von Antje Vollmer

Bei der berechtigten Kritik an der Austeritätspolitik werden oft die Vorgeschichte und die Schlüsselereignisse vergessen, die entscheidend dafür waren, warum sich diese Denkschule später so nahezu widerstandslos im europäischen Rahmen durchsetzen konnte.

Diese Vorgeschichte hat mit den Ereignissen des Zusammenbruchs der DDR und später des Comecon zu tun. Sie beginnt genauer mit der Debatte um die Währungsunion im Rahmen der Deutschen Einheit im Jahre 1989/90. Um die schnelle Einführung der DM auf dem Gebiet des damals noch eigenständigen Staates DDR ( sie wurde am 18. Mai 1990 unterschrieben und am 1. Juli 1990 umgesetzt) gab es anfangs in der Politik und der Wissenschaft Westdeutschlands noch erhebliche und heftige Meinungsunterschiede. So vertrat der damalige Bundesbankchef Karl Otto Pöhl zusammen mit anderen Finanzexperten die Ansicht, eine sofortige Währungsunion würde umgehend zum Ruin aller bestehenden Betriebe der DDR und zum sofortigen Zusammenbruch aller ihrer Handelsbeziehungen zum damals noch bestehenden Ostblock führen. Die Folge wäre zwangsläufig eine hohe Arbeitslosigkeit auf diesem Beitrittsgebiet, die neuen Länder würden – nach ihrer vollständigen Entindustrialisierung - zum ›Mezzo giorno‹ der Bundesrepublik werden. Für die SPD vertraten der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, und sein Berater Heiner Flassbeck ebenfalls die damals noch vorherrschende Expertenmeinung, die Angleichung zweier Wirtschaftsgebiete und zweier Finanzordnungen erfordere zumindest eine Übergangszeit von zehn Jahren zum Ausgleich der unterschiedlichen Produktivitätsrankings, zum systematischen Umbau der Industriestruktur, zur Qualifizierung der Arbeitnehmer auf neue Produktionstechniken und zum allmählichen Umbau der bestehenden Handelsbeziehungen zu den Comecon-Staaten. In dieser Zeit wäre eine ›Sonderwirtschaftszone Ost‹ anzustreben, mit besonderen Investitions- und Förderprogrammen und Sonderbedingungen in der Unternehmenssteuer. Diese ›Alte Schule‹ einer finanz- und wirtschaftspolitischen Vernunft vertrat damals auch weitgehend Helmut Schmidt, der frühere Bundeskanzler.

Dagegen wurde – insbesondere von der Regierung Kohl (CDU)/Genscher(FDP) – ins Feld geführt: So lange könne man nicht warten. Die Chance zur Deutschen Einheit bestehe nur in diesem einen ›kairos‹ der Geschichte, nur in diesem winzigen Augenblick sei das Tor zur nationalen Einheit offen. Sie müsse unverzüglich und ausschließlich politisch vollzogen werden, bevor es sich die SU anders überlege. In einem solchen Augenblick habe das Primat der Politik Vorrang vor finanzpolitischer Skepsis und ökonomischem Sachverstand. Für die Ostdeutschen sei der sofortige Besitz der DM nun einmal der eigentliche Beweis, dass sie endlich im ›Westen‹ angekommen seien. Kommt die DM nicht zu uns, kommen wir zu ihr wurde in Sprechchören gerufen. Die Massenmedien, die Bild-Zeitung und auch die Fernsehsender brachten das Thema groß heraus und drohten – wie sich die Bilder doch manchmal gleichen – mit Strömen von DDR-Flüchtlingen, die zur DM in den Westen kommen würden. Die Zahlen der DM-Umsiedler wurden als täglich anwachsende Flut dargestellt. Man müsse die Menschen – so wurde suggeriert – mit der DM im Osten halten, damit sie nicht plötzlich zu Konkurrenten der westdeutschen Arbeitnehmer würden.

Es war Wahlkampf – und die DM wurde rechtzeitig vor dem Wahltermin eingeführt. Die ökonomischen Folgewirkungen konnten so schnell nicht sichtbar werden, später aber wurden sie insgesamt der ›sozialistischen Misswirtschaft‹ angelastet. Das höher angesehene Zahlungsmittel hat seine eigene Magie – es verleiht eine Zugehörigkeit besonderer Art. (In der Frage des Euro für Griechenland sollte sich das später wiederholen.) Den Kritikern der mit der Währungsunion fest verbundenen neoliberalen Konzepte, die einen langsamen, gesteuerten Übergang von der einen in die andere Währung anstrebten, gelang es in der Euphorie der DM-Einführung nicht, ähnlich wirkungsvolle Medienstrategien und magische Inszenierungen aufzubauen. Diese Kritiker wurden auch von den meisten Leitmedien nicht als Vertreter eines ökonomisch und finanzpolitisch verantwortlichen Weges, sondern als grundsätzliche Gegner der deutschen Einheit hingestellt, als Verächter der Wünsche der DDR-Bevölkerung, die doch für die Freiheit und den Wohlstand und also irgendwie auch für die DM auf der Straße gekämpft habe. Fatal war, dass insbesondere die SPD dazu keine klare Oppositionsrolle einnahm, sondern in ihren Positionen gespalten war. Ihre damalige finanzpolitische Sprecherin im Bundestag, Ingrid Matthäus-Maier, trat vehement für die schnelle Währungsunion ein. (Sie wurde übrigens später Chefin der Kreditanstalt für Wiederaufbau (Ost), die sie mit neoliberalen Konzepten leitete und mit enormen Verlusten voll in die Finanzmarktkrise 2008 steuerte.)

