Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein,

überrascht und betrübt vom Verschwinden dieses uns so ans Herz gewachsenen Wiener Caféhauses, sprachen wir mit einer Prager Freundin auf dem langen Weg zum »Einstein« Unter den Linden über den Sinn rückwirkender parajuristischer Etikettierungen historischer Vorgänge; zumal wenn solchen semantischen Extravaganzen ganz offensichtlich nicht geschichtswissenschaftliche, sondern sozusagen ›staatspolitische‹ Vorgaben zu Grunde liegen. D.h., soll man denen folgen – das-musst-du-politisch-sehen –, die historische Prozesse nicht länger ›bloß‹ historisch erklären, sondern eben ahistorisch, – mit moralischen Standards unserer Gegenwart? – Der aktuelle Anlass jüngst war mal nicht irgendein koloniales oder imperiales Massaker der Europäer aus den Jahrhunderten nach der Entdeckung Amerikas, sondern der mit Millionen Toten verbundene ideologische Wahnwitz einer ursprünglichen sozialistischen Akkumulation, als der Bolschewismus Anfang der Dreissiger Jahre eine ›Wendezeit‹ der Revolution ausrief und das russländische Bauernland in allen seinen Gouvernements – als Baugrube (Platonow) – in eine vom GULAG betriebene Industriebrache umwandelte. – Neunzig Jahre und ein halbes Dutzend ›Wendezeiten‹ später – während ›sozialistische‹ Obsessionen immer noch nicht vorbei sind – hält es ein deutsches Parlament für angebracht, jene Ereignisse jetzt fremdelnd als Genozid zu deklarieren.

Der habe eingesetzt, als der Bolschewismus entdeckte und praktizierte, was dann auch der deutsche Nationalsozialismus zehn Jahre später gezielt eingesetzt habe: dass der Hunger eine Waffe sei; dafür hätte man gern ein zeitgenössisch relevantes sowjetrussisches Dokument! – Hinreichend dokumentiert ist dagegen die ökonomisch-politische Wende der Lenin-Administration, das Land nachhaltig aus der Hunger-Misere nach 1921 (mit ebenfalls Millionen Toten) herauszuführen: als die Wende hin zur sog. Neuen Ökonomischen Politik (nep). Selbst in einer namhaften Antikomintern-Schrift zur Sowjetunion von 1936 wurde festgehalten: »Um das Jahr 1926 herum waren die Schicksalsschläge des Bürgerkriegs in den Schwarzerdegebieten der Sowjetunion, den einstigen Kornkammern der Welt, bereits fast verheilt. Eine sich vorwärts entwickelnde Landwirtschaft war unverkennbar«, nachzulesen im Band »UdSSR«, Berlin 1936, S. 216 (= Fritz Dittloff, Die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion im Frühjahr 1933 und ihre Gründe). Und noch im Sommer 1929 sah sich Stalin veranlasst, der ukrainischen Jugend zu Gute zu halten, das sie seit zehn Jahren »am Aufbau der ukrainischen sozialistischen Kultur teilnimmt.« (Werke, Bd. 12, Berlin 1954, S. 103).

Getragen und begründet wurden diese (sowjet-)nationale Entwicklung von namhaften leninistischen Partei- & Staatsführern (Bucharin, Rykow, Tomski, Ejchenvald, Preobrashenskij, und – überraschenderweise – vom späten Dshershinskij (vgl. dessen letzte Rede vom 20. Juli 1926, in: Inprekorr, 98/1926, v. 27. 7. 1926, S. 1597). Diese Parteiführer, aber auch Literaten, wie z.B. Sergej Tretjakow (Feld-Herren, 1931) sahen sich just in dieser Zeit – nach 1929 –, weil sie der herkömmlichen, einzelbäuerlichen, sog. ›privatkapitalistischen‹ Landwirtschaft auch mittelfristig eine versorgungstechnische Zukunft einräumten (Bucharin: Bereichert Euch, entwickelt Eure Höfe: Rede im 14. Parteitag KPdSU, April 1925), als – rechte – Abweichler vom Kommunismus angeprangert. Diese Gruppe kam auch analytisch immer mehr von der orthodoxen stalinistischen Überzeugung ab, derzufolge »der entfaltete Sozialismus keine Marktwirtschaft kennen würde«, wie das der Bucharin-Biograph Löwy 1990 betonte.

