von Johannes R. Kandel
David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten
David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist Antisemitismus in sogenannten »Progressiven Kreisen« von Intellektuellen weit verbreitet. Antisemitismus hat sich in den expandierenden »postmodernistischen« Theorien verborgen, die seit den sechziger Jahren die akademische Welt durchzogen. Inzwischen ist er zu einem zentralen Bestandteil der sogenannten »woke ideology« geworden.
In Anlehnung an das maßgebliche Werk von Pluckrose und Lindsay, »Cynical Theories« (2020), versteht Bernstein unter »woke ideology« den Auswuchs von »postmodernist thought that holds two core tenets: that bias and oppression are not just matters of individual attitude but are embedded in the very structures and systems of society, and that only those with lived experience of oppression have the insight to define oppression fort he rest of society« (S. 15). Das ist eine ebenso knappe wie treffende Definition.
Liberales Judentum in den USA
Der Autor schildert im ersten Kapitel, wie er in einem liberalen jüdischen Elternhaus aufwuchs in dem die kontroverse Diskussion die normale Form des Familiendiskurses war. Er beschreibt, wie ihn dies in seiner Jugendzeit prägte und er später in seiner eigenen Familie das Prinzip des Abwägens von Argumenten praktizierte und dabei häufig die Rolle des »devil’s advocate« übernahm. Die jüdische Tradition des »makloket l’shem shamayin« (Dispute, »Argumente für den Himmel«) ist für Bernstein ein Grund des Stolzes auf das Judentum, dass er durch den Absolutheitsanspruch der woke-Ideologie bedroht sieht. Mit Befremden und rasch wachsender Sorge um die Identität und den Zusammenhalt des amerikanischen Judentums, erlebte er als Funktionär in Führungspositionen zahlreicher jüdischer Organisationen, wie das woke Gift in die jüdischen communities einfloss und bereits eine Reihe repräsentativer jüdischer Gruppierungen und Lobby-Gruppen zu durchsetzen begann. Es wurde zunächst in akademischen Lehrstätten sichtbar, kroch dann schließlich bis in die untersten Bildungssektoren, die Institutionen des »K-12« Systems (Vom Kindergarten bis zum College). Für ihn war das nicht nur ein alarmierendes Zeichen für die jüdischen Gemeinschaften in den USA, sondern hier zeichnete sich ein politisch-kultureller Umbruch von dramatischer Tragweite ab, der die liberalen bürgerlichen Freiheiten in den USA insgesamt bedrohte: »I was naturally predisposed to oppose woke ideology because it mocks civil liberties, which some woke ideologues view as a function of white supremacy; it stifles open debate and discourse; it fuels left wing antisemitism; and it views America as an oppressive state« (S. 27).
Israel und Antisemitismus
Der wachsende Antisemitismus wurde nicht zuletzt vom Nahostkonflikt angeheizt. Das Scheitern der Friedensbemühungen nach Oslo 1993 und die sogenannte Zweite Intifada 2000 entfachte an den Universitäten eine Welle der Sympathie für die »palästinensische« Seite und bedrängte die jüdische Gemeinschaft in ihrer Verbundenheit mit dem einzigen jüdischen Staat in der Welt. War die Linke ohnehin im israelkritischen Lager zu finden, so trieb der Vormarsch woker Ideologie deren Antisemitismus voran. Die berüchtigte »World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« vom September 2001 in Durban spitzte sich zu anti-jüdischem und Israel Hass zu, was in der verleumderischen Anklage zum Ausdruck kam, dass »Zionismus Rassismus« sei. Die dem zugrundeliegende Theorie des sogenannten »Postkolonialismus« wurde schon in der »Declaration and Proramme of Action« der Konferenz offen vertreten und bestimmte seitdem die anti-jüdischen und anti-israelischen Ressentiments weit über die Universitäten hinaus. Israel galt als kolonialistischer Unterdrückerstaat und die Juden in den USA pauschal als seine Unterstützer.
