von Ellen Meiksins Wood
Der ›Kollaps des Kommunismus‹ in den späten 1980er und 1990er Jahren schien zu bestätigen, was viele Menschen lange geglaubt haben: dass Kapitalismus die natürliche Bedingung der Menschheit ist, dass er den Gesetzen der Natur sowie den grundlegenden menschlichen Neigungen entspräche, und dass jede Abweichung von diesen natürlichen Gesetzen und Neigungen nur schädlich sein kann.
Es gibt heute natürlich viele Gründe, den kapitalistischen Triumphalismus in Frage zu stellen, der dem Kollaps folgte. Während ich die Einleitung zur ersten Auflage dieses Buches schrieb,* taumelte die Welt noch von der asiatischen Krise. Heute richten die Finanzseiten der Tagespresse ihren nervösen Blick auf die Rezessionszeichen in den USA und entdecken jene alten kapitalistischen Zyklen, von denen sie uns versichert hatten, dass sie eine Sache der Vergangenheit seien. Die Periode zwischen diesen beiden Episoden war in verschiedenen Teilen der Welt mit einer Serie dramatischer Demonstrationen gespickt, die sich stolz als ›anti-kapitalistisch‹ bezeichneten. Und während viele Teilnehmer dazu neigten, die Übel der ›Globalisierung‹ oder des ›Neoliberalismus‹ von der notwendigen und nicht reduzierbaren Natur des Kapitalismus zu trennen, verstanden sie sehr gut den Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Erfordernissen des Profits, wie er sich in dem sich öffnenden Graben zwischen Reich und Arm und der zunehmenden ökologischen Zerstörung manifestiert.
In der Vergangenheit konnte sich der Kapitalismus immer aus seinen wiederkehrenden Krisen herauswinden. Niemals jedoch ohne die Grundlagen für neue und schwerere Krisen zu legen. Welche Mittel auch immer gefunden wurden, um den Schaden zu begrenzen oder zu korrigieren, viele Millionen Menschen litten ebenso unter dem Heilmittel wie unter der Krankheit.
Die immer offensichtlicher werdenden Schwächen und Widersprüche des kapitalistischen Systems werden vielleicht manche seiner eher unkritischen Unterstützer davon überzeugen, dass eine Alternative gefunden werden muss. Doch die Überzeugung, dass es keine Alternative gibt und geben kann, ist tief verankert, vor allem in der westlichen Kultur. Diese Überzeugung wird nicht nur von den unverhohlenen Äußerungen der kapitalistischen Ideologie unterstützt, sondern auch von den lieb gewordenen und unhinterfragten Glaubenssätzen über die Geschichte – nicht nur der Geschichte des Kapitalismus, sondern der Geschichte im allgemeinen. Es ist so, als ob der Kapitalismus allzeit die Bestimmung der geschichtlichen Entwicklung war, und, mehr noch, als ob die geschichtliche Bewegung seit ihren Anfängen von den kapitalistischen ›Bewegungsgesetzen‹ getrieben wird.
