von Lutz Götze

Mythen im klassischen Sinne sind Göttergeschichten: erzählt in grauer Vorzeit und weitergegeben von Generation zu Generation. Irgendwann wurden sie aufgeschrieben; zumeist verändert gegenüber dem Ursprung. Nachfolgende Erzähler deuteten sie auf ihre je eigene Weise: So haben sich Mythen über Jahrhunderte hinweg bewahrt und geändert: Ödipus, Prometheus und gerade der Medea-Mythos erfuhren gewaltige Umdeutungen, wenn wir beispielhaft etwa die Medea-Lesart des Euripides mit jener Christa Wolfs vergleichen.

Der Mythos – das Wort, die weithin bekannte Göttererzählung – und der Logos – ebenfalls ursprünglich das Wort, aber in seiner ratio, also seiner Vernunftbegründung – stehen sich diametral gegenüber. Der Mythos kennt keine inhaltliche Beschränkung, ist – wie Roland Barthes sagt, eine Aussage und kein doxa, also keine verfestigte Lehre oder gar Dogma, sondern unbewusste, kollektive Bedeutung. Der Logos hingegen strebt zur Definition, zur vernunftgeleiteten Erklärung, zur Lehre.

Bekannt ist die Geschichte des Sisyphos, des Äolos´ Sohn und König von Korinth, seit Homer, der ihn in den jeweils elften Gesängen der Ilias und Odyssee mit den Augen des Odysseus beschreibt. In der Ilias nennt Homer den König von Ephyra (Korinth) den »schlauesten unter den Männern«, in der Odyssee heißt es:

Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert,
Einen schwarzen Marmor mit großer Gewalt fortheben.
Angestemmt, arbeitet´ er stark mit Händen und Füßen,
Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt´ er ihn endlich
Auf den Gipfel zu drehn; da mit einmal stürzte die Last um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Und von vorn arbeitet´ er, angestemmt, daß der Angstschweiß
Seinen Gliedern entfloß und Staub sein Antlitz umwölkte.

Genaueres über Sisyphos, der den Zorn des Göttervaters erregte und von Ares in die Unterwelt entführt worden sei, erfahren wir vom griechischen Geschichtsschreiber Pherekydes, der in seinem Hauptwerk Historiai (508 v.u.Z.) neben Jason und den Argonauten auch den Sisyphos-Mythos erzählt. Doch ist er bereits ein Neuerer: Nicht mehr gilt bei ihm, dass die Götter die Menschen uneingeschränkt determinierten und dies unabänderlich sei, sondern er betont die Einwirkung des »eifersüchtigen Gottes« auf die Entscheidungen der Heroen und Menschen, gibt Zeus und der Götterwelt also durchaus menschliche Züge. Die Umdeutung des Mythos des Sisyphos, der die Endlichkeit des Lebens nicht akzeptiert und dadurch den Zorn der Götter erregt, beginnt also bereits in der Antike.

Für Albert Camus ist Sisyphos der Held des Absurden. Als er zeitgleich – 1939/40 bis 1941 – am Roman L´ étranger und am Essay Le mythe de Sisyphe schreibt, kämpft er in der Résistance. Beide Werke ergänzen einander. Als sie 1942 erscheinen, ist Camus 29 Jahre alt, hat Philosophie – vor allem Husserl und Heidegger – studiert, ist aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden, wird 1939 als Kriegsfreiwilliger abgelehnt und hat private Krisen. Sisyphos ist Camus´ Leben und Vorstellungen also sehr nahe. Man hüte sich freilich davor, in beiden Werken des Jahres 1942 lediglich Autobiografisches zu vermuten. Es geht um das Ganze, um Existenzialphilosophie. Die beiden zentralen Sätze des Essays stehen am Anfang und am Ende:

»Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.«

»Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.«

Der Selbstmord war Albert Camus vertraut, doch er überwand ihn – anders als Jahre später sein geistiger Verwandter Jean Améry, der die Absurdität menschlicher Existenz konsequent zu Ende dachte und in den Freitod ging.
Camus fasste seine Gedanken über seine eigene Generation – im Gegensatz zu früheren wie nachfolgenden Generationen – in einer Passage seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 1957 in Stockholm zusammen:
»Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, daß sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, tollgewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der Mächte ohne Größe heute wohl alles zu zerstören, aber niemand mehr zu überzeugen vermögen, sieht diese Generation sich vor die Aufgabe gestellt, in sich und um sich ein weniges von dem, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht, wiederherzustellen.«

