von Markus C. Kerber

Der Held in Albert Camus’ großem Roman Die Pest von 1947, Dr. Bernard Rieux, sieht zunächst einige tote Ratten auf der Treppe eines Haus. Dann finden sich die Kadaver in größerer Zahl in der Gosse des Städtchens Oran. Schließlich häufen sich bestimmte fiebrige Erkrankungen bei den Einwohnern und der alerte Arzt macht alle seine Kräfte mobil.

Dieser verkürzte literarische Rückblick mag genügen, um klarzustellen: Bei Seuchen sollten Mediziner zu Wort kommen und nicht die Figuranten des Politikbetriebs mit einer überschaubaren akademischen Ausbildung.

Als der Bundesgesundheitsminister in der ZDF Talkshow am 30. 1. 2020 zu den bis dahin vier bekannten Corona-Fällen in Deutschland Stellung nahm, setzte er ganz und gar auf Wohlfühlpolitik. Obschon der Mediziner Johannes Wimmer die Möglichkeit bedrohlicher Szenarien qualifiziert darlegte und über den bislang unbekannten Charakter dieser viralen Lungenerkrankung berichtete, wollte Spahn nichts von einem Ausnahmezustand wissen. An der Grippe wären schließlich auch 50 Menschen gestorben und im Übrigen (Originalton Spahn): »Ich verstehe die ganze Hektik nicht!« Er verwies auf die »regelhafte Koordinierung« aller Maßnahmen zwischen Bund und Ländern. Es dauerte keinen Monat, bis am 26. 2. derselbe Bundesgesundheitsminister auf einer Pressekonferenz zugeben musste: »Wir befinden uns am Anfang einer Corona-Epidemie. Die Wahrheit ist nicht, dass die Epidemie an Deutschland vorbeigeht.«

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die fröhlichen Rheinländer bereits auf Karnevalszügen – mit dem Segen des Landesvaters Laschet – amüsiert und die Fußballstadien waren noch in vollem Betrieb. Wenig später, am 9. 3. 2020, konnte der Bundesgesundheitsminister nicht anders, als das Bestehen von bereits 240 offiziellen Infektionen zuzugeben. Im Bundestag erklärte er mit ungebrochenem Selbstbewusstsein : »Wir nehmen das Corona-Virus ernst, die Lage hat sich in den letzten Stunden geändert. Wir werden jeden Tag sagen, was wir wissen, aber auch das, was wir nicht wissen.«

Seither hat sich die Macht der exponentiellen Virusinfektion mit mehr als 20.000 registrierten Infektionen in Deutschland am 22. 3. in den Mittelpunkt des Geschehens geschoben. Niemand lässt sich mehr beruhigen durch die Worte des Herrn Ministers vom 9. 3.: »Wir müssen auch sehen, die Zahl der Genesenen ist weltweit gestiegen.« Jetzt geht es auch nach dem offiziellen Diskurs nicht mehr darum, der Pandemie zu entgehen, sondern ihre Ausbreitung einzudämmen, um die Krankenhauskapazitäten für die schwer erkrankten Patienten frei zu halten.

Doch Deutschland übt sich weiter in der Kohabitation von Ländern einerseits wie Nordrhein-Westfalen, das Spielplätze für Kinder zugänglich lässt, und andererseits Bayern, das den Katastrophenfall ausrief und strengste Maßnahmen ergriff. Der Zusammenstoß zwischen dem nahezu preußichen Markus Söder, der zu unpopulären, unumgänglichen Maßnahmen griff und dem ›Ritter wider den tierischen Ernst‹ Armin Laschet, der fröhlich-rheinisch auf die Stimmung in NRW Acht gibt, spricht Bände über den Zustand des deutschen Föderalismus.

