von Jobst Landgrebe
Das Interesse an den drei großen dystopischen Romanen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wir von Jewgeni Samjatin (1920), Schöne neue Welt von Aldous Huxley (1932) und Neunzehnhundertvierundachtzig (i.F. 1984) von George Orwell (1948) war immer lebhaft. Das wichtigste Motiv dafür war zunächst die Auseinandersetzung mit dem Zeitalter des Totalitarismus, und später, im Jahre 1984, gab es wegen des Titels von Orwells Buch noch einmal ein lebhaftes Interesse daran. Ich las es damals als vierzehnjähriger mit großem Erschaudern und wenig Verständnis ebenfalls. Doch für mich und sicherlich auch die meisten meiner damaligen reiferen Zeitgenossen war es wie der Blick in eine Dystopie der Vergangenheit, die sich im Westen nicht eingestellt hatte und die nach dem Tod Stalins noch nicht einmal im Ostblock wieder erreicht worden war.
Doch in den Jahren von 2020 bis 2023 erlebten wir eine weltweite intensive Renaissance des Totalitarismus, und auch wenn die damalige Repression inzwischen wieder weitgehend – sieht man von der juristischen Verfolgung von Ärzten und Impfverweigerern ab – aufgehoben wurde, hat sich an den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, von denen sie ausging, seitdem nichts geändert. Daher sind die klassischen totalitären Dystopien wieder interessant geworden. Neben der Lektüre dieser Klassiker kann es daher interessant sein, sich mit deren Entstehungsgeschichte und Rezeption zu befassen.
Dies soll hier geschehen: Vor sieben Jahren erschien die hier zu besprechende, im deutschsprachigen Raum bisher nicht rezipierte Monographie das Soziologen David Ramsay Steele Orwell your Orwell. A worldview on the slab. (Orwell Dein Orwell. Eine Weltsicht auf dem Seziertisch.) Es ist keine Biografie Orwells, sondern eine extrem detaillierte und oftmals witzige Analyse seiner Denkweise und Überzeugungen im Kontext der Denker und Freunde, die ihn beeinflussten, und der zeitgenössischen intellektuellen Strömungen, in deren Kontext Orwell dachte und schrieb. Außerdem ist es eine sehr brauchbare Übersicht zu wichtigen Aspekten der Rezeption Orwells im englischsprachigen Raum.
Orwell war Reporter, Journalist und Autor, und er gehörte mit Sicherheit zur Kategorie derer, die Theodor Wiesengrund (Adorno) in der für ihn charakteristischen Arroganz einmal als ›Kleinintellektuelle‹ bezeichnete. Erbarmungslos seziert Steele, dessen Buchdeckel ein Skalpell zeigt, die Schwächen des Denkens Orwells, wobei er dennoch dessen literarisches Können lobt und hervorhebt. Wir blicken separat auf beide Aspekte, bevor wir uns fragen, wie es möglich sein kann, dass man so sein kann wie Orwell und dennoch einen wichtigen Jahrhunderthit landen kann wie 1984.
Orwell der Bescheuerte
Da die allermeisten Leser nicht Orwells Artikel, Essays, Berichte, Rezensionen, sondern nur seine beiden berühmten Werke, die Kommunismusparabel Animal Farm und vor allem den sicherlich zur Weltliteratur gehörenden Roman 1984 kennen, hat jeder Leser sich ein eigenes, laut Steele oftmals falsches Bild von Orwells Denken gemacht. So auch ich, wie ich dank Steele feststellen musste. Darauf soll der Titel der Monographie hinweisen. Gleichzeitig aber auch darauf, dass es wichtig ist, sich diesen Autor, den Steele immer wieder mit Swift vergleicht, als Literaten zu eigen zu machen (weswegen ich im Sinne Stirners übersetze: Orwell mein Orwell). Steele zeigt uns im Gegensatz zu anderen Biografen, wie durchschnittlich, angepasst, opportunistisch, normal, orthodox-sozialistisch, establishmenthaft und unoriginell Orwells Denken war. Er zeigt dies anhand der wichtigen Themen, die Orwell, der schon mit 46 starb, beschäftigten. Überzeugend und mit einer dem deutschsprachigen Nichtanglisten unmöglichen Kenntnis der angelsächsischen Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt Steele Orwells Denken, das sich ständig nach den intellektuellen Moden seiner Zeit neu ausrichtete.
