von Ralf Willms

Im Herbst 2005 erschien der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Peter Szondi. Auch in diesen Briefen kommt zur Sprache, worum es in der Dichtung Celans geht: um Gedächtnis, vor dem Hintergrund eines kollektiven wie persönlichen Traumas, um Judentum sowie um das Schreiben bzw. die zwingende Suche nach Wahrheit und Genauigkeit.

Die Anlässe, aus denen heraus gesprochen resp. geschrieben wird, scheinen jedoch zunächst einmal anderer Natur. So zieht sich von Anfang (1959) bis Ende (1970) des Briefwechsels etwa der beiderseitige Wunsch, sich zu treffen, was oft nicht, manchmal aber doch gelingt. Dieser Wunsch spannt sich auf zwischen Paris, dem ehemaligen Wohnort Celans, Berlin, Zürich und Göttingen, den ehemaligen Wohnorten Szondis, oder Frankfurt, dem Sitz des Verlagshauses, bis hin zu Lausanne oder Sils, wo gemeinsame Wintertage geplant wurden. Private Details in den Briefen zwischen Szondi und Celan sind eher selten. So schreibt Celan im Dezember 1961: "Irgendeinmal könnte ich dann, wenns Ihnen recht ist, bis Lausanne hinunterrutschen - so muß ich mich als Vater eines schneeschuhlaufenden Sohnes ausdrücken -, in der Hoffnung, Sie aus einem aus Züri heransausenden Zug steigen zu sehen."

Immer wieder führt die Rede in diesen Briefen auf das Judentum. Celan schrieb im August 1961: "Noch von den 'Besten' wird der Jude - und das ist ja nichts als eine Gestalt des Menschlichen, aber immerhin eine Gestalt - nur allzu gerne als Subjekt aufgehoben und zum Objekt bzw. 'Sujet' pervertiert." Hier befindet man sich im Herzen der Problematik, der sich Paul Celan stellte. Das Wort "Gestalt"“ steht ebenso an mancher Stelle des Werkes. "Gestalt"“ bedeutet im Werk Celans, wie viele Forscher anmerken bzw. ausführen (z. B. John Felstiner), 'Wahrheit', 'Subjekt' oder auch 'Person'. 'Gestalt': vor dem Hintergrund des Judenmordes durch die Nazis, des Zunichtemachens jeder menschlichen Gestalt, die in dieser Weise etwas Einziges, etwas Kostbares erhält und - als Erinnerungsgestalt - keinerlei Ungenauigkeiten und weitere Verzerrungen verträgt. Aus der Perspektive desjenigen, der beide Eltern im Konzentrationslager verlor, wehrte sich Celan energisch gegen jeden weiteren Missbrauch, von dem auch die deutsche Nachkriegsliteratur - als Nachkriegs-Gewissen - nicht ganz frei war. Die Kritik Celans trifft, wie an dieser Briefstelle ersichtlich wird, auch die "Besten", und gemeint sind u. a. der Philologe Fritz Martini, ein so vielschichtiger Theoretiker wie Adorno, obwohl selbst Jude, und sogar eine Schriftstellerin wie Ingeborg Bachmann. Szondi (im Alter von fünfzehn Jahren nach Bergen-Belsen deportiert), der den Begriff der philologischen Erkenntnis prägte - jene Methode, die Literatur nach der "Logik ihres Produziertseins" (Szondi erinnert dabei an Adornos Studie Valérys Abweichungen) befragt - und Celan trafen sich in diesem Wahrheits- und Genauigkeitsanspruch: ihre Briefe zeugen davon.

