von Perry Anderson
Unter den heutigen US-amerikanischen Journalisten ist Christopher Caldwell, um einen russischen Ausdruck zu gebrauchen, eine weiße Krähe. Nicht nur seine kulturelle Reichweite ist wahrscheinlich ohne Gleichen – mehr als nur flüssig in den großen europäischen Sprachen ist er auch mit dem vertraut, was in ihnen geschrieben wird. Aber auch in Bezug auf seine Intelligenz unterscheidet er sich von den meisten Reportern und Kommentatoren. Auch wenn sein Hintergrund literarisch ist, ist es ein philosophischer Zug seines Geistes, der seine Arbeiten von denen seines Gleichen unterscheidet. Was sein Interesse normalerweise findet, sind Dilemmata – begriffliche, moralische, soziale –, die in Standarddiskursen dominierender oder marginaler Tagesfragen entweder verdunkelt oder übergangen werden. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen sind fast immer, so oder so, beunruhigend und verstörend. Die Kolumnen dieses leitenden Redakteurs des Weekly Standard, dem Flaggschiff des US-amerikanischen Neokonservatismus, und seine Kolumnen in der Financial Times lassen einen Großteil der liberalen Meinungsmache als jenen eintönigen Einheitsbrei erkennen, der er auch zu häufig ist.
von Christoph Jünke
Rudi Dutschke, der am 7. März diesen Jahres gerade mal 70 Jahre alt geworden wäre und doch schon seit 30 Jahren tot ist, gilt als Aktivist, als Praktiker der Revolte, seine Theorie dagegen als wenig systematisch, als eklektizistisch gar. Entsprechend beschäftigt man sich zumeist mit der Person und hält dessen Ideen für vernachlässigbar. Doch ob als existentialistisch beeinflusster Student im Berlin der beginnenden 1960er Jahre oder als antiautoritärer, revolutionär-sozialistischer Agitator des SDS und der APO, ob als aufrechter Einzelkämpfer im dänischen Exil Mitte oder als grün-alternativer Stratege am Ende der 1970er Jahre, immer ging es Dutschke mit der Erneuerung radikal-sozialistischer Politik auch um die Erneuerung ihrer theoretischen Grundlagen, denn eine »tiefe Auseinandersetzung mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart kann und darf«, wie er 1968 schrieb, »nicht von den bisherigen Resultaten der revolutionären Theorie abstrahieren«.
139 plus minus eins
von Christoph Jünke
Es gibt nur wenige Fragen, die die menschliche Vorstellungskraft in solche Höhen und Tiefen zu treiben vermögen wie die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und doch stellt sie sich als ewige, als zutiefst menschliche Frage realiter nicht jeden Tag. Im Alltagstrott nicht sehr beliebt, drängt sie sich in den Zeiten individueller wie kollektiver Krisen, in Zeiten des individuellen wie kollektiven Bruchs und Überganges geradezu auf. Ob individuell oder kollektiv, ob in der Pubertät, der Midlife-Krise, vor dem Lebensabschluss oder in Zeiten passiver wie aktiver revolutionärer Gesellschaftstransformationen: »Die große Sinnfrage taucht meist in Zeiten auf, in denen bislang als gesichert geltende Rollen, Überzeugungen und Konventionen in eine Krise geraten.«
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