von Ulrich Schödlbauer

11. Ein Stück Nachkriegsgeschichte

Wenn die ›Beziehung‹ soziales Kapital verspricht oder ›darstellt‹, dann sollte die Frage nach der deformierenden Gewalt, die dem Begriff als einem gesellschaftlichen Universale innewohnt, nicht nur den Minimalismus als den Mechanismus des Unsichtbarmachens der zentralen Aspekte der Fortpflanzung, der Weitergabe familiärer und kultureller Informationen im als ›eigen‹ wahrgenommenen Nahbereich umfassen, sondern auch den Begriff des sozialen Kapitals, wie er in dieser Anwendung erscheint. Dass der simple Gedanke der Beziehung (Relation) zweier Gesellschaftsglieder ein Erwerbsverhältnis impliziert, gehört nicht von vornherein zur Sache, es reflektiert die dritte Seite im Spiel. Die Annahme, dass einige Beziehungen sozial wertvoller sind als andere, verschiebt das sexuelle Spiel in den Bereich von Einfluss, Karriere und Macht. Das wollen viele, dennoch fällt der Begriff der ›Geschlechterbeziehung‹ in ein abweichendes Register. Hier geht es primär um die biologische und kulturelle Matrix, der die Einzelperson nicht entkommt und die durch Gesinnungen und Lebensentscheidungen weder modifiziert noch aufgehoben werden kann. Die Formel ›eine Beziehung haben‹ fällt in den Bereich zweideutig-eindeutiger und damit sexuell konnotierter Rede. Sie der herkömmlichen Mannigfaltigkeit von Ausdrücken für sämtliche Spielarten der Teilhabe am Geschlechterverhältnis zu substituieren, erscheint verheißungsvoll im Zusammenhang mit öffentlicher Urteilsabstinenz und dem Rückzug gesellschaftlicher Autoritäten aus einem als intim ausgegrenzten und tendenziell sanktionsfrei erklärten Raum individueller ›Entfaltung‹. Vielleicht hat es diesen Moment in der Geschichte der westlichen Gesellschaften einmal gegeben. Plausibler erscheint es, die Deutung dem schon erwähnten rückwärts-vorwärtsgewandten Mantra zuzurechnen.

Das seine Lebensform frei wählende Individuum gerät von zwei Seiten unter Druck: durch die in gewissen Aspekten unausgesprochen bleibenden, aber wirksamen Wünsche des ›Partners‹ oder der ›Partnerin‹ und durch die ökonomisch-rechtliche Situation, die sich nach einer gewissen Übergangsphase auf die neuen Gegebenheiten der Wahl einstellt, sobald sie statistisch relevant werden. Die Umformung der Rechtsverhältnisse unter Rubriken wie Gleichbehandlung, Trennung, Versorgung, Eltern- und Kindesrechte läuft in ihrer Gesamtheit zwangsläufig auf eine effiziente staatliche Bewirtschaftung der ›neuen‹ Lebensformen und damit auf einen Vergesellschaftungsschub hinaus, in dem die ›Familie‹ zwar weiterhin mit materiellen Zuwendungen seitens des Staates rechnen kann, aber als gesellschaftliche Größe sui generis aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Selbstverständlich wird weiterhin für sie geworben, doch schon die Art, in der dies geschieht, zeigt an, dass ihre Glanzzeit vorüber ist und attraktivere Angebote den Markt beherrschen. Die administrative Moderne folgt der ›gefühlten‹ nach: die Unsichtbarmachung der Bedingungen, unter denen Menschen Kinder in die Welt setzen, und die Verrechtlichung des Kinderhabens (mit allen teils realen, teils eingebildeten Vorteilen für die jungen Menschen) wirken in die gleiche Richtung.