Was war das Ergebnis? Helmut Kohl und die CDU/CSU gewannen die Wahl, Wolfgang Schäuble managte umgehend in diesem Sinne die Einheitsverträge und die Wirtschafts- und Währungsunion. Er schaffte das Instrument der Treuhand (unterschrieben am 1. März 1990 – vollzogen ebenfalls am 1. Juli 1990), das die Privatisierung von 7894 ehemals staatlichen Betrieben(!) mit 4 Millionen (!) Beschäftigten einleitete – zu Spottpreisen oder für rein symbolische Summen. Überall in Ostdeutschland entstanden Filialen und Dependencen, die Konzernzentralen blieben im Westen oder im Ausland. Es wurde die These vertreten, alle Industriebetriebe in der DDR seien praktisch nur Schrott und keineswegs sanierungsfähig. Daneben wurden der Grund und Boden und der Immobilienbesitz den früheren Eigentümern (vor 1948) zurückerstattet – nach der Parole: Rückgabe vor Entschädigung. Mit steuerbegünstigten Investitionsbeihilfen wurden so viele globale Anleger angelockt – was später zu einer Immobilienblase führte –, wie wir sie auch im Rahmen der EU-Politik aus Spanien, Irland, Portugal kennen. Mit den EU-Fördermitteln entstanden gerade in den neuen Ländern eine kaptalintensive Agrarindustrie und eine globalisierte Lebensmittelindustrie in einer Größenordnung, wie sie der Westen bis dahin nicht gekannt hatte. Neue Gewerbegebiete wurden um die kleinsten Orte ausgewiesen und riesige überdimensionierte Einkaufszentren gebaut, auch dieses ›Landschaftsbild‹ kennen wir inzwischen europaweit.

Dies Modell der blitzartig vollzogenen Ausdehnung einer Finanz- und Wirtschaftsordnung auf ein ›Beitrittsgebiet‹ galt und gilt bis heute als Erfolgsmodell und war offenbar auch die Blaupause für die europäische Wahrungsunion unter der Ägide der Troika. 25 Jahre später hat das BIP Ostdeutschlands 75 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht, eine Marke, bei der es aber stagniert. Die ostdeutschen Städte sind schöner renoviert als die im Westen. Die westdeutschen und internationalen Konzerne übernahmen die industriellen Restbestände und gründeten moderne Fertigungsstätten, deren Produktivitätsstufe die in Westdeutschland in manchen Fällen sogar übertreffen, aber viele Arbeitsplätze vernichteten. Ein Heer von Beratern, Banken- und Versicherungsagenten schwatzten den einzelnen Bürgern, den Kommunen und neuen Länderregierungen oft völlig überzogene Investitionen in der Infrastruktur ( Müll/Wasser/Energie/Verkehr/Flughäfen) und ungünstige Verträge auf. Die öffentliche Daseinsvorsorge wurde privatisiert. Da die DDR-eigene Konsumgüterindustrie fast vollständig zusammenbrach, hatten die westdeutschen Konzerne eine einmalige Situation: sie übernahmen widerstandslos einen neuen, völlig offenen Absatzmarkt, der ihnen exorbitante Extraprofite versprach. So wurde der Grundstock gelegt für die besonders günstige Ausgangssituation, mit der die deutsche Exportindustrie dann knapp 10 Jahre später in die europäische Währungsunion eintreten konnte. Sie war modernisiert, privatisiert, globalisiert, exportorientiert, also bestens aufgestellt für den Sprung, neue Absatzmärkte bei ihren europäischen Nachbarn zu erobern.

Natürlich kostete diese Entwicklung auch ihren Preis. Der Arbeitsmarkt Ost brach zunächst fast vollständig zusammen. Die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, besonders von qualifizierten jungen Menschen, übertraf alles Vorhergehende, die Bevölkerungszahl sank von 15,2 Millionen (1989) auf 12,5 Millionen (2014), also um 20 Pozent. Prognostiziert wird bis 2050 ein Verlust von 40 Prozent - in den Medien ist das aber kein Thema mehr. Manche Städte und Landkreise verloren die Hälfte ihrer Bewohner. Zurück blieben die alten Menschen und die, die sich als Globalisierungsverlierer empfinden – nicht zuletzt ist das, neben der Flüchtlingsfrage, ein Grund für den Zuwachs an rechten und rechtsradikalen Bewegungen in Ostdeutschland ( 25 Prouent bei den letzten Wahlen ). Landflucht und schrumpfende Städte verlangten eine völlige Umstellung der öffentlichen Verwaltung und Infrastruktur. Der Betrug in Zusammenhang mit der Währungsumstellung wird auf 20 Milliarden DM geschätzt. Die Treuhand galt in der Bevölkerung in weiten Teilen als Instrument einer feindlichen Übernahme und der Enteignung der DDR-Bevölkerung.

