meister solcher historisch-politischer Gedankenexperimente. Aus bestimmten geschichtlichen Prozessen (etwa dem Verlauf der französischen oder der russischen Revolution) destillierte er Modelle (»Doppelherrschaft«, »Julitage«, »Thermidor«, »Bonapartismus« etc.), mit deren Hilfe sich dann Gegenwärtiges (Uneindeutiges, Undurchsichtiges) und Vergangenes (schon transparent Gewordenes) in aufschlussreicher Weise miteinander vergleichen ließen. Trotzki war kein ›Prophet‹, sondern ein Prognostiker. Seine Prognosen beruhten auf Gedankenexperimenten und historischen Analogien, auf dem Abwägen verschiedenartiger Entwicklungsmöglichkeiten, auf dem gedanklichen Operieren mit Tendenzen und Gegentendenzen von unterschiedlicher Durchsetzungskraft. Lassen sich partielle Analogien zwischen einer schon modellierten Vergangenheit und dem aktuellen Geschehen aufspüren, dann kann man mehr oder weniger wahrscheinliche Varianten der weiteren Entwicklung antizipieren. Solche Konjekturen bleiben stets ungewiss, und so finden sich bei Trotzki neben erstaunlich treffsicheren Vorhersagen auch nicht wenige Fehlprognosen. Ohne Gedankenexperimente (Rekonstruktionen und Antizipationen) ist aber eine Orientierung über Vergangenheit und Gegenwart gar nicht möglich. Die Einbildungskraft, die Fähigkeit, auch das, was noch nicht ist, präzise sich vorzustellen und diese Vision auszugestalten, ist dem Künstler, dem guten Historiker und dem Revolutionär eigen. Aus dem vorliegenden ›Material‹, den Faktoren und Fakten von heute, schließen sie auf deren Wirkung, also auf die zu erwartenden ›Tathandlungen‹ und ›Tatsachen‹ von morgen und übermorgen. Jede Darstellung der Fakten bedarf des Vorgriffs auf ihren Zusammenhang, also einer Fiktion, die sich im Weiteren bewährt oder auch nicht. Ohne Hypothesen, die unsere Aufmerksamkeit lenken und dem, was wir suchen, erst Bedeutung verleihen, können wir ›Tatsachen‹ weder entdecken noch konstatieren. Erst auf dem Hintergrund von Fiktionen (oder Theorien) erscheinen die Fakten als Fakten.
Der Literat im Revolutionär motivierte Trotzki dazu, die Romane der zeitgenössischen Schriftsteller mit demselben Interesse zu studieren wie politische Erklärungen und Programme; die Literatur diente ihm als ein willkommenes Komplement der Geschichtsschreibung. Er sah wirklich ›mehr‹ als seine Zeitgenossen, Freunde und Gegner, sah tiefer in den Malstrom der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinein und darum auch weiter über die Gegenwart hinaus, und er verfügte über die Fähigkeit, das von ihm Gesehene darzustellen. Sprache und Stil Gogols und Tolstois waren ihm ebenso vertraut wie die Prosa Isaak Babels und die Dichtungen Pasternaks und Jessenins. Sein origineller, prägnanter Stil macht seine längst vergilbten Briefe und vergessenen Polemiken noch heute lesenswert. Trotzki war ein Möglichkeitsdenker, ein phantasievoller Soziologe. In den Jahren 1904-1906 entwickelte er als einziger der bekannten Sozialdemokraten, der schon in der ersten russischen Revolution eine führende Rolle spielte, eine realistische Prognose für die nächste revolutionäre Welle. (Und 1917 tat er alles, was in seinen Kräften stand, um dieser Prognose Geltung zu verschaffen…) In den dreißiger Jahren war er der einzige Zeitgenosse, der imstande war, das Sphinx-Rätsel der beiden neuartigen totalitären Regime, des russischen und des deutschen, zu lösen, die zwar der Verteidigung unterschiedlicher Wirtschaftssysteme dienten, im Ausmaß ihrer Destruktivität aber einander ähnelten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs richtete er die Aufmerksamkeit auf das unheilvolle »Zwillingsgestirn« Hitler-Stalin, von denen der eine das revolutionäre Potential der deutschen Arbeiterklasse, der andere das der russischen zerstörte.