Dabei wird vor allem eines klar: Wie fast alle Menschen strebte Orwell nicht nach der Konsistenz seiner Ansichten, sondern nach Konsens mit seinem Umfeld. Er war wie die allermeisten (Systemdenker und ein bestimmter Typus des erstklassigen Wissenschaftlers oder Künstlers ausgenommen) ein geistiger Eklektizist, dessen Denken von Widersprüchen strotzte. Er wechselte innerhalb kurzer Zeit seine Ansichten, insbesondere rund um sein Engagement im spanischen Bürgerkrieg von Dezember 1936 bis Juni 1937. 1936 wurde er Sozialist, etwa 1940 wurde er zu dem, was wir heute als ›Dritten-Weg-Sozialisten‹ bezeichnen würden, ein Sozialist, dessen Ziel eine Kombination von wirtschaftlichem Kollektivismus mit Freiheit und Demokratie ist; ein demokratischer Sozialist oder sozialistischer Demokrat also wie etwa John Rawls, Jürgen Habermas, Sarah Wagenknecht oder Gregor Gysi.
Am interessantesten sind Steeles Analyse von Orwell als Post-Sozialist und Reaktionär sowie zu den in 1984 aufgeworfenen Fragen. Postsozialismus definiert Steele als eine geistige Strömung ab den 1890er Jahren, die zwar die sozialistische Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft (liberaler Kapitalismus) bejaht, jedoch den revolutionären oder reformerischen Optimismus des Sozialismus negiert und stattdessen die fatale Wirkung der Moderne auf das Menschsein in Form geistigen und seelischen Niedergangs und Dekadenz betont. Steele ordnet Orwell hier vor allem den angelsächsischen Post-Sozialisten zu, deren bekanntester Vertreter Aldous Huxley war; doch auch Swift sieht Steele als wichtigen prä-modernen Fortschrittskritiker und wesentlichen Einfluss auf Orwell an – beide schrieben laut Steele satirische Utopien, eine kluge Beobachtung. Später stellt Steele auch eine Überschneidung mit Oswald Spengler fest, übergeht aber andere wichtige deutschsprachige Kulturkritiker wie die Väter der Postmoderne Ernst Jünger und Martin Heidegger – wohl zu recht, da Orwell sie höchstwahrscheinlich nicht kannte. Jedenfalls war Orwells Technologiesicht zutiefst negativ und pessimistisch, er glaubte, der flächendeckende Einsatz von Technologie verflache die Menschen und mache sie dekadent und schwach. Wie Wilfred Trotter, ein heute vergessener Le-Bon-Epigone, glaubte Orwell, die Massen seien beeinflussbar, irrational und lenkbar, während nur die Intellektuellen Zugang zur Wahrheit hätten.
Genüsslich listet Steele die elitär-konservativen Ansichten Orwells, der als Kind aus elitärem Elternhaus Eaton (aber keine Universität) absolviert hatte, auf: Degenerationstheorie, Eugenik, eine Obsession mit der fallenden Geburtenrate (die Steele in dem ihm eigenen Witz als ›Klimaglaube der 1930er‹ bezeichnet), dem klassischen Männlichkeitsideal, der aggressiven Ablehnung von Homosexualität (eben nicht: Homophobie), seiner Hedonismuskritik, seinem Antirationalismus und Atheismus sowie seinem Semitoskeptizimus (nicht: Antisemitismus) – bei all diesen Themen zeigt Steele auf, wie gnadenlos konventionell und opportunistisch Orwell dachte.
