von Ulrich Siebgeber

Für die Nüchternen kam die Botschaft von der totalen Überwachung der digitalen Datenflüsse durch staatliche Informationsbeschaffer der westlichen Hemisphäre nicht überraschend. Diese Nüchternheit, die sich mit ein wenig Herablassung gegenüber den in ihren Überzeugungen weniger solventen Zeitgenossen paart, ist vielleicht bereits ein Teil des Problems und nicht einmal das geringste, da sie ebenso wenig auf Wissen beruht wie das schlichte Vertrauen auf die rechtliche Sinnesart der staatlichen Organe, also vorgreifend nur die Empörung abschöpft, die sich an solchen – notwendig vage bleibenden – Einsichten der Öffentlichkeit bildet.

Mit der Nüchternheit geht es nicht anders als mit den Metadaten der digitalen Medien. Wo immer Bedarf entsteht, kommt es zu Weiterungen: einem Mehr an (inhaltlicher) Informationsabschöpfung im einen, an diversen Modi politischer Dissonanz im anderen Fall. Niemand täusche sich da: das virulente ägyptische Dilemma – Demokratie oder Freiheit – ist auch der Überwachungsfrage inhärent. Wenn eine Mehrheit, zufrieden oder nicht, es ganz der Ordnung entsprechend findet, in ihren Alltagsverrichtungen nicht bloß an den üblichen neuralgischen Punkten, sondern, wie der Ausdruck lautet, ›flächendeckend‹ kontrolliert zu werden, dann hat sie die betreffende Ordnung – in Gedanken und in praxi – bereits in etwas transponiert, das sie, in der Ordnung rechtlich-staatstragender Gedanken, nicht sein darf. Das Einverstandensein mit dieser Form der Überwachung bezeugt Gesinnungen, die es verdienen, überwacht zu werden. Darum sind die üblichen Weisen des Einverstandenseins im politisch-sozialen Sinn paranoid. Und zwar gleichgültig, ob sie sich als Nichteinverstandensein (»natürlich nicht!«) maskieren oder ob sie die Karte des braven Bürgers ausspielen, der nichts zu verbergen hat (und dies auch von den lieben Mitbürgerinnen erwartet), aber selbstverständlich beim Gedanken an Wirtschaftsspionage von der Sorge um die heimische Ökonomie geschüttelt wird und sofortige Gegenmaßnahmen verlangt. Nein, die Wirtschaft hat nichts zu verbergen, der Staat übrigens auch nicht, Betriebsgeheimnisse ausgeschlossen, die stehen auf einem anderen Blatt.

Dass die private Ausspähung lange als Ärgernis aufgefasst werden konnte, hatte ja nichts damit zu tun, dass die werten Mitmenschen sich in ihrem Innersten ertappt gefühlt hätten, sondern damit, dass ihnen die gegen unendlich schwappende Werbeflut vor der eigenen Haustür und im Mail-Eingang lästig wurde. Seit es Programme gibt, die Browser und Mailbox halbwegs clean halten, hat sich bekanntlich auch die Privacy-Bewegung in ihr Gegenteil verkehrt, und die atemberaubende Offenherzigkeit des Web 2 resultiert nicht zuletzt aus der Lust der Ausgespähten, selbst auszustellen, was als Archivmaterial sonst im Zugriffsbereich unbefugter oder befugter Unbefugter vor sich hindümpeln würde.

Gäbe es nicht diese Fähigkeit der Massen, Friktionen aller Art in Lebensgefühl zu verwandeln und private Bedrückung über kollektiven Ausdruck abzufackeln, dann könnte neben dem sogenannten Fortschritt auch die kommerzielle Popularkultur einpacken. Ähnliches gilt für die Akzeptanz einer Regierungskunst, der beim Ritt auf dem Tiger die Gehwerkzeuge verkümmerten, so dass sie nun nicht mehr herunterkommt. Es könnte ihr auch niemand herunterhelfen. Wo die Machbarkeitsstudien den Folgenanalysen davonlaufen, fällt es schwer, Technikern den Zutritt zum Allerheiligsten zu verwehren. Der Mensch ist das Wesen, das sich arrangiert.

Gern möchte man Zeitgenossen, die, Arroganz in der Stimme, ihren Mitbürgern Netzabstinenz empfehlen, um das Problem zu entschärfen, den Spiegel ihres eigenen, ins Halbbewusste hinabreichenden Konsums, vor allem aber der Produktion vorhalten, als deren Rädchen ihre Stimmchen vernehmlich werden. Hauptsache, ihr Vermögen ruht in gehärteten Tresoren, an denen kein Informationsfluss nagt. Eine seltsame Vorstellung geben bei alledem die sogenannten Printmedien, die mit mehr oder weniger ökonomischem Erfolg ihre Dependancen im Netz betreiben und seit Jahrzehnten herunterquatschen, was so lange nicht als tragfähig gelten darf, bis der Wind des Wandels ihnen die letzten Krücken wegbläst. Sie haben gewarnt: soll heißen, ihre professionellen Warner haben neben den üblichen Artikeln bunt dekorierte Bestseller geschrieben und über die üblichen Netzkanäle vertrieben, in denen eine mehr oder weniger umfangreiche Dämonologie des Informationszeitalters auf das eingeschüchterte Publikum losgelassen wurde - alles nach dem Motto: besser, die Dämonen sind los, als dass die Bevölkerungen ihren Regierenden auf die Finger schauen. Richtig ist, dass es schwer fällt, jemandem auf die Finger zu sehen, der sie verdeckt hält. Aber auch das wäre keine ganz neue Erfahrung.

