von Ulrich Schödlbauer

Das Risiko unterzugehen wächst im Quadrat einer Erfahrung, die sich in die Worte fassen lässt: Hoppla, wir schwimmen ja! Der Glaube an sich selbst (und seine Sendung) treibt den Menschen hinaus, aber er fühlt sich nicht als Getriebener, sondern als Gestalter. Ein herrliches Gefühl, wenn man mich fragt, aber ein trügerisches. Das macht sich im Unglauben bemerkbar, der still und heimlich an der Wurzel des Glaubens nagt und ihn in immer größere Höhen klettern lässt, während er zäh seinen Fall betreibt. Man kann das gut an den öffentlich-unredlichen Investoren in die Meinungsvielfalt beobachten, deren Gesinnungsstärke stark vom Gewicht der Institutionen abhängt, die sie beherbergen. Im Rudel glaubt es sich besser. Andererseits kennt das Rudel sich selbst genau und weiß, wie wenig es bedeutet, was die Kollegin gerade ihren Zuhörern auftischt, und was dabei alles unter den Tisch fällt.

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Der Unglaube stärkt den Glauben. Wer’s nicht glauben will, muss sich nur im Bekanntenkreis umsehen. Privatheit schützt vor Torheit nicht. Es ist Januar und die ersten Bäume schlagen aus. Da treibt es die Menschen zu Bekenntnissen, Ausschlägen der Seele sozusagen, die während des restlichen Jahres mit Fug unterbleiben. Ob Fug oder Unfug: Entscheidend ist das Wollen und nicht das Können. Oder doch eher umgekehrt? Ein Journalist, der in seinem Beruf aufgeht, will etwas erreichen – zum Beispiel zeigen, was ein anderer kann. In diesem Fall gilt: Man kann Menschen, gelegentlich sogar ganze Nationen, groß- oder kleinschreiben, je nachdem, was man für den Einsatz in der betreffenden Sache bekommt. Das dürfen auch Schläge sein. Manchen Ukrainer enthemmt die Aussicht, nicht an die Front zu müssen, bis an die verbale Totschlaggrenze, andere gehen locker darüber hinaus. Das ist die zweite Front im Rücken der kämpfenden Truppe, die zweite Barbarei, hoch ansteckend und für den Einzelnen gefährlich bis zur völligen Maulsperre.

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Wer schlägt den, der sich selbst groß- und kleinschreibt? Richtig: das Schicksal. Ich erinnere mich an einen Studenten, der mir am Rande einer Veranstaltung für literarische Jungtalente im Vertrauen erläuterte, er sei Thomas Mann, der bekannte Großschriftsteller des abgelaufenen Jahrhunderts: nicht ›so talentiert wie‹ oder ›fasziniert von‹, nein, er selbst, der Herr Nobelpreisträger, in voller Größe, noch einmal. So etwas nennt man Reinkarnation. Es gibt eine Religion, die sie lehrt, da ist man als Dozent gehalten, Rücksicht zu üben. Was der Student ablieferte, war nicht schlecht, es lebte, es atmete, es trug den entschiedenen Ton, der hoffen lässt. Und er liebte, wie die Kundschaft, banale Geschichten. Banalität, unterwegs zum Stil, ist das Kennzeichen des Talents. Man hat kein Talent, man ist eines. Viele kennen den Unterschied nicht, dabei entscheidet er über Wohl und Wehe der Zunft. Später fand ich die glückliche Geschichte im Internet, sie war geklaut gewesen, aber es war zu spät, um Maßnahmen zu ergreifen. Die Geburt des Schriftstellers, einmal vollzogen, ist nicht mehr rücknehmbar.