Abgesehen von den Jahren 1918-23, in denen er an der Macht war, stand Trotzki sein Leben lang in der Opposition. Wer nicht kommandieren kann oder Gewalt anwendet, der muss argumentieren und plädieren, er kann nur warnen und appellieren. Trotzkis Schriftstellerei war ein beständiges Argumentieren mit anders denkenden Sozialisten, ein Polemisieren mit Gegnern, ein lebenslanger Dialog mit der (wirklichen oder virtuellen) Vorhut der internationalen Arbeiterklasse. Er bevorzugte die Form des literarischen Gesprächs und des Appells an das wohlverstandene Interesse seiner Partner und Kontrahenten. Zwei Beispiele von vielen: Gegen Ende Februar 1933 schrieb er für die Zeitschrift der deutschen Trotzkisten, Unser Wort, die Mitte März in Prag herauskam, ein »Gespräch mit einem sozialdemokratischen Arbeiter«, in dem er zu später Stunde noch einmal alle Argumente für die Bildung einer Abwehr-Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen den Faschismus zusammenfasste. Im August 1934 konzipierte er einen fiktiven Dialog zweier Ingenieure, Cooper und Troschin, die sich, auf der Überfahrt nach Amerika, darüber unterhielten, was die Folge einer kommunistischen Revolution in den Vereinigten Staaten wäre. Oft predigte Trotzki tauben Ohren, gingen seine Plädoyers im Geschrei und Tumult seiner mit Blindheit geschlagenen, hasserfüllten Gegner unter. Ein trauriges Beispiel dafür bieten die fünf großen Reden, die er vor seinem Parteiausschluss im November 1927 vor den Leitungsgremien der KPdSU beziehungsweise der Komintern hielt. Die stenographischen Protokolle dieser Konferenzen zeigen, wie er versuchte, sich gegen die lärmende Meute der gegen ihn eingeschworenen stalinistischen Funktionäre zu behaupten ein freier Geist unter Banausen, der zu lauter Todgeweihten und künftigen Massenmördern sprach, die sich von ihrem Schicksal noch nichts träumen ließen.
Gegen den »Substitutionismus«
Im Sommer 1902 gelang Trotzki die Flucht aus der sibirischen Verbannung. Über Petersburg, Wien, Zürich und Paris reiste er nach London, wo die Emigrationsführung der russischen Sozialdemokratie die Zeitschrift Iskra (Der Funke) herausgab, die zu den illegalen sozialdemokratischen Gruppen in den städtischen Zentren des Zarenreichs geschmuggelt (oder auch von ihnen nachgedruckt) wurde. Trotzki, der in diesem Kreis bald respektvoll ›Die Feder‹ hieß, unterstützte in den innerredaktionellen Auseinandersetzungen zunächst Lenin, dann, seit der Spaltung der russischen Sozialdemokratie, die Gruppe um Julius Martow und Paul Axelrod (der, wie Plechanow, zur älteren Generation der Iskra-Gruppe gehörte). Schließlich ging er zu beiden Fraktionen auf Distanz – zu der Gruppe der »Harten« um Lenin, die auf dem (im Juli-August 1903 zuerst in Brüssel und dann in London tagenden) 2. Parteitag in der Frage der Mitgliedschaftsdefinition und der Leitungsstruktur der Organisation eine knappe Mehrheit (daher der Name »Bolschewiki«) erzielt hatten, wie zu der unterlegenen (»menschewistischen«) Gruppe der »Weichen« um Martow.
In den sozialen Kämpfen bilden sich aufklärerische Intellektuellengruppen aus, deren Mission es ist, den Kämpfenden zeigen, worum sie eigentlich kämpfen. (Gleichzeitig entstehen Gruppen von Demagogen, die darin wetteifern, ihrem Publikum fatale Heilmittel anzupreisen und ihm Wege zu weisen, die in den Untergang führen.) Soziologen, Journalisten, Redner und Organisatoren ringen um die (relative) Wahrheit über eine gesellschaftliche Situation und konkurrieren um Einfluss und Anhänger. Ihre Adressaten sind unorganisierte oder schon organisierte Massen auf der einen Seite, ihre Konkurrenten auf der anderen. Die Massen der Ausgebeuteten und Machtlosen lernen aus Erfolgen und Niederlagen; für sie besteht keine herrschaftsfreie Situation, sie kennen nur deformierte Debatten, in denen das richtige Argument wenig gilt und der demagogische Slogan alles. Nicht nur der Kampf mit dem politischen Gegner, sondern auch der Kampf konkurrierender Organisationen und Fraktionen nimmt oft ›barbarischen‹ Charakter an. Reformistische und revolutionäre Arbeiterorganisationen können verboten und zerstört werden, sie können aber auch degenerieren, indem eine Clique von Parteiführern und Funktionären sich dauerhaft der Kontrolle durch die Mitglieder entzieht und deren Willensbildung erfolgreich manipuliert. Jan Machajski, dessen (anarchistische) Schriften Trotzki während seiner ersten Verbannung las, hatte als erster davor gewarnt, dass die Intellektuellen die sozialdemokratischen Organisationen dazu missbrauchen könnten, eine Herrschaft über das Proletariat zu errichten. Robert Michels beschrieb dann am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie, wie eine Funktionärs-Oligarchie die Herrschaft über eine demokratische Massenorganisation erringt. Trotzki hat 1935/36 (auf den Spuren Lenins) Stalins Despotie als das Resultat einer bürokratischen Degeneration des »Arbeiterstaats« gedeutet. Revolutionsfähige Organisationen (Parteien) sollen konträren Anforderungen genügen. Einerseits haben sie es mit einem hoch zentralisierten Gegner (international operierenden Kapitalgesellschaften, Armee, Bürokratie und Geheimdiensten) zu tun und müssen daher als Kampforganisationen selbst zentralistisch (um nicht zu sagen ›armeeförmig‹) strukturiert sein. Zum anderen sollen sie eine Schule nicht nur der kämpferischen Aktion, sondern vor allem des Lernens, der Bewusstseinsbildung und der Selbstverwaltung sein. Gegen die bürokratische Degeneration solcher Organisationen ist kein anderes Kraut gewachsen als die permanente innerparteiliche Diskussion und die Spontaneität der Mitglieder. Der jeweils ›richtige‹ Kurs lässt sich nur im Kampf der Meinungen und Fraktionen herausfinden. Als zentralistische sind die Arbeiterorganisationen Produkte ihrer Gegenwart, als demokratische antizipieren sie in ihrem Inneren schon die Zukunft, einen »Verein freier Menschen« (Marx). Die organisatorische Lösung dieses Zielkonflikts, die den Sozialdemokraten und Kommunisten im frühen 20. Jahrhundert vorschwebte, bezeichneten sie als »demokratischen« (im Unterschied zum »bürokratischen«) Zentralismus: So viel innerparteiliche Demokratie wie möglich, so viel Aktionseinheit wie nötig. Die revolutionären Parteien sind Kampforganisationen, die den Sieg im Klassenkampf ermöglichen und sich damit überflüssig machen sollen; sie sind ein Mittel zur Selbstbefreiung der internationalen Arbeiterschaft, die die Weltgesellschaft reorganisieren und entstaatlichen soll.
