von Ulrich Siebgeber

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Ecke Friedrichstraße fand man einen Koffer.
Groß, schwarz, glänzend stand er im Verkehr.
Wer ihn sah, der wechselte die Seite.
Keiner wusste, ob er leer

war, ob ihn ein Flüchtling abgestellt
hatte, ob ein Träumer ihn verlor,
ob er Tante Irma dort abhanden
kam, weil er ihr unvermittelt schwer

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wurde und sie, blass geworden, ruhte,
bis er ihr mit einem Mal entfiel,
(wo sie doch der Stadt den Rücken kehrte,
die sie heiß geliebt und kalt genoss,

denn sie fand, Berlin sei ihr zu stressig
für das bisschen Kudamm-Bummelei
nach dem Abgang ihrer Lieblings-Diletteuse
und so nahm sie unwirsch frei),

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obs Demenz war oder böse Absicht,
Mafiosi, Terroristen, Trittbrettfahrer
oder bloß ein dummes Ei.
Selbst die Polizei

wirkte ausgenüchtert während jener zwei
Stunden, die es brauchte, abzuklären,
wie das Fundstück fortzuschaffen sei,
denn sie wollte die Gefahr

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nicht durch eigne Ignoranz vergrößern
bloß aus Jux und Tollerei.

5

Als Spezialisten den Koffer öffneten,
fanden sie darin eine Handgranate,
eingewickelt in zartroten Tüll
nebst einer schwarzen Null,
die intensive Kratzspuren aufwies,
so dass es ungefähr aussah,
als handle es sich
um ein Hufeisen.

6

Ausgeschlagen hatte man den Koffer
mit rotem Saffianleder. Aus der Ferne betrachtet
schien es zu leuchten. Sah man näher hin,
bemerkte man seine Stumpfheit. Auch deuteten Risse
auf ungute Spannungen.

7

Die schwarze Außenhülle des Koffers
schien unverwüstlich. Doch verbarg sie
den Fachleuten nicht ihre Sprödigkeit
und die Bruchlinien
eines nahen Zerfalls.

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Lebhafte Ermittlungen in alle Richtungen,
die Herkunft des Koffers betreffend, liefen ins Leere.
Kein Post tauchte
im Internet auf, um anderntags abzutauchen,
kein Bekennerschreiben lief bei den Behörden ein,
um auf Echtheit geprüft und verworfen zu werden, die Szene
gab keinen Laut. Schwefelgleich blühten
die Gerüchte.

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In den großen Parteizentralen
herrschte Erklärzwang
nackt.
Wer vor die Kameras trat,
bestimmte das Los. Trittfeste
wurden getreten. Betretene
traten selbst und wurden
wieder getreten. Wadenbeißer beklagten sich
über Fleischmangel. Ein Märchenonkel
mit Namen Trittin wurde zum Held der Stunde
und erklärte den Mechanismus.
Stumm lauschte das Parlament
und suchte das Weite.

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In der Seitentasche fand sich
ein Heft, vollgekritzelt
mit Verfügungen
der kommenden Volksregierung,
darunter eine Bestimmung,
die den Wölfen das Wolfsein verbot
bei Strafe der Ex-tink-tion.

Den Anbietern von elektrischem Strom
gestattete ein Paragraph, ihrer Kundschaft
außer dem verkauften
auch den nicht verkauften Strom in Rechnung zu stellen
aus Gründen der Sicherheit, wie es hieß.

Auch sollte die Bereitstellung einer alternativen Regierung
künftig als Regierungshandeln abgerechnet
und in gleichem Umfang
vergütet werden. Dies alles
schien vertraglich geregelt
und besiegelt
unter Geschäftsfreunden
auf Augenhöhe.

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Die Topfrauen und -männer hören es gern.
Sie preisen den Herrn
und schenken ihm einen Tweet.

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Bald tauchten weitere Koffer auf.
Schwarz schimmernd, mit Saffian ausgeschlagen.
Kein Platz schien mehr sicher.
In der U-Bahn drängelten sich die Leute
im hinteren Zugteil, einzelne schrien
laut auf, sobald ein Kofferträger den Wagen betrat,
was jetzt seltener vorkam.
Als die Taxifahrer sich weigerten,
schwarze Koffer zu befördern,
erreichte der Hubschrauberverkehr über der Stadt
seine höchste Dichte.

Im Fernsehen sang die Diletteuse:
Ich hab noch einen Koffer in Berlin.

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Tante Irma, die, zu Hause wieder,
kaum befragt, in Schwärmerei geriet,
weil das Spiel der Lieblings-Diletteuse
auf dem Bildschirm deutlich alles übertraf,
was zuletzt sie in Berlin erlebte,

Tante Irma fütterte die Katze,
hob sich auf und rollte ihren neuen
Koffer in die komisch leere Ecke,
die sie schon seit ihrer Ankunft nervte.
Auch war sie ein bisschen irritiert,

dass sie nach der fernen wüsten Hauptstadt
gänzlich ohne Handgepäck gereist sei.
War das möglich? Offenbar. Vor allem da sie
nichts vermisste, wenn sie davon absah,
dass die Dinge langsam ihrem Blick entschwanden,

doch das war dann wohl normal.