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Immerhin, er hat geschrieben. Erst einen Roman, dann einen zweiten. Beim ersten kam er auf die Idee, sich coachen zu lassen, was für den berühmten TM doch, alles in allem, ein ziemlich starkes Stück darstellt, aber da er in diesem Leben seiner Karriere sicherheitshalber ein Wirtschaftsstudium vorgeschaltet hatte, kann man auch sagen: Der Mann hat was gelernt. Der zweite Roman kam dann heraus, wie man das nennt, er verließ die schützende Geburtshülle des Genies, aber das Genie – horribile dictu! – verleugnete seine Identität. Man stelle sich vor: Edelfeder TM schreibt unter Pseudonym! Da fällt einem, mit Blick auf die Rezensentenschar, gleich das Evangelienwort ein: Was ihr dem geringsten meiner (eurer) Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Nein, es war kein Josephs-Roman und die Kritiker blieben stumm. Vermutlich mussten sie an ihren Beruf denken wie er an den seinen. Die Arbeitskollegen schätzen es nicht, gestand er mir, wenn einer der ihren schriftstellert. Seriös sein ist alles, jedenfalls nach Marktwert betrachtet, und der seriöseste Schriftsteller ist doch nur, jedenfalls nach Marktwert betrachtet, ein … Windbeutel, hätte ich fast geschrieben, doch scheint mir das Wort genauso wenig seriös zu sein wie das, was es bezeichnet.

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Jedes Jahr in den ersten Januartagen erhalte ich einen Brief. Die Handschrift, markant, ist unverkennbar, das Objekt wirkt ein wenig geschwollen und fühlt sich steif an, wie das der Fall zu sein pflegt, wenn man ein paar Familienfotos in den Umschlag hineinsteckt. TM2 (ich nenne ihn der Einfachheit halber so) besitzt eine hübsche Frau und eine, nach heutigen Maßstäben, stattliche Kinderzahl. Er zeigt sie gerne her, gern auch vor sommerlicher Kulisse: Karibik, Strand, Sonnenschirme, Getränke mit Strohhalmen, im Hintergrund irgendein Erlebnisparadies für die Kleinen. Der Schutz der Privatsphäre geht eben vor. Er hat sich zur Ruhe gesetzt, es sei ihm gegönnt. Er ist nicht habgierig, ihm genügen die üblichen Accessoires des Wohlstands, mit denen sich seine Klasse umgibt. Wie gesagt, es sei ihm gegönnt und basta … wäre da nicht dieses klitzekleine Bedürfnis, das ihn Jahr für Jahr an den Rechner zwingt, um vor einem Kreis, zu dem ich gehöre, ohne ihn zu kennen, haargenau Rechenschaft über das vergangene Jahr abzulegen – sicher fände, wer nachbohrte, Löcher in der Bilanz, vermutlich beträchtliche, in denen all das vorkommt, was nun wirklich niemanden etwas angeht. Weiß ich, was er der anonymen Lesergemeinde vorenthält? Nichts weiß ich davon. Weiß ich also, was er das liebe lange Jahr hindurch wirklich getrieben hat und was ihm dabei widerfahren ist? Nein, nicht wirklich.

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TM2 lebt zurückgezogen im Kreise der Seinen, deren Alltags-Sorgen und Nöte er teilt. Er mäht den Rasen, hält das Haus in Schuss und geht zum Elternabend, wenn die Lehrerin Druck macht, während seine Frau ihrem Beruf nachgeht. Gelegentlich setzt er sich in den Flieger und trifft sich mit alten Freunden irgendwo zwischen Nizza und Monte Carlo, um ein wenig über den Durst zu trinken und Männergespräche zu führen. Warum erzählt er mir das? Um sein Englisch vor dem Einrosten zu bewahren, das er in seinem jetzigen Leben nicht mehr wirklich benötigt, es sei denn, die Kinder wachsen zweisprachig auf und er, als guter Deutscher, hat den angelsächselnden Part der häuslichen Konversation übernommen? … Aber halt, er erzählt es ja nicht mir, sondern der anonymen Gemeinde, die er mit seinen Sendschreiben beglückt. Kein einziges Wort, nichts deutet darauf hin, dass er mich im Blick hat, wenn Betty die Tatty und Tatty die Irmela… Und das ist gut so, denn es gehört sich so. Was bliebe von all der Zurückgezogenheit übrig, wenn man sie mit aller Welt teilte? Nichts, rein gar nichts außer dem flauschigen Gefühl, in einer soap opera sein Leben zu verplempern.