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in der russischen Sozialdemokratie eine lebhafte Auseinandersetzung um die ›richtige‹ Organisationsform der Partei, die den Kampf gegen den Zarismus und für die Befreiung der Arbeiter und Bauern anführen sollte. Im März 1902 erschien Lenins Broschüre Was tun? in russischer Sprache im Stuttgarter Dietz-Verlag – ein flammendes Plädoyer für die Umwandlung der illegalen sozialdemokratischen Partei in einen »Orden der Berufsrevolutionäre« (Trotzki). Lenin schwebte eine militante, zentralistisch geführte Geheimorganisation vor, die es mit der zaristischen Geheimpolizei aufnehmen konnte und deren Akteure die reformistisch gesinnten Arbeitermassen mit revolutionärem Klassenbewusstsein erfüllen und dazu anleiten sollten, den Kampf um die Fabriken und um den Staat aufzunehmen. Auf dem II. Parteitag der SDAPR setzten Lenin und seine Anhänger alles daran, das Statut der Partei und deren Leitungsgremien in ihrem Sinne umzugestalten, was zu einer (irreparablen) Parteispaltung führte. Trotzki, der auf diesem Kongress die sibirische Parteiorganisation vertrat und zunächst Lenin unterstützt hatte, schlug sich im Verlauf der Debatte auf die Seite der Minderheit und schrieb, unmittelbar nach dem Parteitag, einen kritischen Bericht über dessen Verlauf, der, mit einem Nachwort versehen, noch 1903 (in russischer Sprache) in Genf als Broschüre herauskam. In scharfer Form machte er gegen Lenins »bürokratischen Zentralismus« Front: Lenin zerstöre machtgierig wie ein (kleiner) Robespierre die bestehende Struktur der Partei, doch auch der Leninsche Zentralismus werde (wie einst der jakobinische) scheitern, weil er den Parteimitgliedern zu viele Ausschlüsse (»Exekutionen«) und zu wenig »Brot« beschere. Lenin seinerseits verfasste im Frühjahr 1904 eine umfangreiche Rechtfertigungsschrift, die auf einer minuziösen Analyse des Parteitagsprotokolls beruhte und im Mai (ebenfalls in Genf) als Buch erschien. Lenin schrieb, die Partei der Berufsrevolutionäre werde so radikal sein wie in der Zeit der französischen Revolution der Jakobinerklub, werde sich aber nicht gegen die »Sansculotten« (die Plebejer von Paris) stellen, sondern im Bunde »mit dem Volke« Russland revolutionieren. Trotzki erwiderte darauf mit einer im August 1904 in Genf gedruckten Broschüre – Unsere politischen Aufgaben –, in der er eine organisatorische Antithese zu Lenins Was tun? entwickelte. Unsere politischen Aufgaben war ein anti-substitutionistisches Manifest, das im Grundzug schon Trotzkis berühmtes Plädoyer für die innerparteiliche und die Arbeiterdemokratie vorwegnahm, mit dem er, knapp zwei Jahrzehnte später, den Kampf der Linken Opposition gegen den (von Stalin beherrschten) nachrevolutionären Parteiapparat eröffnete. Trotzki stellte die Sozialdemokraten des frühen 20. den Jakobinern des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegenüber. Bei den Jakobinern hatte es sich um eine Gruppe radikaler bürgerlicher Revolutionäre gehandelt, die sich (und ihr Programm) in einer historisch aussichtslosen Situation mit Hilfe des Terrors zu behaupten suchten. Die Sozialdemokraten hingegen bildeten eine Vorhut von Revolutionären, die im Dialog mit der Arbeiterklasse einzig auf deren allmählich sich entwickelndes Bewusstsein (ihrer Lage und ihrer Möglichkeiten) und auf ihre Spontaneität setzten. Die Jakobiner, schrieb Trotzki, »waren Utopisten, wir wollen die Repräsentanten objektiver Tendenzen sein. […] Sie hieben Köpfe ab, wir erfüllen sie mit Klassenbewusstsein.« Sein glänzend geschriebenes Pamphlet gegen Lenin, den »zentralistischen Substituteur« und »Mystiker der organisatorischen Form«, war die erste bedeutende Veröffentlichung der »Feder«. In Lenins Konzeption und Auftreten sah er nicht nur einen Anachronismus, sondern eine tödliche Gefahr für die künftige Arbeiterbewegung die der bürokratischen Entartung ihrer Organisationen und der Aufrichtung einer persönlichen Diktatur über die Partei und die Arbeiterklasse. »Die Jakobiner waren reinste Idealisten.« Sie glaubten an die absolute Geltung der von ihnen erkannten Wahrheit, und »sie glaubten, dass einige Menschenhekatomben zur Errichtung eines Piedestals für diese ›Wahrheit‹ kein zu teurer Preis seien.« In Bezug auf eine Erklärung von Lenin-Anhängern im Ural schrieb Trotzki, diese hätten jedenfalls den Mut, »offen zu erklären, dass die Diktatur des Proletariats ihnen als Diktatur über das Proletariat sich darstellt: nicht die selbsttätige Arbeiterklasse, die das Schicksal der Gesellschaft in ihre Hände nimmt, sondern die starke und mächtige Organisation, die über das Proletariat und durch es über die Gesellschaft herrscht, wird den Übergang zum Sozialismus sichern.