Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein,

beim Blättern in deutschen Gazetten, war auch mal ein neuer Ton in den ansonsten auf die Eine Empörung hin fixierten Berichten über die Ukraine hörbar: in der Welt wurde unter dem Titel Pöbelnd auf dem Weg nach Westen die entscheidende Frage gestellt: Weiß der Westen, mit wem er sich auf dem Majdan neuerlich eingelassen hat? – Oder passiert es uns wieder einmal, wie mit Libyen und Ägypten, dass wir in denen, die entschlossen und radikal – bewaffnet – die jeweiligen korrupten, selbstherrlichen Präsidenten aus dem Amt (ins Schauhaus oder Knast) jagten, Freiheitsfreunde zu erblicken vermeinten? Dass wir im Gemetzel wieder Freiheitsimpulse zu sehen glauben?

Blickt niemand von Kiew mal kurz ins westlich benachbarte Ungarn, wo eine nationalistische, extremistische Mehrheit politisch und kulturell das Sagen hat? Will die EU sich ein um mehrere Ordnungen größeres Problem einhandeln? Wenn der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Meinungsfreiheit in Kiew (Igor Miroshnitshenko) in die Amtsräume eines Fernsehchefs stürmt, ihn schlägt und nötigt, dann ist hier nicht mal eben ein ›Racker vom Rechten Sektor‹ unterwegs. Miroshnitshenko sieht sich dabei als ein von der ›Volksfrömmigkeit‹ getragener Politiker!

Unsere massenmedialen Wahrnehmungen hier Deutschland aber fabrizieren jene – zwischen Unwissenheit und Stereotypen – moralisierenden und apokalyptischen Alltagsurteile, die nur eine ›dunkle Macht des Imperiums‹ namhaft zu machen wissen – Putin! Diese ›tschernobylisierenden‹ Berichte – man kann sie so nennen –, bewerten ein und dieselben Strassenkampf-Choreographien hier und dort mit völlig unterschiedlichen Vorzeichen: auf der Krim verbreiten maskierte bewaffnete Unbekannte Schrecken und Repression, auf dem Majdan lassen ebenso Maskierte (mit Molotowcocktails und scharfen Waffen) sich-bloß-nicht-mehr-alles-gefallen … dort wird scharf-geschossen, hier ballern-manche-eben-bloß-zurück (und treffen auch mal Polizisten) … Und wenn sie in die Eurokameras hinein ihre Widersacher mal eben [Originalton] als Nichtmenschen bezeichnen, die sterben müssten, dann darf man, so die abwiegelnden Moderatoren, im Gerangel nicht-alles-auf-die-Goldwaage legen. Die anders gepolten Protestmassen auf der Krim sind dagegen bedauerliche (russische) Staatstelevisonäre…

Ein schlechter – und blutiger – Witz der Geschichte ist es aber auch, dass sie in der Ukraine wahrscheinlich auf beiden Seiten der Barrikade gerade mit ihren schlimmsten Vorurteilen ›Recht‹ haben – wenn man das dann so nennen will.

Vergessen scheint in unserer Wahrnehmung der eliminatorische Nationalismus der jetzt in Kiew entscheidenden Leute (u.a. Verteidigungsminister, Generalstaatsanwalt, Swoboda-Parteichef). Das aber hat hier eine historisch lange ›eingeborene‹ Tradition.

Auf dem Majdan schafft sich nicht nur (sehr berechtigte!) Kritik der dortigen Zivilgesellschaft Luft. Getragen wird der alltägliche Abscheu vor dem dürftigen Alltag dort von einer sehr kompakten, sehr kritikimmunen Überzeugung vom (unterdrückten) verborgenen Wert der Ukrainizität. Dieser märtyrerbewährte ukrainische Nationalismus, seit der ersten republikanischen Rada 1918/19, seit Simon Petljura, Stefan Bandera, Roman Schuchewitsch und der zwischen 1943 und 1956 [!] operierenden ›Ukrainischen Aufstandarmee‹ (UPA), wird getragen von dem sogenannten ›rechten Sektor‹ um Oleg Tjagnibog. Deren alte Parole Gegen die Moskowiter und die Itzigs findet ihre schaurigen Geschichtszeichen u.a. in Massakern (gegen Polen, die z.B. immerhin zwei Innenminister verloren haben, sowie gegen Juden=Sowjets) und einer Guerillaverehrung, die in der Ukraine seit fünfzehn Jahren zum integrierenden Geschichtsbild gehören (neue Denkmale, staatliche Ehrungen, Ehrenpensionen, neue Schulbücher, antirussische Sprachenpolitik). – Die großen Erzählungen dieses eliminatorischen Nationalismus aber, wenn er jetzt staatspolitisch zum Tragen käme, würde sich sofort gegen die spirituellen und sozialen Normen der Europäischen Union richten. In der eben hörbar gewordenen Verlautbarung gegen die junge Intelligenzia vom Majdan: Wir wollen nicht in dieses Schwuleneuropa [Die Welt, v. 3. 3. 14, S. 4] würden sich die momentan verfeindeten slawischen Brüder allerdings ganz schnell wieder finden!

Im Blick nach Osten sind die Ukrainer natürlich beunruhigt vom großrussischen Nationalismus und der geopolitischen Lage ihres Landes, die bei allen souveränen Entscheidungen immer auch Implikationen für die benachbarte russische Landmacht mit sich bringt, ob einem das gefällt oder nicht. Dass es so etwas wie ›Einflussphären‹ gibt, sollte uns im Westen mit einem Blick auf andere Konfliktlagen in der Welt (und gerade im Blick von der EU auf diese Region!) äußerst selbstkritisch werden lassen…

Wenn man ›an-der-Grenze liegt‹, wie es der Landesname Ukraine zum Ausdruck bringt, sollte man auch einen Sinn für Grenzen und den Umgang mit ihnen entwickeln lernen. Zumal wenn man sie übertreten will.

Leider ist gerade bei deutschen Beobachtern selten ein analytischer, sondern meist nur ein alarmistischer, und – leider – auch ein herablassender Impetus spürbar.

(23. März 2014)

Steffen Dietzsch

 

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