von Ulrich Siebgeber

Publikationen über den Alltag akademischer Lehre sind rar. Wer einmal studiert hat, glaubt ihn zu kennen, und die Lehrenden verfolgen, wenn sie sich zu Wort melden, in der Regel andere Zwecke. Das kann, angesichts der curricularen und modularen Vernetzung moderner Studiengänge, erstaunlich wirken, wenn man sieht, wie es im vorliegenden Fall gelingt, alles Lehrbuchartige zu vermeiden und die Leser teilhaben zu lassen an dem Rhythmus von Lehrvortrag, Aufgabenstellung und – studentischem – Ergebnis, der diesen Alltag nun einmal prägt.

Michael Schulze: Konzept und Werkbegriff. Die plastische Gestaltung in der Architekturausbildung, Zürich (vdf Hochschulverlag) 2012, 304 Seiten.

In seinen plastischen Arbeiten kombiniert der Künstler Michael Schulze gern Objekte der Industriegeschichte mit organisch anmutenden Materialien und Formen, um ihnen damit jenes zwitterhafte Leben zu verleihen, das jeder gelungenen Metapher eigen ist. Als Professor für Plastik im Rahmen des Architekturstudiums an der RWTH Aachen hat er es mit anderen Übergängen zu tun. Was an der Schnittstelle zwischen Architektur- und Kunstausbildung entsteht, ist weder Kunst noch Architektur, sondern etwas Drittes, eine Metapher des Bauens vielleicht oder einer Kunst, die sich im gesellschaftlichen Raum nützlich macht.

Warum sollte sie das? Vor allem: kann sie das? Wer die üppigen Bildbereiche des Bandes durchblättert, stellt fest, dass vieles von dem, was die Studierenden sich in diesem Studiengang erarbeiten, auf eine praktische Materialkunde hinausläuft, auf ein über Entwurf und handwerkliche Gestaltung angeeignetes ›Gespür‹ und Wissen darum, was man mit den verschiedenen plastischen Materialien machen kann, wie es sich anfühlt und wie es sich sehen lässt. Die Schwäche des reinen Funktionalismus ist bekanntlich seine gesellschaftliche Kälte. Dem gegenüber unternimmt die plastische Gestaltungslehre den Versuch, im Vorfeld architektonischer Gestaltung die menschliche Tonleiter der Gestaltung (und der konkreten sinnlichen Wahrnehmung des Gestalteten) aufzurufen, und das nicht nur als Appell an die ›Kreativität‹ der Studierenden, sondern unter Vorgabe von Gestaltungszielen und -mustern teils allgemeiner, teils recht spezieller Art. »Gerade in unserer medialen Welt, die einen gierigen Hang zur Entmaterialisierung aufzeigt, zielt das Plastische als ›Berührung der Welt‹ auf eine Formqualität, die der Architekt zu einem Stück Lebensqualität verwandeln soll.« (13) Dazu gehört bei bestimmten Projekten auch die gelebte Interaktion mit den Abnehmern, das heißt mit Vertretern des Personenkreises, der die gestalteten Objekte am Ende ›annehmen‹ und in seine Lebensaktivitäten integrieren muss.

Das Maß architektonischer Gestaltung ist der Mensch. Wer diesen Satz vom Odium der Platitüde befreien möchte, setzt gern – und vielleicht ein wenig hastig – hinzu: in seinen gesellschaftlichen Bezügen. Das mag schon stimmen, aber es verbleibt, als Feststellung, weiterhin im Bereich des Banalen. Um nicht nur bewohnbar zu sein, sondern auch mit allen Sinnen als bewohnbar wahrgenommen zu werden, bedarf Architektur eines besonderen Wechselverhältnisses zwischen dem Geformten und den aktiven Formbedürfnissen der Bewohner, die sich am Ende vielleicht in einem mehr oder weniger hilflosen Tischeverrücken und der obligaten Bebilderung kahler Wände manifestieren. Die Skala der als bewohnbar empfundenen Objektgesichter ist lang, vielleicht offen, aber sie ist nicht beliebig. Darin berührt sie sich mit der Skala künstlerischer Gestaltung. Beide fallen aber keineswegs zusammen. Die Zeiten, in denen man von einer bewohnbaren Kunst träumte, sind weitgehend vergangen, auch wenn die einst vom Jugendstil oder vom Bauhaus ausgegangenen Impulse im modernen Design ein munteres Nachleben entfalten. Eine Kunst, die sich der Unwirtlichkeit der Realität in ihren sozialen, politischen, ästhetischen und existenziellen Aspekten stellt, kann nicht ›architektonisch‹ sein und bedarf daher gesellschaftlicher und architektonischer, auch mentaler Sonderräume, um angemessen wahrgenommen zu werden und darin ›zur Geltung‹ zu gelangen. Sie hat es, streng genommen, auch nicht nötig, angenommen zu werden: wer sie nicht aushalten kann oder will, dem steht es jederzeit frei, sich von ihr abzuwenden.