« Im Verhältnis der Parteiführung zu den Parteimitgliedern sah Trotzki dasjenige der künftigen Führung eines Arbeiterstaats zur Arbeiterklasse vorgezeichnet. Indem er Lenins Berufung auf die Jakobiner ernstnahm und die Konsequenzen seiner »substitutionistischen« Konzeption antizipierte, gelang ihm ein Fernblick in die düstere Zukunft der russischen Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg, die zur selben Zeit ebenfalls eine Kritik der Leninschen Vorstellungen von der Partei und von der Diktatur des Proletariats zu Papier brachte, kam (unabhängig von Trotzki, aber in Formulierungen, die den seinen zum Verwechseln ähnlich waren) zu denselben Schlüssen: Sie schrieb: Es ist »unseres Erachtens verkehrt, zu denken, dass sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation vorläufig durch eine übertragene Alleinherrschaft der Zentralgewalt der Partei ersetzen lasse und dass die fehlende öffentliche Kontrolle der Arbeitermassen über das Tun und Lassen der Parteiorgane ebenso gut durch die umgekehrte Kontrolle der Tätigkeit der revolutionären Arbeiterschaft durch ein Zentralkomitee ersetzt wäre«. Trotzki und Luxemburg waren einander im Habitus und in der Argumentation so ähnlich, dass sie einander eigentlich nicht wahrnahmen. Und so gibt es auch keine Bezugnahme der einen auf die Lenin-Kritik des anderen. Beide optierten im Hinblick auf eine künftige Diktatur des Proletariats gegen das Modell des zentralistisch-terroristischen Jakobinerstaats und für das Modell des »absterbenden« Rätestaats der Pariser Kommune, das sich im Revolutionsjahr 1917 auch Lenin programmatisch zu eigen machte.
Jakobiner und Stalinisten
In den Jahren 1904-06 entwickelte Trotzki, unter maßgeblichem Einfluss des damals in München lebenden, marxistischen Wirtschaftstheoretikers Alexander Parvus-Helphand, seine Theorie der »Permanenten Revolution«. Abweichend von den Erwartungen und Zielsetzungen der Bolschewiki und Menschewiki argumentierte er, dass in einem vergleichsweise rückständigen Bauernland mit »kombinierter Entwicklung«, in dem (noch im Jahre 1917) 100 Millionen Bauern nur 5 Millionen Fabrik- und Transportarbeiter gegen-überstanden, die minoritäre Arbeiterklasse – vorausgesetzt, sie verfüge über eine vorausschauende und entschlossene Führung – nicht nur anstelle der handlungsunfähigen russischen Bourgeoisie deren »normale« Aufgaben erfüllen werde, sondern, einmal im Besitz der Staatsmacht, um ihrer Selbsterhaltung willen zu antikapitalistischen Maßnahmen greifen müsse. Das weitere Schicksal der russischen Arbeiterregierung, die einen Großteil der Bauernschaft zum Verbündeten gewinnen könne, hänge dann von der Entwicklung in den ökonomisch und politisch fortgeschritteneren europäischen Staaten ab. Diese Perspektive und seine Absage an den Jakobinismus (»Substitutionismus«) motivierten Trotzki dazu, schon zu Beginn der Revolution von 1905 nach Russland zurückzukehren und gegen Ende des Jahres eine führende Rolle im Petersburger Arbeiterdelegiertenrat zu übernehmen. Im Gefängnis gab er dann (im Juni 1906) seiner Revolutionstheorie – in dem berühmten Schlusskapitel »Ergebnisse und Perspektiven« seines Buches über die Revolution von 1905 – die definitive Formulierung. Den Ersten Weltkrieg deutete er 1914 als eine (destruktive) Rebellion der Produktivkräfte gegen das kapitalistische Privateigentum und den Nationalstaat. Der gemeinsame Kampf gegen den Krieg führte zu einer langsamen Annäherung der Kontrahenten von 1904, und im Mai 1917 verbündete sich Trotzki mit Lenin, der inzwischen (in seinen »Aprilthesen«) der bolschewistischen Partei die Aufgabe gestellt hatte, auf die Eroberung der Macht und die Bildung eines »Kommunestaates« hinzuarbeiten, der die Wirtschaft des Landes kontrollieren sollte. Der weitere Verlauf der Revolution des Jahres 1917 entsprach im Wesentlichen dem Szenarium, das Trotzki 11 Jahre zuvor in »Ergebnisse und Perspektiven« entworfen hatte. Da die Bolschewiki für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen eintraten, alle Macht den Räten, das Land den Bauern und die Fabriken den Arbeitern zu geben versprachen, eroberten sie bald die Mehrheit in den basisdemokratischen, städtischen Räteorganisationen. Im November bemächtigten sie sich der Staatsmacht durch einen (von Trotzki