von Gunter Weißgerber

Autobiografisch? Biografisch? Ein sympathisch packender Roman über wechselvolle Zeiten mit frei erfundener Handlung und ebenso erfundenen Personen? Jede Menge zeitbezogenes Detailwissen, jede Menge Zusammenhänge, die einfach passen? Cora Stephans Roman Ab heute heiße ich Margo fesselt als Familienroman und ist gleichzeitig ein gelungenes Sittenbild über das Leben in zwei Diktaturen, die mit ihren Tentakeln in der wiedervereinigten Bundesrepublik andockten.

Cora Stephan hat als Anne Chaplet das Krimischreiben geübt, was der Geschichte anzumerken ist, die bis zum Schluss die Spannung hält. Am Ende steht die anfängliche Frage noch immer im Raum: Was ist (auto-) biografisch, was wurde beigemischt? Für das erste Drittel des Buches vermutete ich biografische Elemente. Einige Geschehnisse gingen dadurch mental näher als Erzählungen es für gewöhnlich zu erzeugen vermögen. Aber vielleicht ist das auch nur der Eindruck, weil die Autorin ihre Figuren so lebensecht agieren lässt.

Im Kern ist es ein Buch zweier Frauen, Margo und Helene, die sich aus althergebrachten Geschlechterregeln emanzipierten, gedemütigt, gequält und benutzt wurden, und die sich dennoch als die eigentlich starken Persönlichkeiten erkennen lassen. Auch sie dirigierten und setzten andere und hier besonders das andere Geschlecht ein. Cora Stephan gelangen mehrere starke Akteure, am stärksten haben sich Margo und Helene in die Erinnerung an das soeben Gelesene eingeprägt. Mit beiden ist gut mitfiebern. Beide verbindet ein Geheimnis, weshalb sich ihre Wege immer wieder kreuzen.

Stendal 1936: Margarete Hegewald wollte kein Kind mehr sein. Äußerlich meinte sie damit Faltenrock, Kniestrümpfe und Strickjacke. Wäre sie dabei stehen geblieben, würde sie damit weiterhin ins gesellschaftliche Gefüge der Zeit passen. In Margarete steckte aber mehr, wesentlich mehr. Die Zöpfe mussten weg, für den eigenen Lebensunterhalt arbeiten wollte sie und vor allem: sie wollte für ein Auto sparen! Naja, das – den Volkswagen – hat der Führer ja angeleiert... Wenn das der Führer gewusst hätte? Auf den hielt sie damals mit Begeisterung große Stücke. Zunächst hat Hitler ja die germanische Frau als Kameradin favorisiert – und auch später hat er die Frauen in der Rüstungsproduktion gebraucht.

Die mit dem NS-Staat und Hitler einverstandene Margarete wusste noch nicht, dass sie praktisch nicht für das System ›konstruiert‹ war. Der junge Diplomat Alard (ihr erster Schwarm) erkannte es hingegen sofort: »Aber Sie werden Auto fahren. Sie werden fliegen. Sie werden alles tun, was Sie sich nur wünschen, …Sie werden frei sein. Ich spüre das. … Darf ich Sie Margo nennen?« (S. 47). Am nächsten Tag wollte Mutti haarklein erzählt bekommen, was es zu essen gegeben hatte. … »Schnittchen mit was drauf«, antwortete sie. »Und ab heute heiße ich Margo.« (S.49).

Auf in die Auseinandersetzungen mit dem autoritären Vater, mit den Kolleginnen im Fotolabor, mit dem Frauen-am-Herd-Zeitgeist.

Margo, im Grunde unpolitisch veranlagt, streift ihre NS-Bejahung sehr langsam aber stetig ab. Das hat auch mit Helene zu tun. Helene ist Jüdin, was Margo jedoch nicht ahnt. Helene weiß das gut zu verstecken:

»›Helene!‹. Fast wären sie zusammengestoßen. Helene schrie leise auf und ließ die Fotokartons fallen, die sie in den Händen gehalten hatte. Das fehlte noch, dachte Margo, murmelte ›Verzeihung‹ und ging auf die Knie, um ihr beim Aufheben zu helfen. ›Lass nur‹, murmelte Helene und fegte mit der Hand die Fotos zusammen, die aus einem der Kästen gefallen waren. ›Vorsicht!‹ Margo war einen derart ruppigen Umgang mit mühevoll und sorgfältig erstellten Abzügen nicht gewohnt und rettete die anderen vor Helenes ungeduldigem Griff. Ihr Blick fiel auf das oberste der Fotos. Und dann wünschte sie im nächsten Augenblick, das alles nie gesehen zu haben. ›Was ist das?‹ …›Ach das.‹ Helene nahm es ihr hastig aus der Hand. ›Und das hier?‹ … ›Woher hast du das, um Himmels willen?‹. Helene wich ihrem Blick aus. ›Soldatenfotos. Ich habe die Kartons durchgesehen, die seit zwei Wochen nicht abgeholt worden sind.‹ ›Aber – sind solche Aufnahmen überhaupt erlaubt?‹ Helen lächelte, ein schmallippiges, unfrohes Lächeln. … ›Du weißt doch: Soldaten sollen fotografieren! Führerbefehl. Die Kamera – der optische Panzer!‹ … Aber diese Bilder hier … da waren Kolonnen von Menschen, alte Leute, Frauen, Kinder. Auf einem der Fotos schlugen Männer mit Knüppeln auf Wehrlose ein, Soldaten in deutschen Uniformen schauten lachend zu. Mädchen in Kniestrümpfen und verdrehten Gliedmaßen und aufgerissenen Augen lagen am Straßenrand neben Frauen in dicken Röcken. Ein betender Mann stand vor Leichenbergen, Leichen von ganz normalen Bürgern. ›Erklär mir bitte, was das ist‹ flüsterte Margo. … ›Wieso unternehmen unsere Männer nichts?‹ ›Warum sollten sie?‹ Helene verzog den Mund, als ob sie ausspucken wollte. ›Das sind keine Zivilisten. Das ist Ungeziefer. Das sind Juden. Die dürfen erschlagen werden.‹ … Es widersprach allem, was sie (Margo – GW) gelernt hatte – über Anstand und Ehre eines deutschen Soldaten.« (S. 153/154).

