von Ralf Willms
"Atem-Schaltungen" ist der Titel eines Gedichtbandes, der im Jahr 2005 von dem Lyriker und habilitierten Sozialpsychologen Ernst Heinrich Bottenberg erschienen ist. Im Untertitel führt der knapp siebzig Seiten umfassende Band den reichlich missverständlichen, sicher auch abschreckenden Topos: "Naturlyrik: In-Zwischen". In diesem vierteiligen Titel bereits kann sich das gesamte poetische Programm spiegeln: Die neueren Hervorbringungen des Menschen, die bis in sein Innerstes, bis in sein Atmen hinein reichen und das Elementare und Unersetzbare noch der letzten (und wieder letzten) Gefilde verdrehen.
Dieses Thema, das nun seit rund hundertfünfzig Jahren auch literarisch inszeniert wird, wird von E.H. Bottenberg - vergleicht man seinen Gedichtband mit manch anderen zeitgenössischen - ungewöhnlich schmerzhaft gestaltet. Der sich öffnende, auf sich besinnende Mensch erfährt eine stets noch dichtere Deformation, sodass sein Sich-Öffnen augenblicklich konfrontiert wird mit dramatischen Formen psychischen Todes.
Das hat bekanntlich immer auch mit Raumverlusten zu tun. So heißt es bei E.H. Bottenberg: „ortlos im fehl“ und: „die frühen Augen / entwirkt versperrt / ein Zittern noch der verfallenen Blicke / Gedunkeltes Restgewebe eingekränkt.“ Zu den typographischen Eigentümlichkeiten des Bandes gehört es, dass, wie hier, hinter „noch“ und „Gedunkeltes“ ein Zweipunktabstand gewählt wurde oder Groß- und Kleinschreibung variiert. Die Gedichte werden gegliedert durch Subtitel, die manchmal aus Satzresten bestehen wie etwa „des sees“ oder „zu der grenzmaske hin“. Dort, wo der Mensch Kontakt aufnimmt, ja aufnehmen muss, ob nun in der Interaktion mit Naturresten, Schaltkreisen, Tiervorkommen oder Menschen, wird die nackte Empfindung als terrestrisches und penetrantes Dauerprogramm zerrieben: „zu der grenzmaske hin / beifuß dorre / in den geborstenen raumschoten / brombeerfänge / trittreste zielnester-zerrieben.“ Entblößt wird der Stand einer restlos ausgemessenen Welt (Buchten sind „mess-buchten“ oder neuronale Vorgänge scheinen einer „neuronalen Zählung“ zu entsprechen) am Beginn des 21. Jahrhunderts, eine Stimme - die des Gedichtbandes - begibt sich im Gefolge großer literarischer Tradition auf die Suche, eben auf seine Suche, was verloren gegangen sein könnte oder vielmehr - hier und jetzt - noch bemerkt werden kann.
Die zahlreichen Termini aus Medizin, Psychologie und vielen Bereichen der Technik führen nicht nur die Klage über die menschliche Umgebung - als Technik, sondern hegen überdies Zweifel am menschlichen Vorkommen, etwa am ´Maschinenartigen´ seiner Existenz - dem ja auch und selbst die Sozialpsychologie weitestgehend entgegenkommt, in der ´Messungen´ (Zufriedenheitsmessungen) und ´Zählungen´ (statistische Häufigkeiten) eine überragende Rolle spielen. Der ganze Gedichtband ist, zumeist durch schlichte Reihung, von solchen Fachtermini durchzogen, was den Leser an der Grenze (und über sie hinaus) des Zumutbaren aussetzt. Ein solches Montageverfahren, das etwa bei Gottfried Benn auch im Zeichen von Esprit und Rausch stand, reduziert sich bei E.H. Bottenberg auf erkaltete und kalte Reste, unter denen die Stimme verloren gegangen ist. So schließt das letzte Gedicht der "Atem-Schaltungen" wie mit einem Leben: „die LärmWetter / BetonSchübe Wulstungen / die Abschlüsse / [...] / der Kindheitslaut / in dem sich öffnet / das verendete Tal.“ Der Topos der Naturlyrik, der mit jener Zäsur aus dem 18. Jahrhundert, der Erlebnislyrik des jungen Goethe begann und von da an eine reichhaltige Geschichte durchlief (etwa mit der religiösen Naturbegeisterung in der Romantik über Gegenbilder zur Großstadtdichtung bis hin zu nostalgischen Produkten des Umweltschutz-Bewusstseins), erscheint restlos umgedreht: „keine Zuflucht / in den Atem / in dem ich geschehe.“
E. H. Bottenberg: Atem-Schaltungen - Naturlyrik: In-Zwischen, Regensburg (S. Roderer Verlag) 2005, 69 S.