geleiteten) bewaffneten Aufstand. Anschließend verteidigten sie ihre Herrschaft, die sie mit der »Diktatur des Proletariats« gleichsetzten, mit Hilfe der von Trotzki organisierten und geführten Roten Armee in einem dreijährigen Bürgerkrieg erfolgreich gegen weißgardistische und imperialistische Truppen. Doch der Bürgerkrieg fraß die Demokratie, zuerst die freie Presse und die nichtkommunistischen Parteien, dann die Räte und schließlich auch die innerparteiliche Demokratie der Kommunistischen Partei. Die KPdSU ging aus dem Bürgerkrieg als eine militarisierte Massenorganisation hervor, deren Funktionäre unkontrolliert über Staat und Wirtschaft verfügen konnten. Zum Erbe des Bürgerkriegs gehörten ein ständig wachsender Staatsapparat, die Geheimpolizei (Tscheka), Arbeits- und Internierungslager und die verhängnisvolle Gewohnheit, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Die dezimierte russische Arbeiterschaft war kaum mehr in der Lage, Partei und Staat zu kontrollieren. So wurden die Bolschewiki wirklich zu neuen ›Jakobinern‹. A. N. Schljapnikow, der Führer der »Arbeiteropposition« in der bolschewistischen Partei, bezeichnete Lenins Organisation im März 1922 als die »Avantgarde einer nicht existierenden Klasse«.
Die revolutionäre Bewegung in Europa hatte zwar in den Jahren 1917/18 dem Krieg ein Ende gemacht und die meisten Monarchien beseitigt, doch begnügten sich die einflussreichen sozialdemokratischen Parteien mit der Realisierung ihres Minimalprogramms – mit der Etablierung parlamentarischer Demokratien und der Durchsetzung sozialpolitischer Reformen. Die Stabilisierung der mehr oder weniger demokratischen Regime durch eine Demokratisierung der Wirtschaft wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. 1923 scheiterte der Versuch der deutschen Kommunistischen Partei, die 1919 niedergeschlagene Arbeiterrevolution wieder aufzunehmen. 1924 proklamierte Stalin, der Generalsekretär der KPdSU und Anführer der Anti-Trotzki-Fraktion den Aufbau des »Sozialismus« innerhalb der Grenzen der UdSSR. Damit beschritt die russische Partei den Weg zum Massenterror, dem sie alsbald selbst zum Opfer fiel. Lenin hatte als einer der ersten Kommunisten vor der Gefahr einer »bürokratischen Entartung« von Partei und Staat gewarnt, und auch Trotzki kehrte nach seiner »jakobinischen« Phase zur anti-substitutionalistischen Politik zurück. Seine Broschüre Der Neue Kurs (1923/24) war eine Charta der Partei- und Rätedemokratie und zugleich das Gründungsdokument der »Linken Opposition« in der KPdSU und der Komintern, aus der, zehn Jahre später, nach dem kampflosen Sieg der Hitlerbewegung in Deutschland, die »Internationale Linke Opposition« und 1938 schließlich die IV. Internationale hervorging.
Der Stalinismus war der Versuch, mit Hilfe der verstaatlichten Produktionsmittel der Sowjetunion (und, später, ihrer Satelliten) und einer bürokratisch geleiteten Planwirtschaft die höchstentwickelten kapitalistischen Staaten nicht nur was die Arbeitsproduktivität, den Lebensstandard und die bürgerlichen Freiheiten angeht »einzuholen«, sondern sie binnen einiger Jahrzehnte sogar zu »überholen«. Dieses Autarkieprojekt (»Sozialismus in einem Lande«) war zum Scheitern verurteilt. Die chaotische Zwangskollektivierung in den frühen dreißiger Jahren erwies sich als ein Desaster, und die ihr folgende, beschleunigte Industrialisierung ging mit der völligen Entrechtung der Arbeiterschaft einher. Der Massenterror der dreißiger Jahre, der sich gegen Millionen vermeintlicher »Feinde des Sozialismus« richtete, führte zur Etablierung eines riesigen Systems von Zwangsarbeits- und Vernichtungslagern (das Alexander Solschenizyn, vier Jahrzehnte später, als »Archipel GULag« beschrieben hat). Die stalinistische Propaganda arbeitete erfolgreich mit den Wunschträumen zahlloser Menschen in aller Welt, denen sie das Trugbild einer bereits »real existierenden« sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft in der UdSSR vorgaukelte. Die traurige Wirklichkeit des totalitären Mangel- und Terrorstaats wurde hinter einer modernen ›Potemkinschen‹ Fassade versteckt. Rechtgläubige Stalinisten glaubten (und einige glauben noch heute daran), dass die UdSSR wirklich ein ›sozialistisches‹ oder gelobtes Land war, das freilich unablässig gegen imperialistische Angreifer, Konterrevolutionäre und ›Volksfeinde‹ verteidigt werden musste. Je größer die Kluft zwischen Schein und Wirklichkeit wurde, desto weniger konnte die herrschende Kaste auf den Terror verzichten.