Im Verhör durch die Gestapo hält Margo intuitiv zu Helene, von der sie inzwischen den jüdischen Hintergrund kennt (»Tagebucheintrag 22.Februar 1942« S. 164-168). Dem Vorwurf einer lesbischen Beziehung zu Helene ist sie hilflos ausgesetzt, Helene als Jüdin auszuliefern, das fällt ihr nicht ein. Es ist eine menschliche Haltung, mit Antipathie zur NS-Rassenpolitik hat das noch nichts zu tun. Helene erfährt von Margos Kooperationsunwilligkeit mit der Gestapo leider nichts und damit ist aus einer sich auf zunehmendem Vertrauen aufbauenden eine tief konfliktbeladene Beziehung geworden. Für Helene war Margo eine Verräterin. Helene kam ins KZ und musste die Illoyalität Margos als Mitursache der Verfolgung annehmen. Cora Stephan scheut sich nicht, Helenes Überlebenskampf im KZ, und gerade im KZ-Bordell zu schildern, das ist bedrückend zu lesen. Die Autorin lässt auf Seite 281 Helene sagen: »Ja, es gab Übleres als die Arbeit im Häftlingsbordell in Buchenwald. Und das was wehtat, war nicht der Verlust der Ehre. Die war schon lange futsch. Was sich tief bis in die Knochen einfräste, war das Gefühl, von seinem eigenen Körper getrennt zu sein. Der Körper wurde gut versorgt und für seine Aufgaben in Schuss gehalten.« Jahre später war es der MfS-Mann Hans Stahl, der Helenes Körper für sich und seine Ziele nutzte. Nicht als Herr im KZ. Stahl machte das als Besitzer und skrupelloser Nutzer von Herrschaftswissen.

Cora Stephan besitzt ein tiefes Wissen über das Leben in den Zwängen der NS-Gesellschaft, über Flucht und Vertreibung, die Atmosphäre in der alten Bundesrepublik und in der DDR, selbst die verschwundenen SED-Millionen finden ihren korrekten Platz.

Das ursprüngliche Funktionieren und das zunehmende Nichtfunktionieren Margos im täglichen Leben bis 1945 sind plastisch beschrieben. Die Autorin beweist ebensolches tiefgründiges Wissen über das Leben derer, denen die NS-Gesellschaft ihre Existenzberechtigung abspricht. Cora Stephan ist nicht nur in der diesbezüglichen Literatur zu Hause, sie hat sich selbst in die Archive eingearbeitet, Lebenslinien und Schicksale aufgenommen. Politisch eine kluge Frau, fängt sie ebenfalls Zusammenhänge und Konfliktlinien der letzten dreißig Jahre ein. Der Autorin ist es nicht anzumerken, dass sie westdeutsch sozialisiert ist. Ihre Erzählung wirkt bis ins Detail authentisch, auch oder gerade da, wo es ostdeutscher Erfahrungen bedarf. Der Autorin gelingt auf Seite 496 noch eine sehr interessante Szene. MfS-Mann Stahl zu Helene:

»›Es wird über kurz oder lang zu einer Vereinigung beider deutscher Staaten kommen.‹ ›Eine Ende der DDR? Was für eine Idee!‹ Stahl wiegte den Kopf. ›Oder der BRD. Wie auch immer: Unsere Abteilung jedenfalls sollte auf jede Wendung der Geschichte vorbereitet sein.‹« Erich Loest ließ das seinen im Falco speisenden Ratzel ähnlich sagen. Um die Partei zu retten, musste der Staat zeitweise geopfert werden….

Diese zeitliche Besitzpause scheinen die SED-Nachfolger inzwischen überstanden zu haben. Weite Bereiche der gesellschaftlichen Diskussion der um die ›DDR‹ vergrößerten Bundesrepublik werden im Moment von einem Gemisch aus altlinker westdeutscher Denke und der sogenannten SED-Reformer durchwabert. Selbst die Antifa, die unter ›DDR‹-Bedingungen gut und gern als Abteilung des MfS hätte ihren Dienst tun können – Diffamieren, Zersetzen, Bedrohen waren das Kerngeschäft des MfS gegen die eigene Bevölkerung und alles, was nicht SED-konform war, galt als faschistisch – gehört spätestens seit dem Herbst 2018 zum offiziellen Mobiliar auch der SPD. Cora Stephan schreibt spannend und hochaktuell.

Ab heute heiße ich Margo ist ein Kriminalroman als Familiengeschichte vom Dritten Reich bis ins Deutschland der Wiedervereinigung. Margo bietet erzählerisch und detailfest genau den Stoff, aus dem viele ausgezeichnete TV-Mehrteiler gestrickt waren, die in den letzten drei Jahrzehnten auf die Bildschirme kamen. Fehlen nur das Drehbuch und weitblickende Filminvestoren.