Gegenüber der Architektur existiert diese Freiheit nicht, sie entsteht und behauptet sich ›zwischen den Menschen‹. Eine Konsequenz daraus lautet: plastische Gestaltung im Rahmen einer Architekturausbildung darf nicht als künstlerische Ausbildung verstanden werden. Sie sollte die Grenze zwischen der notwendigen Gestaltungsfreiheit angehender Künstler und der Freisetzung gestalterischer Impulse sowie der Ausbildung entsprechender Fertigkeiten konzeptioneller und materialkundlicher Art bei künftigen Architekten nicht nur respektieren, sondern auch konzeptualisieren. So jedenfalls lautet die von Schulze dezidiert vertretene Position. Dass er damit bei seinen Kollegen nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, ist ihm bewusst und er verwendet einige Sorgfalt darauf, diesen Punkt zu klären. Denn auch sein Ausbildungskonzept kommt ohne den Begriff der ›künstlerischen Arbeit‹ nicht aus. Viele Betrachter des opulenten Bildmaterials werden sich fragen, wo denn die Differenz der von seinen Studenten geschaffenen Objekte zu ausgewiesenen Kunstwerken zu suchen (und zu finden) sei. Der Unterschied liegt in der Methode: »Die künstlerischen Ergebnisse dabei sind austauschbar und nur so gut wie die Zielvorgaben, für die sie entwickelt worden.« (5) Was das bedeutet, wird deutlicher durch den festgeschriebenen Anteil des Didaktischen am gelungenen Objekt: »Wir sind eure ›Rechtsanwälte‹ und achten darauf, dass ihr euch an die Gesetze (des ästhetischen Systems) haltet, die ihr selbst erfunden und angewendet habt.« (14)

Dass Konzept und Materialisierung so strikt auseinander gehalten werden, hat indessen nicht allein didaktische Bedeutung. Für die Studenten ist die Formung von Objekten weder Selbstzweck noch Ziel der Ausbildung, sondern Mittel zum Erwerb von ›Schlüsselkompetenzen‹ (120) wie räumliches Denken, Abstraktionsvermögen und Kombinationsgabe, die im späteren Beruf benötigt werden. Zu diesen Schlüsselkompetenzen zählt das konzeptionelle Denken selbst. Dem gegenüber besitzen die entstehenden Objekte einen geringeren Status, wie reizvoll und wichtig sie auch zur Zeit ihres Entstehens für die Studierenden sein mögen. Die spezifische Einheit von Konzept und Realisierung, die das Kunstwerk ausmacht, ist weder gefragt noch erwünscht, ebenso wenig die Konzeptionsbrechung im Zuge der Ausarbeitung, die dem Kunstwerk gegenüber der bloßen Konzeption die höhere Dignität sichert: »Kunst kann ein Geheimnis haben, Gestaltungslehre aber sollte diametral dazu ihr Ziel offenlegen können.« (114) Dass dies gelingt, dass es gelingen kann, sofern der Wille dazu (und eine entsprechend geradlinige Lehre) vorhanden ist, das bezeugt die Gegenüberstellung von didaktischen Zielvorgaben und praktischen Aufgabenstellungen auf der einen und zum Teil äußerst reizvollen Ergebnissen auf der anderen Seite, die nicht flüchtigen Impressionen dient, sondern in aller Breite das curriculare Pensum des Lehrstuhls dokumentiert. Allein um dieser Einblicke in die praktische Lehre willen ist das Buch jedem zu empfehlen, der in seinem Lehralltag vor ähnlichen Aufgaben steht, aber auch all jenen, die als Studierende wissen möchten, was in diesem Fach auf sie zukommt.