Im siebten Kapitel beschäftigt sich Steele ausführlich mit dem spanischen Bürgerkrieg, an dem Orwell mit seiner Frau sechs Monate lang teilnahm und den er mit sehr viel Glück zwei mal knapp überlebte – er erlitt an der Front einen Kehlkopfdurchschuss und entging nur gerade eben den von den Stalinisten in Barcelona durchgeführten kommunistischen Säuberungen ab Mai 1937. Die Darstellung des Bürgerkriegs bei Steele ist sehr ausdifferenziert und informativ. In unserem historischen Bewusstsein dominiert als Kriegsobsession der Linken der Vietnam-Krieg und die daraus entstandene Studentenrevolte von 1968 mit ihren drastischen Folgen für unsere Gesellschaft bis hin zur Herausbildung des heute dominierenden postmodernen Kollektivismus. Doch war, wie Steele hervorhebt, das Kriegsengagement der 68er rein kulturell, während die Linken der 1930er Jahre ihr Blut gaben: Auf der Seite der Republikaner (gegen Franco) kämpften insgesamt etwa 35tausend Sozialisten und Kommunisten aus dem Ausland, von denen fünftausend starben, wobei die meisten von ihrer eigenen Fraktion, der stalinistischen NKWD, ermordet wurden, und nicht etwa von den Nationalisten unter Franco. Die Zeit in Spanien machte Orwell zum Anitkommunisten; ohne diese Erfahrung kann man die Entstehung seiner beiden berühmte Werke Animal Farm und 1984 nicht verstehen.
Nach 250 Seiten intensiver, kenntnisreicher und detaillierter Auseinandersetzung mit Orwells Verwebung mit den geistigen Strömungen des britischen kulturellen und politischen Denkens der 1930er und 1940er Jahre ist klar, dass er als Denker vollkommen unoriginell und modeorientiert – kurz gesagt: bescheuert war.
Orwell der Weltliterat – wie ist das möglich?
Doch dann kommt Steele zu den wichtigsten Kapiteln des Buches, in denen er sich mit dem beschäftigt, was von Orwell bleibt: 1984.
Hier sind zwei Kernthemen hervorzuheben: Die im Swiftschen Sinne satirisch-hyperbolische Kollektivismus-Dystopie und der darin behandelte Wahrheitsbegriff. Orwell war ein Gegner des oligarchischen Kollektivismus, nicht des demokratischen Sozialismus. Wie konnte der bis zum seinem Tod 1950 vollkommen vom demokratischen Sozialismus überzeugte Orwell ein anti-sozialistisches Werk schreiben?
In 1984 wollte er darstellen, wie sich seiner Ansicht nach der Kapitalismus notwendigerweise entwickeln würde: Zu Oligopolen und Monopolen und dann durch eine Fusion von Staat und Unternehmen (bei ihm gibt es keine Privatwirtschaft) zum oligarchischen Kollektivismus mit einer absoluten Maximierung der Unmenschlichkeit, wobei dies in seiner Fiktion global in drei antagonistischen Blöcken vollzogen wird. Falls ein demokratischer Sozialismus nicht möglich sein sollte (wie wir es heute in der Regel sehen), dann ist das Werk aber auch eine Kritik am Sozialismus insgesamt, der immer in den Totalitarismus münden muss. Witzig durchdenkt Steele die Dystopie und zeigt auf, dass die Orwellsche Gesellschaft ökonomisch und soziologisch niemals stabil sein könne, wobei er aber auch betont, sein eigenes Vorgehen sei so als weise man Swift nach, Liliputaner seien physiologisch unmöglich. Er geht dann noch sehr elegant auf die Wahrheitstheorie Orwells ein und zeigt, dass der in literarischer Absicht von Orwell gewählte ›kollektivistische Solipsismus‹ (wahr ist was die Partei für wahr erklärt) zwar anderen, realistischeren totalitären Wahrheitsvarianten (wie sie Arendt analysiert hat) unterlegen, literarisch jedoch am effektivsten ist.
Wie konnte ein bescheuerter Kleinintellektueller wie Orwell so einen wirksamen und erfolgreichen Roman schreiben, wahrscheinlich die beste Dystopie der Neuzeit?