An der eigentlichen Frage vorbeigehen
Der Kapitalismus ist ein System, in dem Güter und Dienstleistungen bis hin zu den grundlegendsten Bedürfnissen des Lebens für den profitträchtigen Austausch produziert werden, in dem selbst menschliche Arbeitskraft eine auf dem Markt käufliche Ware ist, und in dem alle ökonomischen Akteure abhängig sind vom Markt. Dies gilt nicht nur für die Arbeiter, die ihre Arbeitskraft für Lohn verkaufen müssen, sondern auch für die Kapitalisten, die abhängig sind vom Markt, um ihre Ingredienzien (input), u.a. die Arbeitskraft, zu kaufen und ihre Produkte (output) mit Profit zu verkaufen. Kapitalismus unterscheidet sich von anderen Sozialformen, weil die Produzenten vom Markt abhängig sind, um an die Produktionsmittel zu kommen (anders, beispielsweise, als die Bauern, die ihren direkten, nicht-marktwirtschaftlichen Zugang zum Land behalten); weil die Aneigner nicht auf ›außerökonomische‹ Aneignungsmacht im Sinne direkter Zwangsmittel zurückgreifen können (jene militärische, politische und juristische Macht, die den Feudalherren erlaubte, Mehrarbeit von den Bauern abzupressen), sondern von rein ›ökonomischen‹ Mechanismen des Marktes abhängig sind. Dieses spezifische System der Marktabhängigkeit bedeutet, dass die Erfordernisse der Konkurrenz und Profitmaximierung die fundamentalen Regeln des Lebens sind. Wegen dieser Regeln ist der Kapitalismus ein auf einzigartige Weise durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technische Mittel getriebenes System. Vor allem ist es ein System, in dem die erdrückende Mehrheit der gesellschaftlichen Arbeit bei eigentumslosen Arbeitern gemacht wird, die dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft im Austausch gegen Lohn zu verkaufen, um Zugang zu den Mitteln des Lebens und der Arbeit zu bekommen. Im Prozess der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Wünsche sind Arbeiter gleichzeitig und untrennbar die Schöpfer des Profits derjenigen, die ihre Arbeitskraft kaufen. Faktisch ist die Produktion von Gütern und Dienstleistungen der Produktion von Kapital und kapitalistischem Profit untergeordnet. Das grundlegende Ziel des kapitalistischen Systems besteht in anderen Worten in der Produktion und Selbstentfaltung des Kapitals.
Dieser von allen vorhergehenden Organisationsformen materiellen Lebens und sozialer Reproduktion unterschiedene Weg, die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, existiert erst seit sehr kurzer Zeit, seit einem Bruchteil menschlicher Existenz auf Erden. Selbst jene, die am eindringlichsten darauf insistieren, das die Wurzeln des Systems in der menschlichen Natur liegen und eine natürliche Kontinuität mit uralten menschlichen Praxen sind, würden nicht behaupten, dass es vor der frühmodernen Epoche und außerhalb Westeuropas wirklich existierte. Sie mögen Spuren desselben in früheren Perioden erkennen oder ihre undeutlichen Anfänge im Mittelalter, im niedergehenden, aber noch immer von feudalen Fesseln geprägten Feudalismus entdecken. Sie mögen auch sagen, dass alles mit der Expansion des Handels oder mit Entdeckungsreisen begonnen hat, sagen wir mit Kolumbus' Entdeckungsreisen am Ende des 15.Jahrhunderts. Manche mögen diese frühen Formen ›Proto-Kapitalismus‹ nennen. Doch nur wenige würden sagen, dass das kapitalistische System ernsthaft vor dem 16. oder 17. Jahrhundert existierte. Manche datieren es auf das späte 18. oder vielleicht sogar auf das 19. Jahrhundert, als es zu seiner industriellen Form reifte.
Nichts desto trotz und paradoxer Weise haben historische Erklärungen, wie dieses System entstanden ist, dasselbe als die natürliche Realisierung schon immer vorhandener Tendenzen angesehen. Seitdem Historiker erstmals begonnen haben, den Aufstieg des Kapitalismus zu erklären, hat es kaum einen Erklärungsversuch gegeben, der nicht damit begann, gerade das vorauszusetzen, was zu erklären ist. Fast ohne Ausnahme waren Erklärungen des Ursprungs des Kapitalismus grundlegend zirkulär: sie haben die vorherige Existenz des Kapitalismus vorausgesetzt, um seinen Aufstieg zu erklären. Um den spezifisch kapitalistischen Trieb zur Profitmaximierung zu erklären, haben sie die Existenz einer universalen Profitmaximierungsrationalität behauptet. Um den kapitalistischen Trieb zur Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technische Mittel zu erklären, haben sie ebenfalls einen kontinuierlichen, quasi natürlichen Fortschritt technologischer Verbesserung (improvement) der Arbeitsproduktivität vorausgesetzt.