Darum geht es: angesichts der absurden Existenz »die Würde des Lebens und des Sterbens wiederherzustellen«. Camus entscheidet sich bereits in jungen Jahren für das Leben, aber nicht für das Dulden im Sinne Schopenhauers, sondern für die Revolte. In L ´homme révolté, 1951 erschienen und Anlass des geistig-idelogischen Bruchs mit Jean-Paul Sartre, schreibt er:
»Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückbefördert zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht. Die Geschichte ist zweifellos eine der Grenzen der Menschheit....Aber der Mensch setzt in seiner Revolte seinerseits der Geschichte eine Grenze.«

Von hier aus wird die Sentenz vom glücklichen Sisyphos verständlich: Er steigt dem gewaltigen Block, den er gerade hinaufgewälzt hat und der wieder in die Tiefe zurückgestürzt ist, glücklich nach, weil er in diesem Moment frei ist vom Willen der Götter, nicht determiniert, sondern Herr seiner eigenen Entscheidung. Die Ordnung ist für diesen kurzen Augenblick aufgehoben, die Freiheit des Individuums hat gesiegt. Umgekehrt gilt also: Je mehr Ordnung, desto weniger Freiheit!

Wenn also das Absurde der Endlichkeit menschlicher Existenz die Chance auf eine ewig währende Freiheit zerstört, erhöht sie zugleich die Handlungsfreiheit im konkreten Moment: je weniger Glaube an die Ewigkeit, desto mehr Gestaltungsmöglichkeit in der Gegenwart, im hic et nunc. Dies aber gelte nur, so der Dichter-Philosoph, wenn der Mensch die ihm je eigenen Ziele erkennt und ihnen entsprechend, freilich verantwortungsvoll, handelt. Fremdbestimmung hingegen führe zu Anpassung und Unterwerfung: egal, ob diese durch totalitäre Systeme, die Kirche, die Politik oder wen auch immer ausgeübt werde. In der friedlichen Revolte gegen unterdrückende herrschende Systeme sieht Camus den Sinn menschlicher Existenz und wandelt Descartes ab: »Ich revoltiere, also sind wir«.

Weder Systeme noch Organisationen noch Kollektive vermögen dem Leben, so Camus, einen Sinn zu geben; nur der Einzelne vermag es für sich selbst. Freilich ist dies eine Riesenaufgabe, die die meisten Menschen überfordert, damals wie heute. Deshalb weichen, zumal in der Jetztzeit, immer mehr Menschen in Partikularismen aus, in Detailerklärungen, in Kleinstbereiche. Das große Ganze gilt als unerklärbar, als inkommensurabel, den Einzelnen überfordernd. Solches geschieht in den Wissenschaften mit Mimikry-Forschungsprojekten, in der Politik mit den Menschen verblödenden Minimalbegründungen, die im Grunde Verhüllungen des Eigentlichen darstellen. Im Alltag füllen vermehrt Heilskünder und Rattenfänger die derart geschaffene Leere.

Albert Camus´ Denken führte ihn nahezu zwangsläufig zum Bruch mit Sartre und anderen französischen Intellektuellen der Nachkriegszeit, die den Stalinismus schönredeten. Camus allein protestierte 1945 gegen das US-Verbrechen in Hiroshima und begrüßte den Arbeiteraufstand 1953 in Ostberlin ebenso wie den Ungarnaufstand 1956: als Verteidiger der Freiheit des Einzelnen und Gegner von Parteien und Organisationen, die die Freiheit des Einzelnen mit Füßen traten. Im Geiste war ihm Rosa Luxemburg nahe, die die Freiheit stets als jene der Anderen verstand. Camus bemaß die Qualität einer Gesellschaft immer daran, wie viel Freiheit sie dem Individuum gewährte und garantierte.