Trotzki, der Internationalist und Verfechter der Arbeiterdemokratie, war für die treuen Stalin-Anhänger in aller Welt jahrzehntelang so etwas wie der Gottseibeiuns. Die geballte Macht des Stalinschen und des nachstalinschen Regimes wurde eingesetzt, um ihn zu einem faschistischen ›Volksfeind‹ zu stempeln, seinen Namen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Sowjetunion zu löschen und einen Popanz an seine Stelle zu setzen. Den wirklichen Trotzki hat erst Isaac Deutscher in seiner großen Biographie, die in dem Jahrzehnt nach Stalins Tod erschien, wiederauferstehen lassen.
Literatur und Konterrevolution
Die Nutznießer und Verteidiger des »Sozialismus in einem Lande«, also der Diktatur der Bürokratie über die Arbeiter- und Bauernschaft der Sowjetunion, sahen in den ›Trotzkisten‹ ihre Todfeinde, kämpften diese doch für die Arbeiterselbstverwaltung, also für die Kontrolle der Bevölkerungsmehrheit über Staat und Wirtschaft, für die Internationalisierung der Revolution und (seit den dreißiger Jahren) für eine zweite, politische Revolution gegen die stalinistische Bürokratie. Stalin und seine Gefolgsleute setzten alles daran, die in der IV. Internationale organisierten (oder mit ihr sympathisierenden) Parteien und Gruppen zu diskreditieren, sie als Spießgesellen des Imperialismus und Faschismus zu diffamieren und nach Möglichkeit »unschädlich« zu machen. Tausende wirklicher und vermeintlicher Trotzki-Anhänger in der Sowjetunion, in Spanien und Frankreich, in China und Vietnam fielen Stalins Killern und den Erschießungskommandos der GPU zum Opfer. Stalin ruhte nicht, bis seine Killer-Kommandos Trotzkis Familienangehörige, seine Sekretäre und schließlich ihn selbst umgebracht hatten. Trotzki starb den gleichen Tod wie Rosa Luxemburg (und Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Kurt Eisner…). Der Mann, der zwei Jahrzehnte später Trotzki in seinem Haus in Coyoacán (Mexiko) mit einem Eispickel niederschlug, war ein fanatischer Stalinist, ein Agent der GPU, der sich als Freund einer Sekretärin und Sympathisant Trotzkis ausgegeben hatte. Ramón Mercader schwieg über seine Auftraggeber, saß lange Jahre in Mexiko im Gefängnis, kam 1960 frei und reiste über Havanna nach Prag. Er starb, hoch dekoriert, 1978 in Moskau. Döblin hat (1942/43) in seinem Revolutionsepos die Untaten der Luxemburg-Mörder geschildert. Auf seinen Spuren haben (1968/69) Jorge Semprún (in einem Spionageroman) und Peter Weiß (in einem dokumentarischen Theaterstück) auch den Trotzki-Mörder in die Literatur eingebracht, damit wir ihn und seinesgleichen nicht vergessen.
Was bleibt?
Der »Totengräber der Revolution«, »Kain-Stalin«, wie Trotzki ihn nannte, ist vielleicht wenigstens einmal von den Geistern der Partei- und Armeeführer heimgesucht worden, die er auf dem Gewissen hatte. Als im Juni 1941 Hitlers Armeen im ersten Anlauf weit auf russisches Gebiet vordrangen, verkroch er sich ratlos in seiner Datscha. Es wird berichtet, er habe, als seine Paladine ihn schließlich aufstöberten, gefürchtet, sie würden ihn nun verhaften. Aber sie brauchten ihn noch und verhalfen ihm zu einer zweiten Karriere als »Generalissimus« und Partner der Alliierten, dessen frühere Verbrechen geflissentlich übersehen wurden, der aber dann in der Nachkriegszeit rückfällig wurde und noch in seinen letzten Lebensjahren eine zweite Welle des Massenterrors auslösen wollte. Nur zögernd begannen seine Komplizen und Nachfolger, vor allem Chruschtschow, sich von ihm zu distanzieren. Keine ›Wahrheitskommission‹ deckte je die stalinistischen Verbrechen auf, weder der GPU noch Stalins Blutrichtern wurde der Prozess gemacht. Der Götzendienst um den Despoten im Kreml ist der heute in Russland lebenden Generation unverständlich und peinlich. Sie erinnert sich gern des Sieges über Hitlers Armeen und ignoriert die Millionen Opfer, die allein die ersten Jahre des Kriegs kosteten, weil Stalin an Hitlers Bündnistreue glaubte und die Rote Armee auf den deutschen Angriff nicht vorbereitet war. Sie träumt von vergangener Größe und vergisst darüber, dass der gestiefelte »Vater der Völker« im Kreml bis zu den Knien im Blut seiner Landsleute watete. Die ein Vierteljahrhundert währende Stalin-Diktatur und ihr langes Nachspiel lasten noch immer wie ein Alb auf der russischen Gegenwart; darum wird die Auseinandersetzung damit künftigen Generationen zugeschoben.