Warum ging dies alles trotzdem fast ohne öffentlichen Protest und ohne soziale Unruhen vonstatten?

Der erste Grund: Wer die politische Macht in den Händen hat und genügend Finanzmasse, kann auch dann gewinnen, wenn er ein falsches Konzept verfolgt.

Der zweite Grund ist ein national-ideologischer: Alle Verluste und persönlichen Einbußen wurden in der Euphorie der gewonnenen nationalen Einheit versteckt, durchaus vergleichbar, wie man später die europäische Währungsunion unter der Ägide der Euro-Institutionen als Glück und Höhepunkt der endlich errungenen europäischen Einheit feierte (kamen doch auch hier die Osterweiterung von EU und NATO dazu).

Der dritte Grund aber, der sich bei der europäischen Währungsunion eben nicht wiederholte, war entscheidend: die deutsche Einheit wurde mit bedeutenden sozialen Vorsichts- und Ausgleichsmaßnahmen begleitet – mit einem Fonds für die deutsche Einheit, mit dem Solidarpakt I von 1993 und dem Solidarpakt II von 2001: Die Renten und Sozialkassen für die DDR-Bewohner wurden weitgehend denen im Westen angepasst, was zur Absicherung und Ruhigstellung der Alten und Arbeitslosen führte. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Bedingungen unter den neuen und alten Ländern wurden soziale Ausgleichsmaßnahmen beschlossen, die erst 30 Jahre nach der deutschen Einheit auslaufen sollen – also den Zeitraum einer ganzen Generation umfassen. Alle deutschen Beschäftigten zahlen jahrzehntelang mit ihren Steuern eine Solidaritätsabgabe Ost und den Länderfinanzausgleich. Insgesamt sind in den letzten 25 Jahren fast 100 Milliarden jährlich zum Ausgleich des Lebensstandards von West nach Ost transferiert worden, das wird bis heute auf eine Gesamtsumme von 2000 Milliarden Euro geschätzt. Ähnliche Ausgleichsmaßnahmen wurden für die europäische Währungsunion nicht einmal angedacht.

Wie gesagt: eine Erfolgsgeschichte, ein politisch-mediales Meisterstück aus der Frühgeschichte des Neoliberalismus! Sie war das erste Versuchslabor, die Voraussetzung für die extrem günstige Sondersituation, mit der die Bundesrepublik Deutschland 1999 dann in das Großexperiment der europäischen Währungsunion eintreten konnte. Sie war darauf besser vorbereitet als alle anderen Länder in Europa. Mit einem gewaltigen Exportüberschuss war sie in der Lage, die aus der eigenen höheren Produktivitätsstufe entstehende Arbeitslosigkeit auf andere Länder zu exportieren. Sie kam mit den für die eigenen Interessen so günstigen Konzepten aus der deutschen Wirtschafts- und Währungsunion und mit Wolfgang Schäuble, also dem gleichen Architekten und Verhandlungsführer wie 1990, in die europäische Währungsunion.

Aber die deutsche Regierung und die Brüsseler Politik kamen ohne die Bereitschaft zu auch nur annähernd gleichen sozialen Ausgleichsmaßnahmen und leider auch ohne die alten Politiker einer sozialen Marktwirtschaft, zu denen sowohl Norbert Blüm wie Helmut Kohl und ehemals auch die meisten Sozialdemokraten in Europa noch gehört hatten. Die europäische Währungsunion wurde von einer ganz anderen politischen Interessenlage und einer ganz anderen Politikergeneration gemanagt, die schon völlig unter der Denkschule der neoliberalen Austeritätspolitik stand. Nach der Finanzkrise von 2008 waren die Merkels, M. Schulz', Lagardes und Schäubles schon gar nicht mehr geneigt, für das europäische Projekt auch nur annähernd die gleichen sozialen Ausgleichsmaßnahmen und immensen finanziellen Transferleistungen zu mobilisieren, mit der sie die deutsche Einheit einmal begleitet und abgefedert hatten. Über die politische Tauglichkeit dieses EU-Konzeptes ohne jede solidarische Komponente wurde nicht mehr diskutiert. Stattdessen griff die ›europäische Führungsmacht Deutschland‹ zur Zucht- und Schulmeisterei einer neoliberalen ›Reform‹ –Politik nach eigenem Vorbild, zum medialen, oft chauvinistischen Dauerbeschuss auf die Länder, für die dieses Konzept reines Gift war, und zu den Folterinstrumenten der Troika. Zu welcher europäischen Krise das geführt hat, ist besonders hier in Griechenland wohl bekannt.

(Beitrag zu einer Konferenz von SYRIZA: ALLIANCE against austerity - for democracy IN EUROPE, 18.-20.März, Athen)