Diese an der eigentlichen Frage vorbeigehenden Erklärungen haben ihren Ursprung in der klassischen politischen Ökonomie und den Fortschrittskonzeptionen der Aufklärung. Zusammen vermitteln sie einen Zugang zur geschichtlichen Entwicklung, in dem sich Entstehung und Wachstum des Kapitalismus bereits in den frühesten Manifestationen menschlicher Rationalität ankündigen, in jenen technologischen Fortschritten, die begannen, als der Homo Sapiens erstmals Werkzeug in die Hände nahm, sowie jenen Austauschakten, die die Menschen seit Urzeiten praktizieren. Die Reise der Geschichte zu jener letzten Bestimmung, zur kommerziellen Gesellschaft (commercial society) oder zum Kapitalismus, war sicherlich lang und beschwerlich, und viele Hindernisse standen ihr im Weg. Ihr Fortschritt war nichts desto trotz gleichsam natürlich und unvermeidbar. Um den Aufstieg des Kapitalismus zu erklären, bedurfte es deswegen nicht mehr als einer Darstellung, wie die vielen Hindernisse auf ihrem Weg vorwärts beiseite geschoben wurden – manchmal allmählich, manchmal ganz plötzlich und mit revolutionärer Gewalt.
In den meisten Darstellungen des Kapitalismus und seines Ursprungs gibt es freilich keinen Ursprung. Es scheint, dass der Kapitalismus immer schon da war, irgendwo. Er brauchte bloß von seinen Ketten befreit werden, beispielsweise von den Fesseln des Feudalismus, um Wachstum und Reife zu gewährleisten. Typischer Weise sind diese Fesseln politischer Natur: die parasitäre Macht der Feudalherren oder die Begrenzungen eines autokratischen Staates. Manchmal sind sie auch kulturell oder ideologisch: vielleicht die falsche Religion. Diese Zwänge beschränken die freie Bewegung der ›ökonomischen‹ Akteure, den freien Ausdruck ökonomischer Rationalität. Das ›Ökonomische‹ wird in diesen Formulierungen mit Austausch oder Markt identifiziert, und hier haben wir den Ursprung der Annahme, dass bereits in den primitivsten Austauschakten, in jeder Form des Handels oder der Marktaktivität die Samen des Kapitalismus vorhanden sind. Diese Annahme ist typischer Weise mit einer anderen verbunden: dass Geschichte ein quasi natürlicher Prozess technologischer Entwicklung gewesen ist. Wo und wann wir es mit expandierenden Märkten und technologischer Entwicklung auf einem gewissen Niveau zu tun haben, erscheint der Kapitalismus so oder so als die natürliche Folge und erlaubt die ausreichende Akkumulation des Wohlstands, der dann wieder profitabel reinvestiert werden kann. Auch viele marxistische Erklärungen sind vom Grundsatz her gleich – inklusive jener bürgerlichen Revolutionen, die helfen sollen, die Fesseln zu sprengen.
Der Effekt dieser Erklärungen ist, die Kontinuität zwischen nichtkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaften zu betonen und das Spezifische des Kapitalismus zu bestreiten oder unkenntlich zu machen. Der Tausch hat mehr oder weniger immer existiert, und es scheint, als sei der kapitalistische Markt nur mehr des gleichen. So argumentiert ist die Industrialisierung das unvermeidbare Ergebnis der elementarsten menschlichen Neigungen, weil die für den Kapitalismus spezifische und einzigartige Notwendigkeit, permanent seine Produktionskräfte zu revolutionieren nur eine Ausweitung und Beschleunigung universaler und transhistorischer, beinahe natürlicher Tendenzen ist. Die Entstehung des Kapitalismus entwickelt sich so von den frühesten babylonischen Händlern über die mittelalterlichen Bürger zu den frühzeitlichen Bourgeois bis zum industriellen Kapitalisten.
