von Stephan Hilsberg

Kurz nach Weihnachten wollte ich ganz spontan in Berlin ins Theater gehen. Ich ging direkt zum Deutschen Theater, das liegt bei mir um die Ecke, und wählte eine Inszenierung der Kammerspiele: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer von Bertolt Brecht. Für dieses Stück gab es noch Karten und ich kannte es nicht, hatte es weder gelesen, noch je davon gehört. Es gab zwei Sorten Karten, ich nahm die zu 30 Euro, direkt auf der Bühne, mitten im Stück.

Die Wartezeit von einer Stunde ging schnell vorüber. Zeit genug das Programmheft zu lesen, das in dürren Worten die Handlung schilderte und ansonsten Heiner Müller mit seiner Brecht-Verehrung Raum gab: intellektuelle, philosophierende Passagen, deren Schlussfolgerungen ich nicht nachvollzog.

Immerhin hatte ich nun eine Vorstellung, was mich erwartete. Fatzer war einer von Vieren, die 1917 aus dem Ersten Weltkrieg desertierten und nun irgendwie eine Revolution erwarteten oder vielleicht sogar unterstützen wollten, um dem Schlachten ein Ende zu bereiten, dabei Hunger litten in ihrem Untergrund in Mülheim an der Ruhr, ihrem Aufenthaltsort, gewählt, weil hier die Frau eines der Vier wohnte, und weil sie hier selber wohnen konnten.

Dass, wie das Programmheft schilderte, dabei Spannungen unter den vieren entstanden, war angesichts ihrer Dilemma-Situation absolut nachvollziehbar: Zu diesem Zeitpunkt entstand in Mülheim an der Ruhr keine Revolution, legalisieren konnten sie sich nicht, und zu essen hatten sie in dieser Zeit der Rationierung und Lebensmittelkarten auch nichts. Auf ihre Entdeckung stand der Tod, mit dem so gut wie jeder Staat gerade in Kriegszeiten Deserteure bedenkt. Trotzdem war Desertion 1917 eine legitime Antwort auf dieses große, industriell betriebene Völkerabschlachten der Moderne, als welches man den Ersten Weltkrieg durchaus beschreiben kann. Sich ihm zu entziehen, um nicht weitere Schuld auf sich zu laden, und um zu zeigen, für wie sinnlos man den Fortgang dieses Krieges hielt, war moralisch gesehen in Ordnung. Trotzdem man verstieß gegen die Ordnung. Ein interessanter Stoff also, den Brecht sich in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts da vorgenommen hatte.

Heiner Müllers Kommentare zu diesem Stück schienen mir der Verehrung dieses Mannes aus einer ganz speziellen, sich sehr intellektuell gebärdenden Schicht aus SED-Zeiten zu stammen. Müller gab sich zwar als Renegat, dessen Stücke nicht aufgeführt wurden, war vor allem aber Marxist. Ihm gelang es, die Dilemma-Situation der SED-Diktatur für diese Schicht von Intellektuellen so aufzulösen, dass sie zwar ihrer SED-Diktatur kritisch gegenüberstehen, sich andererseits aber selbst für die Avantgarde dieses Landes DDR halten konnten. Und dies nicht nur gegenüber der kleinen, senilen und kraftlosen Herrscherclique in der SED, sondern auch gegenüber der Masse der DDR-Bevölkerung, die nicht verstand, ja nicht verstehen konnte, worum es beim DDR-Sozialismus wirklich ging: um die Lösung aller Probleme der alten und den Aufbau einer neuen, der kommunistischen Welt, die noch immer in den Geburtswehen lag und – von Institutionen wie der SED-Diktatur mehr behindert als befördert – in der DDR näher lag als im kapitalistischen Westen.

In der Tat, Heiner Müllers Kommentare präsentieren ihn als ›Marxisten schlechthin‹, der die Persönlichkeiten in Brechts Stück alleine aus ihren ›angestauten revolutionären Bedürfnissen‹ heraus erklärt. Natürlich ist auch vom Fragmentcharakter der deutschen Geschichte die Rede. Es wird ein weiter Bogen gespannt, der mit den Bauernkriegen beginnt. Ein alter Topos der Linken, der erst 1989 mit der friedlichen Revolution untergegangen ist, dem aber im Programmheft fröhlich weiter gefrönt wurde, als hätte es 1989 gar nicht gegeben.