Niemand kommt um die Einsicht herum, dass, was in diesen Wochen ans Licht getreten ist und jedem Nicht-Blasierten die Sprache verschlägt, in der Zentrale entschieden wurde und weiterhin wird. Die USA haben sich – u.a. mit Hilfe des Patriot Act – eine begrenzte, jedoch wirkungsvolle Form des Ausnahmezustandes geschaffen und es ist wohl keinerlei Regung in Sicht, die darauf hindeutete, dass sie sich dieses Instruments so bald wieder entledigten. Das Wahlvolk ist dabei kaum mehr als Publikum. Niemand, der nicht über Spezialkenntnisse verfügt, kennt die Regeln, nach denen das weltumspannende Spionagespiel heute gespielt wird. Auch auf dem Feld der Bedrohungsanalysen sehen die Bewohner dieser Hemisphäre keineswegs klar. Insofern fehlt ihnen eine wesentliche Grundlage für Urteile, die auch auf diesem Feld der politischen Willensbildung vorausgehen müssten. Andererseits sollte keiner so tun, als hebelten die neuen Kommunikationsmedien und ihre technischen Eigenheiten per se Prinzipien aus, deren Geltung über Jahrhunderte, darunter in blutigen Weltkriegen und friedlichen Revolutionen, erkämpft und bekräftigt wurden. Der begrenzte Überwachungsstaat ist eine Notwendigkeit und ein Übel, der unbegrenzte ganz sicher ein Übel, in dem die Notwendigkeit sich in ihr Gegenteil verkehrt: eine Anomalie der Geschichte, solange sie auch andauern mag.

 

 

Abb.: Spigget, Dispersive Prism Illustration. Quelle: Wikimedia Commons

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Mein lieber ***

    auf Ihrem Weblog las ich vor wenigen Tagen die Bemerkung, es sei besser ein wenig Licht zu verbreiten als schmollend im Dunkeln zu verharren. Das ist, ohne jeden Zusatz gedacht, die Formel der Aufklärung, zuzüglich des Schmollens, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Man kann diese Formel heute überall finden. Sie ist der Weichmacher der Informationsgesellschaft, in der die digitalen Flutlichtanlagen jeden Winkel aufs Grellste ausleuchten (und das...

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  • von Jobst Landgrebe

    Die politische Geschichte ist die Geschichte des Kampfes unter Gleichen, merkte der Aphoristiker Gómez Dávila einst an, wörtlich schrieb er: »Die Klassenkämpfe sind Episoden. Das Gewebe der Geschichte bildet der Konflikt zwischen Gleichen.« Norbert Elias erkannte, dass die Kulturgeschichte die Geschichte der Kultur der Eliten ist. Wer sind die Eliten? Menschen, die dauerhaft mehr Macht haben als fast alle anderen Menschen einer Gesellschaft - in der Regel ein Promille der...

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Politik / Gesellschaft

  • von Heinz Theisen

    Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung in einer multipolaren Welt

    Der Westen hat kein Monopol auf Modernisierung mehr. Je weniger es nur eine Moderne, den Westen gibt und neue Formen der Modernisierung entstehen, desto mehr werden auch Indien und China politisch ihre eigenen Wege gehen.

    Mit der moralischen, den Westen in seiner Hegemoniebestrebungen legitimierenden Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden wir der Multipolarität der Welt nicht gerecht, zumal die meisten...

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  • von Heinz Theisen

    Globales Denken als lokaler Ruin

    Zu den großen Paradoxien der Gegenwart gehört der Wechsel der einstmals »antiimperialistischen Linken«, die im Gefolge der USA zur Eroberung des eurasischen Raumes in die Ukraine vorgerückt sind. Heute verteidigen sie dort mittels Waffen- und Finanzhilfen den NATO-Mitgliedsanspruch der Ukraine unter Inkaufnahme schwerster eigener Verwerfungen: ihre einstige Entspannungspolitik, die infantile Parole vom »Frieden schaffen ohne Waffen«, aber auch die...

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Souverän für Amerika

  • von Ralf Willms

    I

    im Grunde viel versprochen

    die Pyramiden, das sei nicht die 
    eigentliche Geschichte, da sei eine
    verschwiegene Geschichte
    unterhalb der Geschichte.

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist...

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein...

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die...

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im...

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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