Eine vergleichbare Logik steckt in bestimmten marxistischen Versionen dieser Geschichte, selbst wenn sich die Darstellung in jüngeren Versionen von der Stadt aufs Land verlagert hat, und wenn Händler von ländlichen Warenproduzenten, kleinen und ›mittleren‹ Farmern abgelöst wurden, die nur auf die Gelegenheit warten, sich zu voll erblühten Kapitalisten zu entwickeln. In dieser Darstellungsweise befreit sich die kleine Warenproduktion von den Fesseln des Feudalismus und wächst mehr oder weniger natürlich in den Kapitalismus. Kleine Warenproduzenten, so man ihnen die Chance gibt, werden den kapitalistischen Weg einschlagen.
Zentral für diese konventionelle Sicht auf die Geschichte sind bestimmte explizite oder implizite Annahmen über die menschliche Natur und darüber, wie Menschen sich verhalten, wenn man ihnen die Chance dazu gibt. Sie werden, heißt es, allzeit davon Gebrauch machen, mittels Tauschakten ihren Profit zu maximieren. Und um ihre natürlichen Neigungen zu befriedigen, werden sie allzeit Wege finden, die Arbeitsorganisation und ihre Mittel zu verbessern, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen.
Gelegenheit oder Imperativ?
Im klassischen Modell ist der Kapitalismus also eine Gelegenheit, die zu ergreifen ist, wo immer und wann immer möglich. Der Begriff der Gelegenheit ist entscheidend für das konventionelle, bis in unsere Alltagssprache eingedrungene Verständnis des kapitalistischen Systems. Man bedenke nur den allgemeinen Gebrauch jenes Wortes, das im Zentrum des Kapitalismus liegt: der ›Markt‹. Beinahe jede lexikalische Definition des Marktes verbindet damit eine Gelegenheit: Als konkreter Raum oder konkrete Institution ist der Markt ein Platz, wo Gelegenheiten zum Kauf und Verkauf existieren. Als Abstraktion ist der Markt die Möglichkeit eines Kaufs. Güter ›finden einen Markt‹ und wir sagen, dass es einen Markt für Dienstleistungen und Güter gibt, wenn es danach eine Nachfrage gibt, wenn es verkauft werden kann und wird. Märkte sind ›offen‹ für jene, die verkaufen wollen. Der Markt impliziert Angebot und Wahlmöglichkeit.
Doch was sind dann Marktkräfte? Beinhaltet Kraft nicht Zwang? In der kapitalistischen Ideologie impliziert der Markt keinen Druck oder Zwang, sondern Freiheit. Zur selben Zeit wird diese Freiheit von bestimmten Mechanismen garantiert, die eine ›rationale Ökonomie‹ sicherstellen, in der das Angebot eine Nachfrage trifft und in der Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die die Menschen frei wählen werden. Diese Mechanismen sind die unpersönlichen ›Kräfte‹ des Marktes. Und wenn sie in irgendeiner Weise zwanghaft sind, dann nur in dem Sinne, dass sie ökonomische Akteure dazu bringen, ›rational‹ zu handeln und ihre Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten zu maximieren. Das impliziert, dass der Kapitalismus die ultimative ›Marktgesellschaft‹, die optimale Bedingung für Wahlmöglichkeiten ist. Mehr Güter und Dienstleistungen werden angeboten. Mehr Menschen werden in die Lage versetzt, sie zu verkaufen und davon zu profitieren. Und mehr Menschen sind frei, zwischen ihnen zu wählen und sie zu kaufen.
Was ist also verkehrt an dieser Vorstellung? Sozialisten sind geneigt, zu sagen, dass das, was hier wesentlich fehlt, die warenförmige Organisierung, die Kommodifzierung der Arbeitskraft und die Klassenausbeutung sind. So weit so gut. Doch was nicht immer so klar zu sein braucht, selbst in sozialistischen Betrachtungen des Marktes nicht, ist, dass das spezifische und dominante Charakteristikum des kapitalistischen Marktes nicht die Gelegenheit oder die Wahlmöglichkeit ist, sondern im Gegenteil, der Druck und Zwang. Das materielle Leben und die soziale Reproduktion sind im Kapitalismus umfassend vermittelt durch den Markt. Alle Individuen müssen auf die eine oder andere Weise in Marktbeziehungen eintreten, um Zugang zu den Mitteln des Lebens zu bekommen. Dieses einzigartige System der Marktabhängigkeit bedeutet, dass die Diktate des kapitalistischen Marktes – ihre Imperative der Konkurrenz, der Akkumulation, der Profitmaximierung und der steigenden Arbeitsproduktivität – nicht nur alle ökonomischen Transaktionen regulieren, sondern die sozialen Beziehungen im allgemeinen. Sobald Beziehungen zwischen Menschen über den Prozess des Warenaustausches vermittelt werden, erscheinen soziale Beziehungen zwischen Menschen als Beziehungen von Dingen – mit Marx berühmtem Wort als ›Warenfetischismus‹.