So eine robuste These, wie die der geplanten Hungerkatastrophe als Genozid (am nur ukrainischen Volk?) – als Holodomor (in Assoziation zu Holocaust) – konnte wohl nur entstehen, wenn, wie heute im Verständnis unserer Volksvertreter, die Ursachenbeschreibung in zeitgenössischen Berichten von Betroffenen und Kritikern der Kollektivierung im Diskurs unterbelichtet bleibt bzw. bloß Schreckensphänomene auflistet werden. Teilnehmer an jenen Geschehnissen kommen mit ihrer damaligen fanatischen Idee von der ›Rettung der Welt‹ (vorm Kapitalismus) in der heutigen Darstellung jener schrecklichen Ereignisse kaum zu Wort. Einer derjenigen, die als junge Stalinisten diese Enteignungs- und Proletarisierungskampagne überzeugt mittrugen, Lew Kopelew, beschreibt in seinen Memoiren (Und schuf mir einen Götzen, dtv 1981, 338-369) den parteiinduzierten und ideologiepraktischen Weg in die lichten Höhen des Kommunismus, der aber realiter ein Weg in die Hungerkatastrophe war. Und auch der absurde Alltag des Eigentumstransfers und der Ressourcenvernichtung dabei, die verschwenderische Improvisation und Inkompetenz im Umgang mit Lebensschicksalen, Kultur- und Lebensmitteln und schon erreichten neuen Agrarfertigkeiten durch paramilitärische Beschaffungskommandos wurde längst öffentlich deutlich dokumentiert (z. B. im Lande selber, von einem Wolgadeutschen: Gerhard Fast, Im Schatten des Todes, Wernigerode 1935, 64-68). – Es ist zunächst auffällig, dass in jener Zeit voller Gerüchte nicht einmal gerüchteweise eine solche Genozid-Verschwörung gegen ein Volk der UdSSR die Runde machte. Dasjenige, was die Runde machte, war die Losung: Die Liquidierung des Kulakentums als Klasse (in Krasnaja Swesda, v. 19. Jan. 1930). Die Kulaken (= Einzelbauern!) als Klasse zu beseitigen, das aber hieß zunächst nach der sowjetischen Sozialtechnologie: die Kulaken zu expropriieren. Damit war keine (lebens)biologische, sondern eine soziale Statusänderung verbunden. Denn die Kulaken sollten enteignet, nicht exterminiert werden! Denn ›Kulak‹ ist man nicht ›von Natur‹ aus, nicht ›fremdvölkisch‹, sondern durch die kapitalistische Lebensweise.

Jedoch: Die stalinistische Gewalt-Kampagne, diese Einzel- u. Mittelbauern in kürzester Zeit und massenhaft von ihrem Eigentum und ihrer Arbeit zu trennen, hatte allerdings unter Sowjetbedingungen sofort einen Verwaltungs-, Verkehrs- und Ernährungskollaps zu Folge, der von ›oben‹ her kaum noch zu beherrschen war; da kam auch der Bremsversuch (gegenüber seinen linksradikal aktivistischen ›jungen Wölfen‹) von Stalin – des Sowjetvolkes großer Ernteleiter (Brecht) – mit seinem Appell Vor Erfolgen von Schwindel befallen (Prawda, v. 2. März 1930) zu spät. Die grauenhafte Folge mit Millionen von Hungertoten (Anfang der Dreißiger) hatte natürlich das ganze Land zu tragen und nicht etwa ›nur‹ eine Zielgruppe der Enteigneten, oder gar nur in der Ukraine. Dieser Vorgang eines im Grunde genommen ›inneren‹ Bürgerkriegszustandes ist im Ganzen von den Gründen, Umständen und Ausmaßen her in keiner Weise vergleichbar mit dem gezielten Verhungernlassen jüdischer Ghettos in den von Deutschland besetzten fremden Ostgebieten (zu Beginn der Vierziger). Zumal jene verhängnisvollen politisch-ideologischen Entscheidungen in der Sowjetunion gegen die russländischen Bauern von damals das ganze Land seither (nicht nur in Kriegszeiten) in einen anhaltenden Zustand universeller Mangelversorgung, regional auch schon immer wieder einmal an die Grenze des Hungers, gebracht haben.

Diese Umstände und Gründe chronischer Unterversorgung seit damals – versprochen worden sind Äpfel, ausgeblieben ist Brot (Brecht) – hielten an bis zum Ende des Kommunismus (1990) und trafen auf fast alle Länder des Kommunismus zu. Das Verhungernlassen der Juden in den Ghettos hatte dagegen keinerlei Versorgungsauswirkungen auf das Nazi-Reich, die Grenze zwischen hungrig und satt war immer die Grenze des Ghettos.

Wenn man also wirkliche Gründe zu diesem gewaltigen Elend (mit mehreren Millionen Toten) finden wollte, muss erstens auf die sowjet-ideologische Herrschaftsphilosophie verwiesen werden, d.h., dass alle Menschen unbedingt vom Eigentum zu entbinden seien und dass eine gesellschaftliche Entwicklung gerade jenseits aller Marktstrukturen zu erfolgen hat, und zweitens auf die verwaltungstechnisch und infrastrukturell völlig unzureichenden Mittel, solche Massenverschiebungen (Umsiedlungen, Lager- und Landerschließungen) effektiv so zu bewerkstelligen, dass die davon Betroffenen danach noch einigermaßen sinnvoll hätten wirtschaften können. Einer der Gründe, die dieses Elend befeuerten, war, dass es eben zu den geistigen Dispositionen aller ›weltheilenden‹ Herrschaft (wie sie exemplarisch Stalin exekutierte) gehörte, immer das ›Politische‹ über das ›Ökonomische‹ zu stellen. Im August 1942 hat das Stalin einmal Churchill gegenüber verdeutlicht, als er sagte: die Kollektivierung hat uns einen viel schrecklicheren Krieg aufgezwungen. Wir hatten zehn Millionen Bauern [Bauern, nicht Nationalitäten! - St.D.] gegen uns. Das war ein furchtbarer Krieg, er dauerte vier Jahre, wie das der polnische Emigrant Gustaw Herling in einer Tagebuchnotiz v. 23. Februar 1992 festhielt (Tagebuch bei Nacht geschrieben, Hanser Verlag 2000, 291)

Diese Hungerkatastrophe, mit der alle kapitalismuskritischen Schreckensherrschaften begannen, war von ihren Gründen her alles andere als eine sozusagen kalt-analytische Wannsee-Planung, sondern eher eine Art unauflöslicher und grandioser Wirrwarr zwischen dem, was sie tun wollten, dem, was sie zu tun glaubten, dem, was sie getan hatten, und dem, was das, was sie getan hatten, bewirkte (Julien Gracq, Der große Weg, Hanser Verlag 1996, S. 197).

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