»Diversity«, »Systemischer Rassismus« und die Juden
Bernstein beschreibt lebhaft die Bedeutung des Einsatzes von Juden gegen die Rassentrennung und gegen Diskriminierung im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre und die vielfachen Aktivitäten eines »Jewish-Black-Dialogue«. Trotz der offenkundigen hasserfüllten antisemitischen Ausfälle des Führers der »Nation of Islam«, Louis Farrakhan, hielten jüdische Organisationen am Dialog fest, u.a. auch das renommierte »American Jewish Committee« (AJC). Allerdings wurde dieser in dem Maße immer schwieriger, wie die woke Ideologie vom »systemischen« oder »strukturellen« Rassismus verbreitet wurde und vom Programm »Diversity, Equity and Inclusion« (DEI) in Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungen, Medien, Bildungsinstitutionen, Sport und Freizeiteinrichtungen getragen wurde. Zahllose Institutionen unterzogen sich einem »DEI-Training«. Die zugrundeliegende woke Ideologie wurde von der, fast kanonisch verehrten »antirassistischen Aktivistin« Robin de Angelo (»White Fragility«) und dem farbigen Professor Ibrahim X. Kendi (»How To Be an Antiracist«) formuliert und breit adaptiert. De Angelo trieb die fragwürdige »Weißsein-Forschung« voran und vertrat die Ansicht, dass »Weiße« immer die Unterdrücker seien und es keinen Rassismus gegen Weiße gebe. Kendi ist zwielichtiger Ideologe, dessen Parteinahme für »Gleichheit« und die marginalisierten Schwarzen mit seinem luxuriösen Leben nicht gerade glaubwürdig übereinstimmt. Sein Konzept der »equity« ist fatal, ein »antirassistisch«-linker Irrweg. Jede soziale Differenzierung wird, gleichgültig worauf sie beruht, als »rassistisch« denunziert. Es gibt nur »Rassisten« und ihre »Opfer«. Bernstein zeigt an Beispielen auf, wie nachteilig, ja diskriminierend, sich dieses Konzept für die jüdischen Gemeinschaften auswirkte. Da die weißen Juden pauschal zu der bevorzugten, privilegierten »white supremacy« gerechnet werden und sie in höheren Bildungsanstalten aufgrund ihrer außergewöhnlichen Leistungen gemäß der woke-Ideologie »überrepräsentiert« waren, wurde hier und da entschieden, ihre Zahl zu vermindern, bzw. den Zugang zur höheren Bildung zu begrenzen. Bernstein kommentiert trocken: (…) »if you can’t find enough people from the disadvantaged group to achieve proportional representation (with no real pipeline in place, how can you?) then you must reduce the numbers of the advantaged group« (S. 125). Die Folgen dieses »Gleichheitsregimes« zeigt Bernstein auf, als »drive to the bottom that wouldn’t serve anyone, especially the people in the lowest socio-economic rung« (S. 87). Genau das geschieht und nicht nur in den USA.
Das Verhältnis von jüdischen Gemeinschaften und schwarzen Antirassismus-Initiativen, Projekten und Gruppen wurde immer prekärer. Ein Höhepunkt der Entfremdung und der Attacken auf die Juden stellte die »Black Lives Matter« (BLM) Bewegung dar. Die Juden wurden pauschal zu der Klasse der »Unterdrücker« gezählt, wobei kaum ein Unterschied zwischen weißen und schwarzen Juden gemacht wurde. Ferner denunzierte BLM Israel als kolonialistischen Unterdrückerstaat, verantwortlich für »ethnic cleansing, military occupation and apartheid«. (S. 117) Die Gaza-Kriege wurden als Beleg gewertet, dass Israel an den Palästinensern »Völkermord« begehe. Trotz alledem kooperierten eine Reihe von schwarzen Judengruppierungen weiterhin mit BLM und verstiegen sich gar dazu, von den weißen Juden zu fordern, sie mögen sich ihres »Weißseins« entledigen. (»shed your whiteness«, S. 66). Es wurde Bernstein immer klarer, dass die woke-Ideologie ein Glaubensbekenntnis war: »I felt like witnessing a religious revival in service of a new spiritual, political and social movement« (S. 67).
Weitere, für die jüdische Gemeinschaft abträgliche Entwicklungen, alarmierten ihn:
– Die woke Ideologie drang immer stärker in jüdische Organisationen ein und wurde von einer Reihe sogenannter »progressiver« Rabbis sogar übernommen;
– Die Kontinuität des jüdischen Erbes wurde fortschreitend entwertet und »gecancelt«;
– Die Erfahrungen jüdischer Immigranten wurden entweder ignoriert oder kritisiert;
– Juden wurden pauschal zum »weißen Establishment« und somit zur »Unterdrückerklasse« gerechnet;
– In jüdischen Bildungseinrichtungen griff die woke-Ideologie, vor allem in ihrer Gendervariante (»Trans« statt »Binär«), immer mehr um sich;
– Liberale Werte verschwanden immer mehr und in den jüdischen Gemeinschaften breitete sich eine angstvolle Atmosphäre des Schweigens aus.
In dieser Situation gründete Bernstein das »Jewish Institute for Liberal Values« (JILV) und stellte sich damit gegen den verheerenden woken Trend. Sowohl kollektiv als auch individuell sollte der Protest und der Widerstand gegen die woken Ideologen gestützt werden, wofür die JILV eine Fülle nützlicher Vorschläge entwickelte. Es steht zu hoffen, dass sich die JILV erfolgreich gegen den woken Trend stellen kann. Das ist nicht nur wichtig für die Juden in den USA, sondern für die Juden weltweit und für Israel.