Ein Name ließ mich aufmerken: Jürgen Kuttner. Dieser bekannte Publizist, Radiomoderator und Theaterschaffende war Mitte der Neunziger Jahre als ›Inoffizieller Mitarbeiter‹ (IM) für die Staatssicherheit (MfS) der DDR aufgefallen. Eine Tätigkeit, die er selbst öffentlich gemacht hatte, möglicherweise als Akt der Solidarität für seinen Kollegen, den blinden Lutz Bertram, dessen eigene Tätigkeit für die ›Firma‹ damals in der Tagespresse Schlagzeilen machte. Doch die Stasi-Akten gaben nicht viel her, so dass man sich (d.h. sein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber, der ORB) kein weiteres Bild von Kuttners Stasitätigkeit machen konnte. So konnte er kurze Zeit später seine Moderatorentätigkeit, die er äußerst eloquent und raumfüllend ausführte, wieder aufnehmen. Ich hatte ihn immer nur gehört und nie gesehen. An diesem Abend spielte er die Hauptrolle. Die Namen der anderen Mitwirkenden kannte ich nicht, und so wartete ich auf meinem Platz auf der Bühne auf den Beginn des Stückes.

Das Stück war ausverkauft, die Plätze belegt bis hinauf auf den Rang.

Der Mann, der dann gleich zu Beginn des Stückes das Zepter übernahm, hatte eine Stimme, die mich sofort an den Kuttner aus dem Radio erinnerte. Er war klein, er genoss diesen Auftritt sichtlich. Er führte mit einer kleinen Publikumsbeschimpfung in das Stück ein. Niemand kenne dieses Stück, man habe sich in der Regel auch nicht damit beschäftigt, für die Lektüre des Programmheftes sei keine Zeit gewesen. Man wolle sich eben nur unterhalten lassen. Das aber sei nicht Brechts Sache gewesen. Er habe die aktive Einbeziehung des Publikums in das Stück selbst gewollt. Dafür habe er seine Lehrstücke, wie Die Maßnahme oder Der Jasager. Der Neinsager geschrieben. Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer sei ein Beispiel dafür, aber es sei nur Fragment geblieben, im eigentlichen Sinne nicht einmal Fragment, sondern nur eine Materialsammlung. Sie hätten versucht, hier an den Kammerspielen des Deutschen Theaters ein Stück daraus zu machen. Da dieser Versuch in einer Phase unbefriedigend geblieben sei, hätten sie eine von Brechts Methoden angewandt, einen völligen Umsturz und damit sei das Stück dann aufführbar geworden. Aber dafür müsse das Publikum einbezogen werden, was Brechts Konzept der Lehrstücke ja ohnehin vorsehe.

Anschließend wurde ein Video eingespielt, dass im VEB Narva in den Siebziger Jahren spielte. Es zeigte Benno Besson, den bekannten und großen Regisseur aus den DDR-Zeiten des Deutschen Theaters, der die werktätige Bevölkerung ebenfalls in eines der Lehrstücke von Brecht mit einbeziehen wollte. Ein Video, bei dem ich das erste Mal lachen musste an diesem Abend. Es zeigte die Arbeiterinnen und Arbeiter aus mehreren Berliner VEBs, die offenbar für diesen Kulturakt zusammengetrieben worden waren, bürokratisch angewiesen, ohne eine Ahnung von der Sache, abgestellt durch eine Leitungsanweisung. Sie reagierten entsprechend. Eine Arbeiterin sprach sogar von Vergewaltigung, war also sehr offen und gar nicht verschreckt. Alle sprachen davon, dass sie nicht wüssten, wozu sie hergeholt worden seien. Allesamt wirkten sie keineswegs begeistert. Das Video stellte somit Bessons ganze Aktion per se in Frage. Avantgardistische Kunst in der DDR – ausgeführt mit einem Experiment in der Tradition Brechts und unter den Bedingungen der SED-Diktatur – hatte so gar nichts von einem freien Publikum resp. individueller Kunstrezeption an sich. Experiment traf auf Kommando. Ein schönes Beispiel für die Lebenssituation von DDR-Künstlern, das nicht zeigte, wie das Lehrstück gemeint war, sondern wie es nicht funktionieren konnte. Das warf Fragen auf, die der Zeremonienmeister wederstellte noch beantwortete.

Er führte aus, das Publikum wisse nun, was es erwarte und was von ihm erwartet werde. Man sei hier nicht zum reinen Zuschauen, sondern müsse mitmachen, aktiv sein. Dazu gehöre auch, dazwischenzurufen, zu klatschen, auch mal Radau zu machen. Das werde man schon merken. Da mir persönlich so etwas nicht liegt, schwante mir nichts Gutes. Doch einige der Zuschauer reagierten begeistert.