Celan schätzte den Satz von Marina Zwetajewa: "Alle Dichter sind Juden." Nicht die Angehörigen der jüdischen Religion oder ihrer verschiedenen Richtungen sind gemeint - Celan gehörte keiner dieser Richtungen an -, sondern die Position des Künstlers in der jeweiligen Gesellschaft. Celan ging - noch ohne die Erfahrung einer gesellschaftlich-persönlichen Katastrophe und auch ganz unabhängig von seiner jüdischen Sozialisation - schon früh die Wege der Kunst, seiner Kunst, und bringt im unausweichlichen Zusammenspiel mit dem eigenen Talent von daher die entscheidende Voraussetzung mit. So lässt sich - und hier mag ein Zusammenhang vorliegen - sein Werk auch nicht auf jene 'Gedächtnisgestalt' reduzieren, sondern steht ebenso im Zeichen der 'U-topie', des Wünschenswerten, des noch zu Denkenden und noch zu Leistenden (und erscheint eben in diesem prinzipiellen Spannungsverhältnis noch lange nicht ausgemessen oder ausgelotet). Wenn Celan von Leid sprach, war immer das konkrete Leid gemeint (wie vielfach belegt ist) und nicht das 'überhöhte', transzendierte oder mystifizierte. Celan war Dichter, der sich gegenüber seinem Wesen und seinen sprachlichen Ausdrucksformen verpflichtet sah. Distanz und Fremdheit, die sowohl Schutz- und Leistungsfunktionen haben als auch neue Schutzlosigkeiten und Destruktionen hervorbringen, 'erklären' sich auch von daher. So wie das Ungewöhnliche seiner Dichtung und seiner Existenz letztlich in der Konsequenz besteht, die er wählte.

So erscheint das Schreiben, und was damit verbunden ist oder auch: wofür es steht, als das Hauptthema im Gespräch zwischen Szondi und Celan. Beide widmeten ihr Leben auf unterschiedliche Weise der oder ihrer Literatur. So erwähnt Szondi - es bleibt leider bei der Erwähnung - Schreibschwierigkeiten und –blockaden in Bezug auf seine Hölderlin-Studien. Oder es wird ein wenig ersichtlich, wie es zur Einladung von Celan in ein Seminar von Szondi kommt. Celan liest dort aus seinem "neuen Buch" Atemwende. Zum Bewegendsten gehören sicherlich auch die Widmungsgedichte wie Argumentum e Silentio oder Wintergedicht, später Du liegst, die mittlerweile zu den meistbeachteten und meistinterpretierten Gedichten Celans gehören. Bedauerlicherweise gibt der Briefwechsel, von einer Ausnahme abgesehen, über sie jedoch keinen weiteren Aufschluss.

Aufschluss hingegen erhält der Leser dieser Briefe darüber, was Paul Celan unter 'Freundschaft' und Ähnlichem verstanden hat. Unter direkter Anrede schreibt er am 15. Januar 1962: "[...] Es hat mit jener 'Gewissheit' zu tun. [Anm.: Celan bezieht sich auf ein Zitat von Franz Kafka: "Die Tatsache, daß es nur eine geistige Welt gibt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit."] Also nichts mit dem 'Verbündeten'. Sondern mit Ihnen als Person. Personen sind - Sie wissen es ja - keine Koalisierten. Aber vielleicht darf man für das, was sie zur Person macht sagen, dass es ein Bund ist. Ein alter. Ein - ich muss es, nach allen Erfahrungen mit dem wieder akut Gewordenen, so nennen -: ein artfremder. Ein geistiger."

Inwieweit eine solche Anschauung Celans Schwächen hat, etwa in Bezug auf die emotionale Seite, darüber lässt sich, aufgrund der Offenheit oder Vieldeutigkeit dieser Formulierung, kaum etwas sagen. Was beide näher bewegt hat, darüber wird in den Briefen kaum gesprochen. So geht Celan etwa auf Ansätze Szondis, die etwas zu seiner Depression sagen, nicht ein. Der Herausgeber Christoph König resümiert in seinem  Nachwort (S. 110): "Kaum wurden die Dinge erörtert, die beiden am Herzen lagen: die Dichtung Celans etwa oder Szondis Schriften, sein Kampf '1968' in Berlin für die institutionellen und politischen Grundlagen seiner Philologie, oder ihrer beider Krankheit."

Paul Celans letzter Brief an Peter Szondi, vom 3. März 1970:

Lieber Peter,
heute kam über Jean die Frage, ob Sie mir Ihren Schleier-
macher-Essay widmen könnten – gerne, sehr gerne habe ich
ja gesagt. Seien Sie herzlich bedankt.
Ich freue mich, Sie nun bald wiederzusehn.

Paul Celan - Peter Szondi - Briefwechsel
Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack. Hg. v. Christoph König. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2005, 264 S.