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TM2 macht alles richtig. Jedenfalls dann, wenn man die neuesten Handbücher zu Rate zieht. Haus, Garten, Familie, Nachbarn, Dorfteich, Waldnähe, kluge Vorratshaltung und im Hintergrund ein bisschen Kapital, krisenfest angelegt. Außerdem: nicht jeder, der sich der Bewahrung der abendländischen Kultur verschrieben hat, kann sich rühmen, TM zu sein. Der Dichter selbst, lebte er heute, würde vielleicht zögern, die Karte des alten weißen Mannes zu zücken, so wie er seinerzeit zögerte, ins verwüstete Deutschland zurückzukehren… Auch TM2, der Brief verrät es schüchtern, fast verschämt, wird von ideologischen Zweifeln geplagt, zum Beispiel dann, wenn die ukrainischen Flüchtlinge, die man freundlicherweise in den Haushalt aufgenommen hat, in vollen Zügen den Urlaub im Westen genießen. Da lugt es hervor, das deutsche ›Darf man das?‹ Nein, man darf es nicht. Andererseits: Was soll man schon machen, wenn nicht das, was alle machen? Man macht es und macht es nicht. Man macht es mit schlechtem Gewissen und noch schlechteren Ausreden. Hauptsache, man macht es. Denn etwas, nun, etwas muss man doch machen und das hier, das ist das Gegebene.

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Nein, ich erwarte von TM2 keine Buddenbrooks, keinen Zauberberg, keinen Joseph und keinen Tonsetzer Leverkühn, nicht einmal einen klitzekleinen Erwählten. Schließlich hat er all das bereits in seinem vorigen Leben ins Werk gesetzt. Die Reprise wäre nicht allein langweilig, sie wäre des Mannes schlichtweg nicht würdig. Gerade darin beweist TM2 seine Identität mit dem älteren TM, dass er die Reprise standhaft verweigert. Und, Hand aufs Herz: Wissen wir, was alles bloße Reprise wäre, legte er erst die Finger auf die Tasten, um Roman um Roman herunter zu … massieren? Vielleicht ist TM2 gerade darin zutiefst TM, dass er das glühend erträumte Werk vollendet weiß und nun, ein bisschen spät, doch besser spät als nie, das Glück im Winkel genießen darf? Dann wäre er weiter als unsere Kulturkonservativen, die mit Nachdruck etwas erhalten möchten, was schon längst, nicht zuletzt dank ihrem Zutun, auf und davon ist. Andererseits wäre er nicht weiter als Hinz und Kunz, als sie im fortgeschrittenen Alter entdeckten, dass sie nichts weiter sind als Hinz und Kunz, wo doch der eine Religionsstifter und der andere Fliegergeneral werden wollte. Um die Wahrheit zu sagen: Er wäre weniger als die beiden, schließlich kann ein Thomas Mann alles werden, bloß nicht TM, der er bereits ist.

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Was wäre aus Thomas Mann heute geworden? Mit Blick auf TM2 kann die Antwort eigentlich bloß lauten: Er ist genau das geworden und das bedeutet genau. Der Großschriftsteller der Vergangenheit, er passt haargenau in die vier eng beschriebenen Seiten, die einmal pro Jahr in die Welt hinausgehen, um ein Glück zu beschreiben, das im eigentlichen Sinn unbeschreiblich ist: im Bewusstsein zu leben, dass man es richtig getroffen hat und dass es einem an nichts mangelt, außer vielleicht an einem exquisiten Verstand oder einer überquellenden Phantasie. Aber dieser Mangel wäre nichts weiter als die Unfähigkeit, ihn zu empfinden, und höbe sich somit auf. Soweit das heutige Durchschnittsbewusstsein Thomas Mann sein kann, wurde hier alles erreicht und es ist auf nichts weiter zu hoffen. Und, Hand aufs Herz: Wer, außer einem ganz gewöhnlichen Durchschnittsdeutschen, könnte auf die Idee kommen, er sei Thomas Mann und die Welt habe ein Recht darauf, es zu erfahren? Ich schätze: niemand. Schade, dass keiner je die Zahl der Niemande dieser Welt ermittelt hat. So weiß man nicht, wer dahintersteht, wenn niemand das Recht einklagt, den regenerierten TM im Fernsehen oder auf YouTube über sich und seine Familie parlieren zu hören. Nein, ich bin nicht die Welt. Ich will es auch nicht alle Welt wissen lassen, ich habe mit der Sache rein gar nichts zu tun. Eigentlich versuche ich nur reell zu sein.