
Bannkreis (88): Die lange Sezession der Ukraine
… neulich im Einstein
machte mir meine polnische Freundin klar, dass die jüngsten kriegerischen Ausbrüche des ›Nationalstolzes der Großrussen‹ (als Mentalität schon Anfang des Ersten Weltkriegs von Lenin kritisiert) nicht bloß aus deren neueren Bedrohungsphobien zu begründen sind, sondern dass darin eine über hundertjährige geopolitische Dynamik in Rechnung zu stellen ist.
Mit dem Zusammenbruch des russischen Kaiserreichs 1917 kam es sehr schnell, zunächst vom Bolschewismus unterstützt, zur nation-building bei vielen aus dem sogenannten ›Völkergefängnis‹ entlassenen Ethnien; am nachhaltigsten (und geostrategisch einfallsreich) geschah das bei der Neubegründung der Republik Polen (Nov. 1918), die sich mit erheblichen militanten Landnahmen aus dem Bestand der ehemaligen drei Monarchien konstituierte [expl.: westpreuß. Posen (Poznań), litauisch Vilnius (Wilna), ostgalizisch Lemberg (Lwów)].
Putin, der Krieg und Männlichkeit im 21. Jahrhundert
von Michael Klein
Dass der russische Präsident und Diktator Wladimir Putin nach langen Vorbereitungen im Februar 2022 die Ukraine überfallen und noch mehr aggressive Handlungen im Köcher hat, und die Ukraine dem schutzlos ausgeliefert war, demonstriert die Ohnmacht und Schwäche des Westens. Diese besteht schon seit etlichen Jahren und ist vor allem ein Produkt der Verachtung und Abwertung vieler westlicher Eliten des Systems, in dem sie selbst leben. Diese weit verbreitete Ablehnung des eigenen politischen und wirtschaftlichen Systems erscheint wie ein Luxus auf hohem Niveau, zeigt aber die innere Aushöhlung des westlichen Wertesystems. Dazu gehört: Männer sollen sich schämen, Männer zu sein, Weiße sollen sich mit einer rassistischen Erbsünde belastet fühlen, weil sie Weiße sind. Diese, das eigene gesellschaftliche System verachtende, Haltung ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Wie konnte es soweit kommen? Es handelt sich um Symptome des Niedergangs des demokratischen Westens, der mit den Jahren um 1968 herum begonnen und zuletzt immer mehr Fahrt aufgenommen hat. Dass der radikale Feminismus als Ideenkader und die pseudoreligiösen Ideen der Genderwissenschaften dabei eine wichtige Rolle spielen, wird bei genauerer Betrachtung schnell deutlich. Die Ereignisse um den Aggressionskrieg in der Ukraine haben den Westen zusammenrücken lassen, viele sprechen von einer Zeitenwende. Die Schwäche des Westens wird aber nicht enden, bevor eine akzeptierende Haltung zu sich selbst und vor allem auch zu der Mehrzahl der Männer eintritt, die positive Männlichkeit repräsentieren. In den folgenden Analysen zum gesellschaftlichen und psychologischen Zustand des Westens werden die aktuellen Entwicklungen rund um Putin und die Ukraine miteinbezogen.
Belastbare Fakten versus nachträgliche Wünsche zur Aufnahme unabhängiger Staaten in die NATO
von Gunter Weißgerber
Die Diskussion um die sogenannte ›NATO-Osterweiterung‹ bleibt erhalten. Diskussionen lassen sich nicht abwürgen. Für die Beteiligten besteht allenfalls die Frage, ob die weitere Beteiligung daran Sinn macht. Das muss auch jeder für sich entscheiden. Ich habe mich entschieden. Bis auf diesen Text, der eventuell Ergänzungen erfahren wird, schreibe ich nichts mehr zum Thema und beteilige mich an dieser Endlosschleife nicht mehr.
Ich denke, in der Diskussion sollte zwischen belastbaren Entscheidungen und Vereinbarungen auf der einen und Interpretationen und Wünschen unterschieden werden.
Das Menschenbild in Putins Armee
von Gunter Weißgerber
Es häufen sich die Meldungen, wonach viele der russischen Soldaten nicht wissen, dass sie sich nicht im Manöver an der ukrainischen Grenze befinden, sondern Teilnehmer eines mörderischen Überfalls auf ihr Nachbarland sind.
Wäre das nicht schon 1968 beim sowjetischen Einmarsch in die CSSR genauso gewesen, damals wurde der ›Prager Frühling‹ ermordet so wie heute die demokratische Ukraine in ein faschismusähnliches Konstrukt zurück gebombt werden soll, könnten solche Meldungen auch als Kriegspropaganda des westlichen NATO- und Ukraine-Imperialismus abgetan werden. Was jedoch unmöglich ist. Die jungen und sicher überwiegend ängstlichen und traditionell schlecht versorgten Soldaten wussten beim Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 ganz sicher nicht, dass sie zum Morden losziehen und gleichzeitig Kanonenfutter sind.
Die Ukraine-Krise – Innere und äußere Ursachen*
von Peter Brandt
Im osteuropäisch-slawischen Bereich, der lange zwischen den imperialen Mächten Russland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, in geringerem Maß auch Preußen bzw. Deutschland aufgeteilt war, vollzog sich die Nationbildung, verstanden als sozialer und kultureller Vorgang, gegenüber anderen Teilen Europas mit teilweise erheblicher Verzögerung: Die autochthonen Sprachen existierten teilweise nur oder nur noch als Bauern- und Unterschichtendialekte. Ferner waren die ethnographischen und linguistischen Verhältnisse im östlichen Teil des Kontinents dadurch gekennzeichnet, dass bis zu den großen Umsiedlungen und Vertreibungen der 1940er Jahre eine ausgeprägte Gemengelage ebenso charakteristisch war wie das Vorhandensein sogenannten ›schwebenden‹, national kaum zuordenbaren ›Volkstums‹.
Unter den diversen national-kulturellen und national-politischen Bestrebungen im östlichen Europa waren die der Ukrainer im Hinblick auf deren Existenz als Ethnonation in besonderer Weise problematisch: Die ukrainische Nationalidee ist in mehrfacher Hinsicht eng verbunden mit der russischen. Dabei geht es nicht allein um die sprachliche Verwandtschaft (beides, wie auch das Weißrussische, ostslawische Sprachen, geschrieben in kyrillischen Buchstaben) und die Nähe der religiösen Konfessionen: in der Ukraine heute drei konkurrierende orthodoxe Kirchen sowie die mit dem römischen Katholizismus verbundene, ›unierte‹ Kirche mit ebenfalls ostkirchlichem Ritus. Gemeinsam ist Russen und Ukrainern der auf die Kiewer Rus des 9. bis 12. Jahrhunderts zurückgehende nationalstaatliche Ursprungsmythos.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Die frei verwendeten Motive stammen von Monika Estermann, Renate Solbach und Ulrich Schödlbauer.