Und dann kam der ›erste Akt des aktiven Zuschauers‹. Er musste die Bildfolge, das heißt die Szenenfolge des Stückes bestimmen. Nur dadurch, dass diese Szenenfolge vom Publikum freigegeben und bestimmt werde, sei es möglich gewesen, aus Brechts Stoffsammlung ein aufführbares Theaterstück zu machen. Also machte der Zeremonienmeister sich daran, diese Bildfolge durch eine Art ›Lotteriespiel mit Publikum‹ zu bestimmen, eines Publikums, das das Stück nicht kannte, aber durch seinen Einfluss den Erfolg garantierte. Sollte dieser Regiekniff kreativ sein, dann nur durch Zufall und das in jeder Hinsicht Unbewusste im Publikum. Mich erinnerte das eher an Dada als an das Konzept der Brechtschen Lehrstücke.

Das Publikum sollte außerdem Texte sprechen, die ihm auf einem übergroßen Teleprompter serviert wurden. Niemand kannte die Texte, die hier verlesen werden sollten, das Publikum wurde zur Maschine degradiert, zu einem willenlosen Objekt. Mir wurde mulmig zumute. Das hatte etwas Manipulatives an sich. Aber die Leute lasen die Texte vor, nicht alle, aber die meisten, schön laut und kräftig. Der Zeremonienmeister hatte sie motiviert, er beherrschte sein Handwerk. Mich erinnerte das an Mario und der Zauberer, und an den Befreiungsschuss eines heranwachsenden Knaben, der nur so seine eigene Persönlichkeit wieder gewinnen konnte. Thomas Mann hat damit sehr schön den heraufziehenden Faschismus porträtiert, eine Falle, in die die Menschen allzu bereitwillig hineintappten, und die ihnen ihre Persönlichkeit nahm, den wichtigsten Besitz des Menschen in der Moderne.

Jetzt sollten also wir manipuliert werden. Ich wehrte mich. Ich hatte keine Lust an einer faschistoiden Inszenierung teilzunehmen. Doch es kam noch besser. In ganz kurzen Interviews wurden einzelne Gäste aus dem Publikum befragt, die damit völlig übertölpelt wurden. Der Zeremonienmeister machte sich mit seinen Fragen lustig über sie, aber sie konnten nicht aktiv reagieren. Eine Situation entstand, in der die Leute Angst haben mussten angefragt zu werden. Sie reagierten verlegen. Das Publikum wurde nicht ernst genommen, sondern ausgelacht. Das alles kam mir irgendwie bekannt vor. Ich begann, mir Antworten zurechtzulegen, für den Fall, dass die Reihe an mich kommen würde, auf unvorhergesehene Fragen zu antworten. Spontaneität ist in solchen Situationen nicht meine Sache. Aber mitspielen wollte ich nicht. Doch es kam nicht dazu, ich durfte zuschauen.

Das Stück selbst war nicht das schlechteste. Auch das Bühnenbild war ansprechend. Fünf Schauspieler hatten hier ihre Rollen zu spielen. Alle waren in silberne Kombinationen eingekleidet, die sie kenntlich und auffällig machten. Die eine Frau auch. Doch sie tat mir leid. Zwar trug die Frau Stöckelschuhe, um sich so von den anderen ›abzuheben‹, doch gerade dadurch entstellte die Kombination sie. War das Absicht, Unvorsichtigkeit oder eine Folge der Beschäftigung mit der Revolution, die schon immer nivellierte und aus Menschen Objekte machte, da man auf individuelle Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen konnte?

Der Schauspieler, der den Fatzer gab, spielte gut, überragend würde ich sagen: Andreas Döhler. Auch der Koch, Bernd Stempel, spielte gut. Die beiden stachen heraus. Der Büsching (Alexander Khuon) blieb farblos, irgendwie unbeteiligt, er sollte wahrscheinlich kalt wirken, was er aber nicht tat.

Trotz der zufällig gewählten Bildfolge schälte sich eine Handlung heraus, wurden die Prozesse in diesem Stück sichtbar, zeigte sich eine eigene Dramaturgie. Doch mit Revolution hatte das alles nichts zu tun. Mehr mit Hunger, der nicht gestillt werden konnte. Und Fatzer hatte ein Alleinstellungsmerkmal. Er war aktiver, munterer, lebensfroher als alle anderen. Koch wirkte wie der intellektuelle Kopf der anderen. Er war ihr Sprachrohr. Der Antreiber aber war Fatzer, der den anderen, die ihm folgten, gleichzeitig unheimlich war. Vier Tage blieben sie bei der Frau von Kaumann in Mülheim, dann war ihr Experiment gescheitert. Sie mussten mit Ergreifung rechnen und brachten Fatzer vorher um. Sterben mussten sie alle vier, denn auf Desertion stand der Tod, doch Fatzer vorher umzubringen, hatte eine Symbolfunktion. Die anderen exkulpierten sich an ihm, in dem sie die eigene Verantwortung für ihr Handeln bei Fatzer abluden, der für sie büßen musste. Ein typischer Fall von ›Masse und Führung‹, ein revolutionäres Problem.

