von Herbert Ammon
Aus universalgeschichtlicher Sicht hat Geopolitik – die Dialektik von Macht, Raum und Zeit – eine bis in die Zeit der alten Hochkulturen zurückreichende Vorgeschichte. Die Schwäche des Begriffs liegt in seinem Determinismus, sein heuristischer Wert in der Wahrnehmung der geographischen und geographisch-historischen Bedingungen politischen Handelns. Er wird sinnfällig in dem Diktum des finnischen Diplomaten und Staatspräsidenten Juho Kusti Paasikivi (1946-1956) im Hinblick auf die prekäre Lage Finnlands im Schatten des (sowjet-)russischen Imperiums: »Man kann nicht gegen die Geographie seines Landes Politik machen.« Im Hinblick auf Putins Krieg wäre derlei Einsicht dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi zu wünschen gewesen. Er kam dazu – mit Neutralitätsangeboten an Putin – in den ersten Tagen nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022, als es dafür zu spät war.
Peter Brandt
Seien wir ehrlich: Die Wenigsten von uns haben damit gerechnet, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Ich selbst habe es nicht für undenkbar, aber für äußerst unwahrscheinlich gehalten – wie auch die meisten Experten – und in dem Truppenaufmarsch noch Mitte Februar 2022 eine Drohkulisse gesehen. Alle moralischen Gesichtspunkte beiseite gelassen, war vorhersehbar, dass die militärische ›Spezialoperation‹ die NATO zusammenschweißen und die Führungsrolle der USA im ›Westen‹ wie seit langem nicht mehr befestigen würde. Dieser Effekt ist sogar überboten worden durch den schnellen Beitritt Schwedens und Finnlands zum Atlantischen Bündnis, zweier Staaten mit einer über zweihundertjährigen bzw. beinahe achtzigjährigen Tradition blockfreier Außen- und Verteidigungspolitik.
Der Krieg im Osten des Kontinents ist auf der ersten Ebene ein legitimer Verteidigungskrieg der seit 1991 souveränen Ukraine gegen einen unprovozierten Angriff. Dabei spielt die Qualität der inneren Ordnung der Ukraine zunächst keine Rolle: Auch defizitäre Demokratien, korrupte und/oder autoritär regierte Staaten dürfen nicht militärisch attackiert werden. Die Ukraine verteidigt insofern ihre staatliche Unabhängigkeit und nichts weiter – entgegen der NATO-Lyrik von ›unserer Freiheit‹ und ›unseren Werten‹, die am Dnepr verteidigt würden.
mitgeteilt von Peter Brandt
Putins fatale Entscheidung, die Ukraine anzugreifen und völkerrechtswidrig einen Krieg in Europa vom Zaune zu brechen, hat dazu geführt, dass in Politik und Medien immer wieder die sozialdemokratische Entspannungspolitik, teilweise zurückgehend bis Willy Brandt und Egon Bahr, sowie die Politik nachfolgender Jahrzehnte indirekt für den Angriffskrieg mitverantwortlich gemacht wird. Wir widersprechen dem nachdrücklich und rufen im Folgenden die Rahmenbedingungen und Mechanismen in Erinnerung, unter denen Entspannung im alten Ost-West-Konflikt möglich wurde. Dies hat letztlich zu dessen Ende geführt und die Deutsche Einheit mit ermöglicht. Diese Phase ist historisch abgeschlossen und nicht ursächlich für das jetzige Desaster. Ungeachtet dessen wird behauptet, dass eine vermeintlich allein auf Kooperation gebaute Politik den Herrscher im Kreml ermutigt habe, den heutigen gewaltsamen und alle Regeln missachtenden Weg zu gehen. Entscheidend wird in Zukunft sein, ob und unter welchen Bedingungen es wieder zu einer Phase kooperativer Sicherheit kommen kann. Das Schweigen der Waffen in der Ukraine, die Respektierung und Sicherung ihrer staatlichen Integrität und eine stabile, dauerhafte Friedenslösung sind dafür die zentralen Voraussetzungen. Viele strukturelle und inhaltliche Fragen zur europäischen Sicherheit, die zumeist nicht neu sind, stellen sich in diesem Zusammenhang. Sie bedürfen aber unter den neuen Bedingungen neuer Antworten.
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