Weil er laut Steele eine hohe literarische Begabung hatte und zum Verfassen großer Romane eben nicht intellektuelle Originalität und geistige Konsistenz, sondern erzählerischer Einfallsreichtum und künstlerische Begabung entscheidend sind. Das ist sicher richtig. Daher vergleicht Steele Orwell immer wieder mit Swift, einem der angelsächsischen Klassiker schlechthin. In diesem Vergleich liegt auch die wichtigste Schwäche seines Buches aus Sicht der kontinentalen Hochkultur. Orwell ist kein großer Literat, sondern der Gustav Freytag des 20. Jahrhunderts (Ulrich Schödlbauer). Sein Roman ist voller eindimensionaler Figuren, die Dialoge sind zwar fesselnd und dramatisch, aber auch flach und hölzern, ihre Ergebnisse stets plakativ, genau wie die Ereignisse, etwa die Evaporierung des Linguisten und Neusprechspezialisten Syme. Das Gesellschaftsbild von 1984 ist unrealistisch, die zu Grunde liegende Sicht der Entwicklung unserer Kultur unstimmig.
Andererseits ist die Anlage der Geschichte meisterhaft und die Dynamik mit ihren Wendepunkten stimmig und packend. Dies findet man auch bei Freytag, der ebenfalls ein Meister der Handlungsstränge war. Doch wurde er schon in den 1920er Jahren, 75 Jahre nach dem Erscheinen von Soll und Haben, zu recht nicht mehr wirklich gelesen (und ist heute vergessen), während Orwell sich auch heute, 76 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, weiterhin zahlreicher Leser und globaler Berühmtheit erfreut. Denn trotz seiner literarischen Schwächen hat Orwell dauerhaft einen Nerv der Moderne getroffen.
Es ist die Beschreibung der Möglichkeit totaler Machtausübung durch Technologie, Bürokratie, Propaganda, staatliche Eingriffe in die Familie, die Keimzelle der Gesellschaft, und das Privatleben, die durchgehende Stimmung absoluter Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit auch der scheinbaren Hoffnung, die uns fasziniert. Es sind die genialen Ideen wie die Slogans des Wahrheitsministeriums, der systematischen Geschichtsfälschung oder des ›prolefeeds‹, der maschinell erstellten Schundliteratur für die Massen. Viele dieser Einfälle sind heute zur Realität geworden.
Orwells Schilderung der auch in der Wirklichkeit bestehenden, effektiven sozialen Stratifizierung (Inner Party – Outer Party – Proles), zeichnet ihn vor allen anderen Dystopisten, auch Huxley, aus. Orwell hat begriffen, wie urbane Gesellschaften geführt werden, nämlich durch leicht privilegierte und stark überwachte Trägerschichten, die den Interessen der Oligarchie dienen und eine vollkommen unmündige Masse steuern, die zwar rebellieren kann, damit aber auf sich allein gestellt niemals etwas verändert. Damit formuliert Orwell eine Einsicht, die man auch bei den genialen Italienern Niccolo Machiavelli oder Guglielmo Ferrero findet. Durch diese Einsichten wurde Orwell in den letzten Jahren auch mein Orwell.
Offensichtlich ist er auch Steeles Orwell, obwohl dieser immer wieder den Erfolg und das weitere Andauern des von Orwell als zum Untergang verdammt beurteilten Kapitalismus betont und dabei die massiven Proobleme des Kapialismus unserer Zeit mit Oligopolen und Verschuldung ausblendet.
Insgesamt ist klar: Wer Orwell deutlich besser verstehen und nebenbei ein intensives Bad in der angelsächsischen Kulturgeschichte der 1930er und 1940er Jahre nehmen will, dem sei David Ramsay Steeles erstklassiges Standardwerk zu Orwell dringend empfohlen. Wen es nicht interessiert, der lese einfach mal wieder 1984. Es ist seit ›COVID1984‹ (Hrvoje Moric) aktueller denn je.