Die Epoche der Lenin und Stalin, der Luxemburg und Trotzki ist Geschichte; die Sowjetunion, die Komintern und die stalinistischen Parteien in aller Welt sind der »Furie des Verschwindens« (Hegel) anheimgefallen. Die Hoffnungen auf eine reichere und freiere Gesellschaft, die die Generationen beseelt haben, die in dem »kurzen Jahrhundert« zwischen 1914 und 1989 lebten, haben sich nicht erfüllt. Die Versuche, die kapitalistische Gesellschaft zu transzendieren, haben nur tiefer hinein ins alte Elend geführt, in Sklaverei und Massenmord. Was einmal als ein Fortschritt galt, die beschleunigte Industrialisierung eines rückständigen Agrarlandes, ist mit furchtbaren Menschenopfern erkauft worden. Die bolschewistischen Revolutionäre kamen »zu früh«, ihr Ausbruchsversuch aus dem System der weltweiten »Lohnsklaverei« ist misslungen. Das Zeitalter der Ausbeutung und des Terrors, mit dem sie verteidigt wird, dauert an, und wann ein neuer Ausbruch versucht wird (und ob er bessere Chancen hat), ist derzeit nicht abzusehen.
Nachtrag: Trotzki, Biermann und Moneta. Mythen und Legenden in »Europas schönster Tageszeitung«
Am 21. August jährte sich die Ermordung Trotzkis durch Ramón Mercader, einen Auftragskiller der GPU, zum 70. Male. Dirk Maxeiner und Michael Miersch, die ansonsten mit »Frohen Botschaften« gegen ökologische »Mythen« angehen, fanden, dies sei eine Gelegenheit, um den Lesern der Welt endlich einmal klarzumachen, was es mit dem Verfechter des Internationalismus und der Arbeiterselbstverwaltung eigentlich auf sich hatte (»Das gute Wirken des Verbrechers Leo Trotzki«, Welt-Online, 19.8.2010; dies.: »Vorbild aller Renegaten«, Die Welt, 20.8.2010). Bekanntermaßen schrieb der seine antistalinistischen Schriften zur Verteidigung der russischen und der internationalen Revolution. Gerade dadurch aber habe er – sagen Maxeiner und Miersch – als ein neuer Mephisto linken Intellektuellen einen Fluchtweg aus dem Gehäuse ihrer marxistischen Überzeugungen eröffnet. Der direkte Sprung vom Fellow-Traveller zum liberalen Demokraten, vom Antikapitalisten zum Antikommunisten hätte sie überfordert, doch der ›Trotzkismus‹ bot ihnen die Möglichkeit, ihren Konversionsweg in zwei Etappen zu absolvieren. »Stalin«, schreiben Maxeiner und Miersch, »hat diese Wirkung wohl geahnt [und Trotzki] deshalb besonders unerbittlich verfolgt…« Der ahnungsvolle Racheengel im Kreml dürfte freilich noch ganz andere Gründe für seinen Ausrottungsfeldzug gegen wirkliche und vermeintliche Anhänger Trotzkis gehabt haben. Aber lassen wir das…
Trotzki war, abgesehen von den Jahren 1917 bis 1923, in den Arbeiterorganisationen seiner Zeit stets in der Minderheit. Das hat ihm wüste Beschimpfungen jeder Art eingetragen. Für die Ideologen und Karikaturisten der »Weißen« im russischen Bürgerkrieg war er »der Oger im Kreml«, für die Nazis die Inkarnation der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, für die Stalinisten ein »Volksfeind«, »Terrorist« und Gestapo-Agent. Doch selbst auf diesem wüsten Feld ist es Maxeiner und Miersch gelungen, noch ein paar neue Schmähungen zu erfinden. Trotzkis »Taten«, heißt es bei ihnen, »zählen zu den schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts«. Ein Leser, der ob dieses Superlativs ins Grübeln gerät, wird sogleich belehrt, es handele sich beim Organisator des Oktoberaufstands um einen »Kriegsverbrecher«, der »im russischen Bürgerkrieg Massenmorde befohlen« habe. Nun möchte man natürlich gern wissen, welche Massen damals wann, wo und von wem umgebracht wurden. Schließlich ist die Kriegsführung der Roten Armee in den Jahren 1918-1921 gut erforscht, und Trotzki selbst, der »Verbrecher« und »Prediger der ›permanenten Revolution‹«, hat in vier dicken Bänden sein Reden und Handeln als Kriegskommissar dokumentiert. In der einschlägigen historischen Literatur ist von den »Massenmorden«, auf die Maxeiner/Miersch verweisen, nirgends die Rede. Und so nimmt auch ihr Unternehmen eine ›mephistophelische‹ Wendung: In Sachen Trotzki werden die wackeren Streiter gegen ökologische Mythen selbst zu Mythenschmieden.