Manche Leser werden hier einwenden, dass dies etwas ist, was jeder Sozialist, oder zumindest jeder Marxist weiß. Aber die spezifischen Eigenheiten des Kapitalismus wie das Funktionieren des kapitalistischen Marktes als eines Imperativs eher denn als einer Gelegenheit, drohen selbst in der marxistischen Historiographie des Kapitalismus verloren zu gehen. Der kapitalistische Markt als eine spezifische soziale Beziehung verschwindet, wenn der Übergang von vorkapitalistischen zu kapitalistischen Gesellschaften als mehr oder weniger natürliche, wenn auch gelegentlich behinderte Ausweitung und Reifung bereits bestehender sozialer Formen präsentiert wird, bestenfalls als quantitative denn als qualitative Transformation.
Dieses Buch behandelt den Ursprung des Kapitalismus und die Kontroversen, die dieser hervorgerufen hat. Der erste Teil überblickt die wichtigsten historischen Annahmen und die Debatten, die diese ausgelöst haben. Im Besonderen behandelt er das gebräuchlichste Modell kapitalistischer Entwicklung, das sogenannte ›Kommerzialisierungs-Modell‹, in mehreren seiner Varianten und auch in einigen seiner wichtigsten Infragestellungen. Die Teile zwei und drei entwerfen eine alternative Geschichte, die, wie ich hoffe, einige der verbreitetesten Fallstricke vermeidet, die gewöhnliche Erklärungen aufweisen, die an der eigentlichen Frage vorbeigehen. Dabei stütze ich mich auf die im ersten Teil behandelten Diskussionen und vor allem auf jene historischen Arbeiten, die diese vorherrschenden Konventionen herausgefordert haben. […]
Ich nehme also, was man einen ›langen Blick‹ auf den Kapitalismus und seine Konsequenzen nennen könnte. Und meine Intention ist dabei vor allem, die Naturalisierung des Kapitalismus herauszufordern und die besonderen Wege zu beleuchten, auf denen er eine historisch spezifische Sozialform und einen historischen Bruch mit früheren Formen darstellt. Die Absicht dieser Übung ist gleichermaßen wissenschaftlich wie politisch. Die Naturalisierung des Kapitalismus, welche seine Besonderheit und den langen und schmerzhaften historischen Prozess seiner Entstehung verneint, begrenzt unser Verständnis der Vergangenheit. Zur gleichen Zeit beschränkt sie unsere Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft, denn wenn der Kapitalismus gleichsam der Höhepunkt der Geschichte ist, ist seine Überwindung undenkbar. Die Frage nach dem Ursprung des Kapitalismus scheint obskur, aber sie trifft ins Herz der zutiefst in unserer Kultur verwurzelten Annahmen, in die weit verbreiteten und gefährlichen Illusionen über den sogenannten ›freien‹ Markt und seine Vorzüge für die Menschheit, seine Kompatibilität mit Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Das Nachdenken über zukünftige Alternativen zum Kapitalismus verlangt von uns, über alternative Konzeptionen seiner Vergangenheit nachzudenken.
Bei dem Beitrag handelt es sich um die (leicht gekürzte) Einleitung zu Ellen Meiksins Wood: The Origin of Capitalism. A longer View (London: Verso 2002). Wir danken der Autorin und dem Verlag für die freundliche Nachdruckerlaubnis (Übersetzung: Christoph Jünke).