Fatzer als wichtigster, munterster als aktivster der Vier, verkörpert in diesem Stück den Lebenswillen gegen die harten Umstände des Krieges. Er ist einer der Menschen, die nicht unterzukriegen sind. Die Sehnsucht nach der Revolution entsteht in ihm, weil sie eine Lösung vom kriegerischen Alltag verspricht, aber nicht einhält. Vielleicht wird er deshalb von Brecht als egoistisch benannt, aber bei Brecht ist alles gebrochen. Nebenbei schwängert Fatzer auch noch die Frau, die im Stück als Objekt der Lust porträtiert wird; nicht gerade ein aktuelles Gendermaterial. Nachvollziehbar ist die Sehnsucht nach Sex mit ihrem Mann, den sie drei Jahre nicht gesehen hat. Aber sie schläft nicht mit ihm, sie schafft es nicht, da die kleine Wohnung, in die sie sich da alle pferchen müssen, dies nicht gestattet. Dann aber schläft sie mit Fatzer. Die Umstände werden nicht erläutert. Auf jeden Fall geschieht es und auch dafür muss Fatzer wohl zahlen.

Der Schluss ist furios. Fatzer wird von seinen Kameraden an eine Bank gefesselt, mit Verpackungsfolie umwickelt und hochgezogen, sodass er über der Bühne schwebt, und wohl erst jetzt realisiert, dass er ermordet werden soll. Soll das eine Anspielung auf die Morde im Namen des Kommunismus sein, dem Brecht ja gedient hat, offenkundig und bewusst, wie Heiner Müller, wie die vielen Bolschewisten, die von ihrer eigenen Partei umgebracht wurden?

Kurz vor seiner Fesselung bringt Fatzer in dieser Inszenierung zwei Zuschauer in eine blamable Situation und desavouiert sie öffentlich, macht sich lustig über sie. Theater kann durchaus aggressiv sein. Welchen Sinn das dramaturgisch gesehen haben soll, kann ich nur vermuten, aber es ist hässlich.

Am Ende sagt der Zeremonienmeister noch etwas darüber, dass in diesem Stück Probleme auftauchten, die wir heute auch hätten, doch von der Verstrickung der kommunistischen Bewegung in diese Probleme, von ihrer millionenfach angesammelten Schuld, sagt er nichts. Die Erfahrung, dass der Kommunismus zur Lösung der von ihm angezeigten Zivilisationsprobleme nichts beigetragen hat, als sie zu verschärfen, darüber sagt während des ganzen Stückes niemand etwas. Hier wird eine Verehrung Brechts praktiziert, die wie zu Zeiten der DDR die kommunistische Realität ausblendet und die alte linksintellektuelle Überheblichkeit reproduziert, die dieser Schicht von DDR-Intellektuellen bis heute eigen ist und in der Linkspartei eine fröhliche Fortsetzung erfährt.

Man muss sich dieses Stück nicht ansehen, es sei denn, um ein Bild davon zu bekommen, wie selektive Wahrnehmung sich weiterhin fröhlich selbst feiert und sich über die Zeit gerettet hat, ohne sich den eigentlichen Fragen unserer Zeit zu stellen. Sie bleibt befangen in ihrer eigenen Tradition, in ihren Grenzen. Sie kritisiert sich nicht selbst, sondern immer nur die anderen. Besser kann diese Art der Brecht-Verehrung sich gar nicht feiern.

Bleibt anzumerken, dass der Zeremonienmeister in der Tat jener Jürgen Kuttner war. Das war sein Abend. Aber das Spiel der Schauspieler hatte doch seinen eigenen Wert. Auch wenn Kuttner hier als Regisseur agierte, und die Schauspieler ihm wohl auch sicher gerne folgten – was ich natürlich nicht weiß, sondern nur vermute –, entwickelten sie ihr eigenes Spiel, ihre eigene Persönlichkeit. Es gibt aber in diesem Stück noch andere Dimensionen, als die dieser fatalen Brechtrezeption, die überheblich und von gestern ist.