Bei den Wanderern, die, unterwegs vom Antikapitalismus zum Pro-Kapitalismus, in Trotzkis Hütte übernachteten, handelte es sich, wie Maxeiner/Miersch berichten, um eine bunte Truppe. Genannt werden Koestler und Orwell, Manès Sperber, Willy Brandt und – Wolf Biermann. Daraufhin tritt nun Wolf Biermann selbst auf den Plan (»Ich wollte in meinem Leben nie Trotzkist sein«, Leserbrief, Welt Online, 26.8.2010). Aus dem Urlaub schickt er den beiden von ihm sehr geschätzten Welt-Autoren neue Lieder und Gedichte zum Dank für ihren »Kommentar zum 70. Todestag des Genossen Trotzki«. Der Dichter, der sich seiner Lektüre der Trotzki-Biographie Isaac Deutschers und verschiedener Trotzki-Schriften rühmt, nimmt am Trotzki-Bashing in der Welt keinerlei Anstoß, sondern schreibt, der fragliche Artikel habe ihn »froh« gestimmt. Warum? Weil es eben der dort erwähnte »ehrenhafte Renegat« und »erfahrene Doktor« Manès Sperber gewesen sei, der ihm selbst bei einem Besuch in Paris seinen »faulen Kommunistenzahn« gezogen habe: »Ich begriff, dass der Kommunismus, das ist ja die ideale Endlösung der sozialen Frage, ein blutiger Irrweg sein muss.« Und dann erzählt er noch einmal die Geschichte, wie ihn Jakob Moneta, Redakteur der Metall-Zeitung und Trotzkist, nach 12 Jahren Auftritts- und Ausreiseverbot in der DDR 1976 (im Auftrag der IG Metall) zu einem Konzert nach Köln einlud, zu dem 8.000 Menschen kamen, woraufhin er von der SED-Führung ausgebürgert wurde. Jahre später, nach dem Untergang der DDR, kandidierte Moneta (wie einige andere Trotzkisten) bei Frankfurter Wahlen auf der Liste von Gysis PDS. Waren aber Trotzkisten und Stalinisten nicht eigentlich Todfeinde? Biermann verstand die Welt nicht mehr. Doch dann kam ihm jäh eine Erleuchtung. GPU und Stasi hatten ja stets versucht, die trotzkistischen Gruppen, die sie nicht einfach liquidieren konnten, wenigstens zu unterwandern! »Also erkannte ich nun, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass mein Freund Jakob von Anfang an ein Agent Provocateur und eine Kreatur im Apparat des MfS-Generals für West-Spionage, Markus Wolf, gewesen sein muss. Und die ganze Einladung im Herbst 1976 […] war offensichtlich eine Hundefängerei, die allerdings aus erkennbaren Gründen gründlich ihre Ziele verfehlte. Ein Roman das alles!«
So folgt – vom »Kommentar« zum »Leserbrief« – auf die Verleumdung des ermordeten russischen Revolutionärs eine zweite, diesmal die eines Lebenden, den ich seit einem halben Jahrhundert kenne und für dessen Anti-Stalinismus ich mich verbürgen kann. Jakob Moneta, der Autor von Büchern wie Die Kolonialpolitik der französischen KP (1968) oder Aufstieg und Niedergang des Stalinismus, zur Geschichte der KPdSU (1971), wäre der wunderlichste aller stalinistischen »Agenten«, von denen wir Kenntnis haben…
In besseren Tagen konnte man bei Biermann Verse wie diese lesen: »Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich / Zermartere und quäle / Denn Hass auf Menschen, die man liebt / Verbrennt die eigne Seele.« Dass er heute, von seinen Erfahrungen mit SED- und Stasi-Verfolgern gezeichnet, nicht in der Lage ist, seine Phantasien auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen, bevor er seinen vormaligen Freund Moneta öffentlich eine »Canaille seiner Todfeinde« und einen »Wahlaffen« der »flott gewendeten DDR-Nomenklatura« nennt, ist betrüblich. Seine Behauptung, Jakob Moneta sei ein stalinistischer Agent, ist infam. Was ist nur aus Biermann, dem Liedermacher in der Nachfolge Heines und Brechts, geworden? Die Stalin-Ära, in der über Nacht (echte) Genossen zu ›Volksfeinden‹ mutierten, während (vermeintliche) Todfeinde zu geehrten Bündnispartnern avancierten, hat nachhaltig zur Verwirrung der politischen Geister beigetragen. Der falsche Messias im Kreml ließ einen Nikolai Bucharin als faschistischen Spion erschießen, nannte Hitler einen »ganzen Kerl« und stellte seinen GPU-Chef Berija im Februar 1945 (in Jalta) dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt unverblümt als »unseren Himmler« vor. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir aus dem Schatten der totalitären Regime heraustreten und auch die Albtraum-Welt des Kalten Krieges, in der es von Agenten, Doppelagenten und Denunzianten wimmelte, hinter uns lassen können. Dann wird eine verbesserte »Realitätsprüfung« (Freud) es auch ›Ketzern‹ wie Biermann erlauben, Freund und Feind auseinanderzuhalten und zwischen realen und imaginären Verfolgern zu unterscheiden.
Eine Print-Fassung des (hier redaktionell leicht gekürzten) Beitrages erschien in Helmut Dahmer: Divergenzen. Holocaust, Psychoanalyse, Utopia, Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot) 2009, S.561ff. Dort finden sich auch die entsprechenden Literaturnachweise. Der Nachtrag stammt vom 29.8.2010.