von Lutz Götze
Der Rücktritt Christian Wulffs vom Amt des Bundespräsidenten hat, jenseits aller hochnotpeinlichen Vorteilsannahmen und -gewährung, vor allem eines deutlich gemacht: Hier ist ein Repräsentant einer ganzen Generation von Politikern dramatisch gescheitert.
Wulff steht keineswegs nur vor dem Scherbenhaufen der eigenen politischen Karriere, sondern in seiner Person ist ein Typus von Angehörigen der sogenannten politischen Klasse abgetreten, die charakterisiert ist durch ein nahezu vollständiges Fehlen politischer Konzepte oder Visionen. Anders ausgedrückt: einer Generation, die das Nachdenken über Zukunftsfragen an die Finanzmärkte abgetreten hat und stattdessen ihr wesentliches Ziel in der Absicherung ihrer materiellen Vorteile durch das politische Amt gesehen hat und sieht.
Charakteristischerweise ist Wulff genau in jenem Moment abgetreten, als ihm sicher schien, dass seine finanzielle Absicherung nach dem Ausscheiden aus dem Amt garantiert war. Deshalb sprach er in seiner Rücktrittserklärung von dem politischen Auftrag, dem er zukünftig nicht mehr, nach außen und innen, gerecht werden könne. Er erfüllte damit, seiner Meinung nach, eines der drei Kriterien, die das Grundgesetz für die Zahlung der Bezüge nach Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten vorsieht: Beendigung der Tätigkeit nach Ablauf der Amtsperiode, Krankheit oder politische Gründe. Hätte er lediglich persönliche Gründe angeführt, wären seine zukünftigen Bezüge gefährdet gewesen. Ein Ex-Bundespräsident also, der selbst in der Stunde seines Scheiterns taktiert!
Wulff befindet sich damit in schlechter Gesellschaft zahlreicher anderer Politiker seiner Generation: Roland Koch, Ole van Beust, Peter Müller, Friedrich Merz und andere verließen ihr Amt aus rein persönlichen Gründen lange vor der Zeit. Sie hatten schlicht keine Lust mehr, waren ideen- und kraftlos oder dachten an deutlich bessere Verdienste in Wirtschaft und Industrie. Frank Schirrmacher nennt sie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Babyboomer-Generation und charakterisiert sie so: »Ihre Skepsis gegenüber Ideologien war wohltuend, aber nur, solange man nicht bemerkte, dass dahinter die Abwesenheit von Ideen überhaupt stand. Ihr Fehler war zu glauben, dass Märkte auch schon Ideen sind« (FAS, 19.2.12, 21).
Die Generation der zwischen 1955 und 1968/75 Geborenen ist in ihrer Mehrzahl jene, die als einzige politische Maxime - das häufig gebrauchte Wort Philosophie verbietet sich ob der Trivialität des Gemeinten - den Neoliberalismus, also das sogenannte Freisetzen der chaotisch-zerstörerischen Marktkräfte um nahezu jeden Preis, zur vollen Entfaltung gebracht hat. Freilich hat sie nicht einmal diese Strategie selbst kreiert, sondern ererbt von der Chicago-Schule um Friedrich August von Hayek, von Margaret Thatcher und Gerhard Schröder. Grenzenlose Wachstumseuphorien, hemmungslose Spekulationen auf den Untergang keineswegs nur von Industrieunternehmen, sondern ganzer Staaten, Abbau auch der geringsten Sozialabsicherungen der Schwachen und eklatantes Auseinanderklaffen von Arm und Reich: Dies sind seither die global zu beobachtenden Zerstörungen. Wir brauchen nicht mehr nach Somalia oder Haiti zu schauen: Griechenland liegt vor der Haustür. Was sich dort derzeit abspielt, ist die Verwandlung eines einstmals souveränen Landes in eine Kolonie des internationalen Monopolkapitals. Gewiss: Griechenland hat schwere haushaltspolitische Fehler in der Vergangenheit begangen. Heute aber wird das Land, statt dort arbeitsplatzschaffende Investitionen zu tätigen, von Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank auf Entwicklungshilfeniveau zusammengespart - und die wirklich Schuldigen in Wirtschaft und Politik werden geschont. Bis heute gibt es in Griechenland keine Steuerverwaltung, die den Namen verdient, weil dann die Betrüger von damals und jetzt gefasst werden könnten. Ein Hilfsangebot der deutschen Steuerbehörden hat Athen bis heute abgelehnt!