Die öffentliche Selbstentblößung des Bundesgesundheitsministers wirft grundsätzliche Fragen über die Fähigkeit föderaler Demokratien auf, mit Ausnahmezuständen umzugehen. Der langjährige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde hielt seinerseits inmitten der Debatte über die staatlichen Notwehrrechte gegen Terrorismus seine Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg zum Thema, »Der verdrängte Ausnahmezustand?« (NJW 1978, S. 1881-1890) Damit ist in der Themenstellung bereits problematisiert, was für liberale Demokratien charakteristisch ist. Politiker sind am wenigsten bereit, Ausnahmezustände zu bejahen, die aus ihnen erwachsenden Gefahren zu zernieren und der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Sie wollen schließlich wiedergewählt werden und vermeiden zu diesem Zweck Ankündigungen oder gar Maßnahmen, die vom Demos als unangenehm angesehen würden. Indessen ging es bei der Corona-Krise darum, nicht nur die Ansteckungsketten nachvollziehen zu können, sondern das Eindringen des Virus in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Um dies erfolgreich zu gestalten, hätten an der Grenze seit den ersten vier Ansteckungsfällen strenge Kontrollen durchgeführt werden müssen. Insbesondere hätte man identifizieren müssen, wer aus Zonen mit hohen Ansteckungsgefahren kam. Nichts dergleichen ist geschehen. So nimmt es nicht Wunder, wenn der Bundesgesundheitsminister mittlerweile zugeben muss, dass die Situation »sehr dynamisch« und »der Höhepunkt der Pandemie noch längst nicht erreicht« sei. Der flackernde Blick des Jens Spahn unterstreicht seine irrlichternden Gedanken: Er dankt allen »Kolleginnen und Kollegen« in Bund und Ländern für den »sachlichen und konstruktiven Dialog«. Gleiches gelte für alle parlamentarischen Vertreter der Gesundheitspolitik quer durch die Parteien. Dies ist nicht der Diskurs, den man von einem Staat erwartet, dessen vornehmste Aufgabe es ist, Gesundheitsgefahren von seiner Bevölkerung abzuwehren. Jawohl, dieser Ausnahmezustand ist zu spät die Stunde des Staates geworden – eines Staates, der im Hin und Her zwischen Bund und Ländern, zwischen Konsultationen innerhalb der EU hilflos wirkte und wahrscheinlich darauf vertraute, dass sich – wie es der große Liberale Hayek einst formulierte – eine Ordnung spontan in der gegenwärtigen Situation herausbilden würde. Diese spontane Ordnung à la Hayek kommt allerdings immer nur durch das Verhalten von Individuen zustande. Wie will man angesichts der manifesten Hilflosigkeit der Staatsgewalt in Bund und Ländern sowie den surrealistischen Deklarationen der Kommissionspräsidentin Dr. von der Leyen es den Bürgern eines Landes verübeln, dass sie Hamsterkäufe durchführen und alle Desinfektionsmittel aufkaufen?

Was indessen fehlt, ist eine staatliche Gewalt, die durch ihren rigorosen Dezisionismus zwar von allen Betroffenen große Opfer fordert, aber hierdurch auch das Vertrauen in ihre eigene Funktionalität stärkt. Man mag über das chinesische Politiksystem die Nase rümpfen und muss die permanenten Regierungslügen verdammen. Da es diesem politischen System – und damit der Macht der Kommunistischen Partei – angesichts der grassierenden Infektion an den Kragen ging, verteidigte sie ihre eigene Macht durch die Rigorosität der Quarantäne-Maßnahmen.

Währenddessen macht Deutschland weiter Trippelschritte zum Ausnahmezustand. Ausgehverbote – in vielen europäischen Ländern längst verordnet – lassen noch auf sich warten. Am Vater Rhein feiert die Jugend in trauter Gemeinschaft den Frühling. Währenddessen bleibt es schwierig und risikoreich, sich auf die Corona-Infektion testen zu lassen. Dabei hat uns Südkorea gezeigt, wie man durch Corona-Drive-ins unschwer den eigenen Gesundheitszustand überprüfen kann.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die deutsche Politik zu rationaler Staatlichkeit zurückfindet oder sich weiter in Besänftigung und mütterlichen Apellen üben will. Angesichts des krassen Versagens des Bundesgesundheitsministers stellt sich aber schon jetzt eine verfassungspolitische Frage, die nicht verdrängt werden sollte:

Brauchen wir für Amtsinhaber, die gezeigt haben, dass sie mit diesen Krisen mangels adäquater Kenntnisse nicht fertig werden können, das Damoklesschwert eines Anklageverfahrens? Ein solches Anklageverfahren, in Amerika impeachment genannt, ist die Ultima Ratio, um einen Amtsinhaber, der die Verfassung verletzt, loszuwerden. Es wird auch in den USA außerordentlich sparsam verwandt, aber es wirkt als Sanktion tendenziell abschreckend. Nie wurde das Selbstbewusstsein des gegenwärtigen präsidialen Amtsinhabers Trump so getroffen wie durch die Erhebung eines Anklageverfahrens. Wir können aus den Verfassungspraxis der USA diesbezüglich eine Menge lernen und sollten reiflich darüber nachdenken, ob gegen die Oligarchie des Parteienstaates der Bürger das Recht auf Ministeranklagen erhalten sollte (vgl. hierzu: Laurence Tribe, »Nichtstun würde einen schrecklichen Präzedenzfall setzen«, NZZ vom 9. November 2019, internationale Ausgabe, S. 5). Immerhin gehe Minister Spahn – nach Meinung vieler Medien – mit gutem Beispiel voran. Denn im Gespräch mit Bunte, deren Berliner Büroleiter sein Ehemann Daniel Funke ist, sagte er seine Geburtstagsparty angesichts der Corona- Krise ab. Diesem Gesundheitsminister gelingt es sogar, seinen exhibitionistischen Narzissmus als Demut zu verkaufen. 

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