von Lutz Götze
Nun hat es auch die Hochschulrektorenkonferenz begriffen: Die 1998 vollmundig ins Werk gesetzte »größte Studienreform seit Jahrzehnten« ist in wesentlichen Punkten gescheitert: Die erhoffte größere Flexibilität der Studenten hat nicht stattgefunden, die Vergleichbarkeit der Studienleistungen im europäischen Raum ist nicht erreicht, der frühe Abschluss durch ein Bachelor-Examen ist ein Rohrkrepierer.
Die universitäre Wirklichkeit ist bitter: Unmengen von Prüfungen, Verschulung, Nivellierung von Wissen, obendrein deutlich vermehrtes Betrügen bei Prüfungen bis hin zu Plagiaten bei Examensarbeiten. Die Liste der skandalösen Fehlentwicklungen ließe sich beliebig fortsetzen. Vor allem eines aber wird, auch durch die Untersuchung des Bayreuther Kollegen Gerhard Wolf, deutlich: Die in Massen an die Universitäten strömende junge Generation ist zu überwiegenden Teilen nicht studierfähig, verfügt über ein beklagenswert geringes Wissen, kennt keine Techniken des Studierens, kann auch einfache Texte nicht mehr exakt wiedergeben, versagt bei Grundrechenarten. Mit einem Wort: Die allgemeine Verblödung schreitet voran; Bildung wird zur berufsbezogenen Ausbildung reduziert. Praxisnahe Ausbildung aber ist seit langem das Geschäft der Fachhochschulen und das haben sie im Regelfall hervorragend gemacht. Jetzt nennen sie sich University of Applied Sciences, streben das Promotionsrecht an und wollen mit den Universitäten auf eine Stufe gestellt werden. Das ist ein Unding.
Aufgabe der Universitäten ist seit Wilhelm von Humboldts Studienreform von 1810 vor allem fünferlei:
- Vermittlung von Bildung im weitesten Sinne, also die Entwicklung zum Menschen
- Entwicklung der jungen Menschen zu kritischen und verantwortungsbewussten Individuen
- Einheit von Forschung und Lehre
- Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden
- Geistige und materielle Freiheit der Lehrenden.
Die Bologna-Reform hat alle diese Ziele in ihr Gegenteil verkehrt: Von einer humanistischen Bildung im weitesten Sinne kann nicht mehr entfernt die Rede sein; sie ist zur Ausbildung, also dem Einüben in technisch-organisatorische Abläufe, reduziert worden.
Kritische und verantwortungsbewusst handelnde junge Menschen werden in diesem ›Studium‹ nicht hervorgebracht, dessen wesentliche Inhalte auswendig gelernt, bei allfälligen Prüfungen vorgeführt und danach wieder vergessen werden. Auf diese Weise werden Absolventen produziert, aber keine verantwortlich handelnden Persönlichkeiten: »ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können«, wie es Bertolt Brecht einst formulierte. Kurioserweise prangert diesen Missstand nun gerade die Wirtschaft an, die mit ›Turbostudenten‹ wenig anzufangen weiß.
Die Einheit von Forschung und Lehre war auch schon vor der Reform häufig nichts als ein frommer Wunsch; sie ist nach der Reform endgültig abgeschafft. Ruhm und Anerkennung erhalten Professoren in der Forschung; die ›Exzellenzinitiative‹ bewertet Forschungsleistungen und nichts sonst. Die Lehre ist für viele meiner Berufskollegen auch deshalb ein lästiges Übel. Versuche, dies zu ändern, sind samt und sonders gescheitert.
Die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden zum Zwecke des Erkenntnisgewinns ist in einer Universität, die im Schnellzugtempo Studenten zum Abschluss führen soll, eine realitätsferne Vorstellung. Die Wahrheit ist vielmehr: Der Professor gibt die Inhalte vor, die Studierenden repetieren sie, die Hierarchie ist stabiler denn je.