Häufig wird nun in der öffentlichen Diskussion die Hoffnung geäußert, dass das politische Projekt dieser Generation zwar gescheitert sei, es hingegen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur brillante Köpfe gebe, die eben dieser Generation angehörten. Der Schluss liege daher nahe, dass sich diese Eliten lediglich der öffentlichen Verantwortung entzögen, es aber keineswegs grundsätzlich an Talenten gebreche. Das freilich stimmt auch nur bedingt: In den Wissenschaften gewinnen, gefördert durch ein Niveau absenkendes und überbürokratisiertes Bachelor- und Master-Studium der Massenbewältigung, Mittelmaß und Schnellstudium zunehmend die Oberhand, werden individuelle Kreativität und Eliteforschung auf immer weniger Begabte reduziert, zumeist außerhalb der Universitäten. Viele brillante Köpfe scheitern dergestalt; die Abwanderung an ausländische Hochschulen wächst.
In den Künsten, zumal auf dem Theater, nimmt der Hang zu Dekonstruktion und oberflächlicher Heiterkeit bei gleichzeitiger radikaler Verkürzung zu: Texte von Euripides, Shakespeare oder Kleist stellen lediglich eine Materialgrundlage für eigene ›Selbstverwirklichungen‹ von Regisseuren wie Armin Petras dar, der gerade Henrik Ibsens John Gabriel Borkman in den Münchner Kammerspielen verblödelt hat. Anhänger textgetreuer Inszenierungen wie Peter Stein oder der gerade verstorbene Thomas Langhoff gelten bei Kritikern und Juroren als unzeitgemäß und hoffnungslos rückwärtsgewandt. Den Protagonisten des neuen Tuns gelten Ideen und Konzepte grundsätzlich als verdächtig und sind daher konsequent zu beseitigen. Dabei spielt das Totschlagsargument der Quote hier, anders als bei Rundfunk-und Fernsehanstalten oder Zeitungen, eine eher geringe Rolle.
Nein, man kann es drehen und wenden, wie man will: Der beschriebenen Generation insgesamt sind die Mühen geistiger Anstrengung und das Verlangen, die Dinge im Sinne Hegels auf den Begriff zu bringen, suspekt. Sie hat sich, anders als ihre Vorgänger, auch nie ernsthaft mühen müssen, um ihre Lifestyle-Ziele durchzusetzen: Ihre Vätergeneration, die 68-er, hatte sich an der Kriegsgeneration abgearbeitet und erschöpft; die Kinder sollten daher antiautoritär und selbstbestimmt aufwachsen, Vorurteile und Grenzziehungen der Vergangenheit angehören. Den meisten Kindergärten und Schulen aber entwuchsen Sprösslinge, die alles andere als solidarisch und verantwortungsbewusst handelten, sondern egoistisch, hedonistisch und konsumbestimmt. Anspruchsdenken und eigene Leistung standen und stehen einander in häufig diametralem Gegensatz gegenüber. Jedem das gleiche, aber mir das meiste, lautet der Wahlspruch dieser Antiaufklärung. Gelingt nicht seine schnelle Verwirklichung, tritt Erschöpfung vor der Zeit ein. Die Gegenwart ist, nicht nur im Falle Wulff, voll davon.
Das eigentliche Dilemma aber ist nicht das persönliche Versagen Einzelner, sondern die gesellschaftliche Dimension. Ingo Schulze hat dankenswerterweise auf die damit verbundenen antidemokratischen Verfallstendenzen hingewiesen: »Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (....), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (......) Die Intellektuellen schweigen.« (Süddeutsche Zeitung, 12.1.12, 11)
Denn das ist das Übel: Es fehlt an breiter demokratischer Mitgestaltung und Verantwortung für das Gemeinwohl. Die herrschende Generation bietet den Jungen im Grunde nur Negativbeispiele, keineswegs aber Vorbilder, an denen sich die Nachwachsenden orientieren und zu denen sie aufblicken können. Dabei brauchen sie es, dringender denn je. Die Demonstrationen in Dresden gegen Rechts haben bewiesen, dass unter der jungen Generation das Engagement für Demokratie und Rechtsstaat lebt. Die Jungen brauchen, neben Personen, vor allem inhaltliche Orientierung, also Ideen und Visionen, auch Utopien. Altkanzler Schmidt war schlecht beraten, als er denen, die Visionen einforderten, den Gang zum Psychiater empfahl. Denn eine Gesellschaft, die nicht über den Tag hinausdenkt und Zukunft entwirft, wird in die Vergangenheit zurückgeworfen. Deshalb sind Zukunftsentwürfe und philosophische Debatten darüber lebensnotwendig.