Dass eine konsequent das ›Projekt Moderne‹ verfolgende Gesellschaft, die sich ihrer Herkunft kaum anders als in Abwehr und Abscheu erinnert, hier größere Hürden als andere aufbaut, die ein entspannteres Verhältnis zum Herkommen pflegen, wirkt plausibel. Dummerweise bleibt in ihr die durchgestrichene Vergangenheit zweifach präsent: als bereits vorausgegangene Schwächung der relativen Autonomie familiärer Strukturen während der faschistischen Periode und als durchgestrichene, soll heißen als Dauerdisput zweier zum Irrealisieren neigender Fraktionen innerhalb der Gesellschaft, der die kontroversen Positionen über lange Zeiträume konserviert. Hinzu treten weitere, nicht minder wirksame Faktoren. Heute hegt man kaum noch Zweifel darüber, dass viele der in den sechziger und siebziger Jahren als ›patriarchalisch‹ wahrgenommenen und bekämpften Eigentümlichkeiten der Nachkriegsfamilie als pathologische Kriegsfolgen zu bewerten sind und eher einer psychotherapeutischen Behandlung bedurft hätten. Die Identifikation der Jüngeren zunächst mit den Siegern, dann mit den Opfern des nationalsozialistischen Gewaltregimes, das im väterlichen Regiment ein schattenhaftes Nachleben zu führen schien, gehört zur Delegitimationsgeschichte des familiären Herkommens. Der Auszug einer Generation aus einer als unerträglich empfundenen oder interpretierten Zwangsveranstaltung ›Familie‹ vollzog sich unter Voraussetzungen, die aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte zu guten Teilen als falsch oder schief angesehen werden können. Auch die zunächst selbstverständliche, später gesellschaftlich missliebige und schließlich weitgehend aus dem allgemeinen Bewusstsein entfernte Tatsache, dass die Mehrheit der Angehörigen der Kriegsgeneration(en) das Ende des Zweiten Weltkriegs primär als Niederlage und erst sekundär – und in geringerem Maße – als Befreiung wahrgenommen hatte, konnte zur Diskreditierung des Familienmodells beitragen, weil sie zu den Auslösern der ›Sprachlosigkeit‹ zwischen den Generationen gehörte und die Attraktivität dieser Form des Zusammenlebens minderte.

Sicher ist, dass einige signifikante Unterschiede der demographischen Entwicklung in den ökonomisch und gesellschaftspolitisch weitgehend kongruenten westeuropäischen Gesellschaften den durch Nationalsozialismus, Faschismus, Krieg und Niederlage/Befreiung vorgegebenen Bruchlinien folgen. In den neuen Bundesländern, den mittel- und osteuropäischen Staaten und Russland hat der Untergang des sowjetischen Systems eine demographische Situation entstehen lassen, die analoge Züge trägt und allein anhand der ökonomischen Daten wohl ebenfalls nicht schlüssig zu beurteilen ist. Auch hier verlangt das psychologische Drama der erlittenen Niederlage führender Schichten und ihrer unterschiedlichen Interpretation im Namen der Freiheit, wie es sich in der Abfolge vieler Wahlergebnisse spiegelt, nach Aufmerksamkeit. Die Wertentscheidungen und Verhaltensparameter der Konsum- und Freizeitgesellschaft allein erlauben jedenfalls keine sicheren, schon gar keine hinreichenden Erklärungen außer dem Hinweis auf eine mit allgemeinem Wohlleben, Alterssicherheit und ›aktiv gestalteter‹ Freizeit einhergehende Tendenz zu geringeren Kinderzahlen. Die weltweit gültige Formel verdeckt die äußerst unterschiedlichen Interpretationen, die Gesellschaften bereitstellen, wenn es darum geht, ökonomische und kulturelle Trends zu inkorporieren. Diese Interpretationen, die tief in das Institutionen- und Handlungsgefüge hineinwirken, in dem sie verankert sein müssen, um wirksam werden zu können, gehören zu den kulturellen Fakten, die eine Gesellschaft produziert und deren Eigenart man nur eingeschränkt zur Kenntnis nimmt, solange man sie ausschließlich an Effizienzparametern misst.

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