Schulze ist ein vehementer Vertreter seines Fachs, dem neben dessen innerer Logik vor allem seine institutionelle und gesellschaftliche Bedeutung am Herzen liegt. In gewisser Weise verschmelzen beide Bedeutungen ineins: der fortwährenden Bedrohung der Ausbildung räumlich-plastischer Fähig- und Fertigkeiten durch restriktive Zielvorgaben und technische Entwicklungen (Stichwort CAD) entspricht die Zurückdrängung eines bestimmten Habitus in der Lehre (und die damit einhergehende Verkürzung von Lehrinhalten, die bis zur Unkenntlichkeit gehen kann) durch Forderungen an den Lehrbetrieb, die unmittelbar von Politik und Gesellschaft in Szene gesetzt werden, sei es durch ökonomischen Druck, sei es durch indirekten Druck über Maßgaben bei der Besetzung von Stellen, sei es durch generellen Mittelschwund oder die in manchen Bereichen fast zynisch wirkende Aufforderung zur Einwerbung von Drittmitteln, die vor allem in den kultur- und kunstnahen Fächern in der Praxis kaum mehr bedeutet, als sich den politischen Entscheidungen von Deutscher Forschungsgemeinschaft und einschlägigen Stiftungen in der Ausrichtung der eigenen Lehre und Forschung zu beugen. Dass sich darin generell die Gefahr einer teils bürokratischen, teils von wissenschaftspolitisch motivierten Wissenschaftlern zweiten Grades ins Werk gesetzten Übersteuerung des akademischen Betriebs abzeichnet, ist an den Universitäten wohl bekannt – der Öffentlichkeit hingegen scheint es gleichgültig zu sein, wer hier das Sagen hat, solange die einschlägigen Ideologien keinen Schaden nehmen.

Schulze selbst macht für die Verkümmerungstendenzen der von ihm vertretenen Lehre fünf Aspekte des gegenwärtigen Betriebs verantwortlich:

  1. die zunehmende Hegemonie der ›Wissenschaftlichkeit‹ im bundesdeutschen Wettbewerb der Technischen Universitäten, für den er ›neoliberale Wettbewerbsregeln‹ verantwortlich macht,
  2. die ›Umwandlung von akademischen zu unternehmerischen Werten im Zuge der Autonomisierung der Hochschulen‹ mit ihrer wachsenden Betonung der Drittmitteleinwerbung,
  3. die zunehmende Anwendung des Computers in der Architekturlehre und die damit einhergehende Vernachlässigung der Förderung von Kompetenzen für die gestalterische Praxis,
  4. die ›Übernahme arbiträrer Methoden oder Theorien der freien Kunstpraxis‹ durch den Fachbetrieb, von denen er namentlich die Theorien von Joseph Beuys und Spielarten der Conceptual Art erwähnt,
  5. die Verschlechterung der curricularen Position der künstlerischen Fächer durch ihre Neupositionierung nach Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge.

Dass hier nicht bloß abstrakt Kritik geübt wird, belegt die von Schulze betriebene Gründung der Gesellschaft für Künstlerische Gestaltungslehren (GkG e.V.), eines Forums, das den beschriebenen Tendenzen nach dem Willen seiner Betreiber entgegenwirken soll. (290f.)

Was verschlägt einen ausgewiesenen Künstler auf das Feld didaktischer Tüfteleien und wissenschaftspolitischer Querelen? Wer so fragt, weiß den Künstler durchaus auf seiner Seite: »Künstlerisches Denken vom künstlerischen Handeln zu trennen und für einen außerkünstlerischen Bereich zu verwenden, erscheint wie die Organtransplantation in einen artfremden Organismus.« (295) Das ist in Bezug auf Forschung gesagt, aber es umfasst nolens volens auch den Bereich der Lehre. Die Antwort lässt das Buch an vielen Stellen erahnen: Angesichts der Gefahr für die Kunst selbst, in Beliebigkeit zu verfallen, bietet die von der unverkürzten Lehre geforderte Transparenz den Vorteil, die Bereiche zu sondern und ihre Affinitäten zu erkunden – auf der Suche nach gemeinsamen Wurzeln, Bedingungen und Verfahrensweisen und, als nicht selbstverständliche Zugabe, der ›Poesie‹ (124), die in beiden gleichermaßen zur Entfaltung kommen sollte.

 

 

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