In seiner Ablehnung sowohl des sich selbst sozialistisch und kommunistisch nennenden totalitären Unterdrückersystems sowjetischer Prägung als auch des – neudeutsch formuliert – Turbokapitalismus sieht Camus nur einen einzigen Ausweg: die unterschiedlichen Ideen und Taten des Individuums, das gleichwohl der Gemeinschaft verantwortlich ist, also keinen hemmungslosen Egoismus vertritt. Es ist nicht Gott verpflichtet oder lässt sich von vermeintlich höheren Mächten leiten: Der Atheist Albert Camus setzt auf das selbstständige und verantwortungsvolle Handeln des Menschen in der Gemeinschaft. Niemand nimmt ihm diese Entscheidung ab – ganz so, wie es Immanuel Kant als Leitspruch der Aufklärung formuliert hatte: »Sapere aude!« Wage, dich deines Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen zu bedienen!
So genannter Befehlsnotstand – wie damals bei den Nürnberger Prozessen und heute beim Demjanjuk-Prozess – galt für Camus nicht. Arno Widmann schreibt zu Recht in der Frankfurter Rundschau vom 9.1.2010:
»In Wahrheit haben sie abgewogen: Die eigene Karriere, das eigene Leben gegen das der anderen. Sie wissen das. Sie haben oft noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Der Andere, der dran glauben muss, sagen sie, hat es – aus den einen oder anderen Gründen – nicht anders verdient. Die Zynischsten erklären mit einem Achselzucken, sie selbst seien halt die besser Angepassten.
Der Zynismus, das lehrt niemand besser als Camus, ist die Flucht des Realisten vor der Wahrheit. Nicht der Wahrheit über die Lage – die begreift kaum jemand besser als der Zyniker – sondern die über sich selbst.«

Das Denken des Albert Camus ist also von höchster Aktualität. Der Mythos vom Sisyphos ist nicht tragisch, weil er bewusst ist, wie manche Interpreten uns glauben machen wollen, sondern es geht um nichts weniger als um das Handeln des Menschen im Alltag – ganz so, wie es später Roland Barthes in den Mythen des Alltags versteht. Camus fordert, dass der Einzelne sich niemals mit der Realität, also den so genannten Sachzwängen, abfindet und sie als unabänderlich beschreibt. Damit würde er, so Camus, lediglich sein fehlendes Engagement und seine Feigheit camouflieren. Ebenso aber geschähe es, wenn er sein Wollen der Gemeinschaft oder herrschenden Ideologien opferte. Eine menschenwürdige Zukunft, frei von Ausbeutung, Hungersnöten und Fremdbestimmung, ist, dem Dichter zufolge, nur durch die Revolte des Einzelnen zu erlangen: eine trotzige und zugleich lustvolle Selbstbehauptung, eine Entdeckung und Entwicklung neuer Konzepte und Denkwege statt Schulterschluss, Aufgabe des Denkens und Unterwerfung unter menschenverachtende Systeme. Nur in der zeitlosen und Epochen überdauernden Revolte gelinge die Wiederherstellung der menschlichen Würde, nicht durch das Nachbeten totalitärer Botschaften, sei es in der Kirche, in turbokapitalistischen Hauptquartieren oder Parteizentralen.

Camus würde, lebte er heute noch, die Proteste der Studierenden gegen ein verdummendes Bachelor-System, den Widerstand gegen eine globale Wirtschaftsordnung, die Hunger und Klimakatastrophen hervorbringt, oder die Forderung nach weltweiter Durchsetzung der Menschenrechte und Überwindung des Rassismus begrüßen. Er sah voraus, dass ohne das Verständnis eines gemeinsamen Schicksals der Menschheit unser Planet und die Solidarität unter den Menschen untergehen werden.



Anm. der Red.:
Bei dem Text handelt es sich um einen Vortrag, der am 2.4.2010 im privaten Rahmen in Wolfratshausen von Gert Mauss verlesen wurde. Thematischen Anlass gab die 50. Jährung des Todestages Camus´, der im Alter von 46 Jahren bei einem Autounfall südlich von Paris tödlich verunglückte.