Von der geistigen und materiellen Freiheit der Lehrenden ist heute weniger denn zuvor zu spüren. Wirtschaft und Staat bestimmen über Universitätsräte und Stiftungsprofessuren wesentlich die Inhalte des Studiums; die neuen Formen der Besoldung schaffen nicht, wie versprochen und erhofft, eine leistungsgerechte Bezahlung, sondern vertiefen die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, weil erstere sich besser vermarkten bei individuellen Verhandlungen mit der Universität. Der Gedanke der Universität als eines Organs der umfassenden Bildung auf allen Gebieten und der Wertevermittlung gerät zunehmend aus dem Blickfeld.
Doch die Kritik ist wohlfeil, wenn sie einzig die Universität und ihre eklatanten Mängel als Folge der Fehlentscheidungen europäischer Bildungsbürokraten in das Zentrum der Diskussion rückt. Die Universität anno 2012 ist nichts als das Spiegelbild einer Gesellschaft, die in ihrer großen Mehrheit genau dieses System will: Es soll schnell gehen; alles soll messbar sein; Titel, nicht Ausbildungsqualitäten, sind vorrangig; Inhalte und Werte, die im Weg stehen, werden kurzerhand über Bord geworfen. Die Universität ist heute im Kern nichts anderes als ein Wirtschaftsunternehmen, das mit möglichst wenig Kapital in kurzer Zeit enormen Mehrwert erwirtschaften soll. Studieninhalte, die diese Ziele nicht verwirklichen, stören und werden konsequenterweise geschleift. Das betrifft in Sonderheit jene um Deutung von Wissen und Normen bemühten Geisteswissenschaften, die allenfalls noch geeignet sind, neuartige Kulturtechniken wie Mediennutzung zu vermitteln, aber nicht mehr gebraucht werden, um ein wenig mehr als Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens, des Verstehens von Texten zu lehren. Heute strömen junge Leute an die Universität, die nicht mehr wissen, wer Die Räuber geschrieben hat, von der Grammatik der deutschen Sprache keine Ahnung haben und Hamlet für einen Verrückten halten. Das haben sie einem Elternhaus und einer Schule zu verdanken, die sich darüber streiten, ob sechs Stunden Facebook oder das Versenden von SMS zu viel oder zu wenig, nützlich oder schädlich, für ihre Kinder seien, es aber verabsäumen, den Schützlingen die für das Leben notwendige Allgemeinbildung beizubringen.
Die Universitäten versuchen jetzt, mit Notprogrammen, wie in Würzburg, die Gymnasiasten, die ihr geringes Wissen mit Bestnoten beim Abitur vergoldet bekamen, halbwegs für ein Studium fit zu machen. Ein Studium freilich, das, mit sechs Semestern Bachelor-Ausbildung, seinen Namen nicht verdient. Masterplätze sind, unverändert, rar.
Die Universität gibt im übrigen der Gesellschaft, was diese wünscht:Titel! Eine Gesellschaft, die den Promovierten noch immer für den besseren Menschen als einen ordentlichen Handwerker oder Facharbeiter hält, soll sich nicht wundern über die Unzahl der Betrügereien und Plagiate. Die causa Guttenberg ist nichts als die Spitze des Eisbergs, wie jeder Kenner der Hochschulen weiß. Eine Gesellschaft, die Steuerhinterziehung und Bankpleiten noch immer für ein Kavaliersdelikt hält, soll sich, bitte sehr, nicht aufregen, wenn die nachwachsende Generation mangels eigener Fähigkeiten ihr Heil im geistigen Diebstahl sucht: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, wiederum von Brecht!
Da aber wenig Hoffnung besteht, dass dieser Jahrmarkt der Eitelkeit, den einst William Thackeray persiflierte, bald der Vergangenheit angehören wird, wird auch die Universität, allen neuerlichen Reformbemühungen zum Trotz, ihren fatalen Weg fortsetzen: zum Nachteil für einen Kontinent wie Europa, der der Welt im Grunde nichts außer seiner enormen geistigen Potenz und seinem aufklärerischen Wertesystem geschenkt hat.