Medienanalyse und Wahlverhalten

Um noch einmal auf die Zeit zurückzukommen, fand sich auch in einem solchen Qualitätsmedium ein pauschalierender Beitragstitel: »Bloß keine Kritik! Fast alle Qualitätsmedien schwangen sich in der Flüchtlingskrise zu einseitigen gesellschaftspolitischen Akteuren auf. Das vergiftete die Debatten enorm.« Zum Beleg wird betreffs argumentationsrelevanter Printmedien behauptet, es verschafften »mit Ausnahme der Faz und einiger Welt-Artikel, auch große Teile der Qualitätspresse ... der Regierungspolitik Performanz – anfangs auch die Zeit« (Zeit Online v. 5.3.2016 – Thomas E. Schmidt). Dieser Eindruck hält empirischer Prüfung so nicht stand, wie jedenfalls die Ergebnisse einer medienwissenschaftlichen Analyse auf Basis der in Webreaktionen meistbeachteten Artikel belegen (Süddeutsche.de v. 3.3.2016 – Simon Hurtz, »Wie sich die deutsche Willkommenskultur in Ablehnung verwandelte«): »Jeweils 14 positive Berichte kommen von Spiegel Online (zusätzlich fünf negative), Huffington Post (vier negative) und dem Postillon (null negative), auch bei Zeit Online, Stern und Süddeutscher Zeitung überwiegen die Texte, die Flüchtlingen wohlgesonnen sind. Nur beim Tagesspiegel ist das Verhältnis ausgewogen, wenn auch bei einer geringen Fallzahl (zweimal positiv, zweimal negativ).« Hingegen befassten sich in meistbeachteten Texten bei »Focus Online ... 50 mit dem Thema Flüchtlinge – und 48 haben einen negativen Tonfall. Mit großem Abstand folgen die rechtspopulistischen Deutschen Wirtschafts-Nachrichten (14 negative Artikel), die Welt (13 negative, zwei positive Artikel) und die rechtskonservative bis rechtsextreme Junge Freiheit (zehn negative Artikel).« Unter den Leitmedien fehlt hier die Faz; sie wurde freilich vom Zeit-Autor mit Recht als klar flüchtlings- und regierungskritisch (aus konservativer und wirtschaftsliberaler Sicht) bereits ausgenommen.

Die Welt ist also nicht mit ›einigen Artikeln‹, sondern überwiegend auf ähnlicher Linie wie die Faz. Demgegenüber ist unter den breites Publikum erreichenden Online-Magazinen nicht nur im Spiegel ein Negativanteil von immerhin 26 Prozent auch für etwaige gegenläufige Meinungsbildung hinreichend; sondern es ist auch eine wohl kaum irgendwo so massiv vermutete Dominanz des politisch auf Faz/Welt-Linie liegenden Focus mit kampagnenartigen 96 Prozent an Negativberichterstattung zu verzeichnen. Ein anderer Zeit-Redakteur hat gewissermaßen im Selbstversuch erfahren, wie die Dauerbeschickung mit immergleicher tendenziöser Nachrichtenauswahl im Web buchstäblich zum Gefangensein in einer informationellen Parallelwelt führen kann (Die Zeit v. 10.3.2016, S. 13 f. – Malte Henk, »Wie ich auszog, die AfD zu verstehen«) – jenseits der Realwelt, in welcher die allermeisten Mitmenschen gar nicht persönlich von einer ›Flüchtlingskrise‹ betroffen sind. Eine Negativstimmung erzeugen auch eine bestimmte Antwort suggerierende Fragestellungen wie diese von Anfang Februar: »Ich habe den Eindruck, dass die Regierung die Flüchtlingssituation in unserem Land im Griff hat.« Das verneinen erwartungsgemäß 81 Prozent, aber genauso ›gut‹ hätte man fragen können, ob die Regierung die internationale Finanzwelt oder das Internet inkl. NSA-Aktivitäten ›im Griff‹ habe, was jeweils nicht in der realen Macht einer nationalen Regierung liegt. So wirken teilweise auch vermeintlich einseitig migrationsfreundliche öffentlich-rechtliche Sender, hier im gemeinsamen Auftrag von Ard-Tagesthemen und der Tageszeitung Die Welt, an einer Berichterstattung mit, die solche Zahlen vorrangig erwähnt und nur intensiver Lesenden auch Gegenläufiges kundig macht: Gleichzeitig sprachen sich nämlich mehr Befragte gegen als für eine Beschränkung des Familiennachzugs aus, noch ganz abgesehen von einer Dreiviertelmehrheit zugunsten der Aufnahme politisch und religiös Verfolgter und immer noch nahezu Einstimmigkeit (94 Prozent) bei den vor Krieg und Bürgerkrieg Flüchtenden (Infratest Dimap, ARD-Deutschlandtrend, Februar 2016, S. 6 f.; als Beispiel eines Berichts: Spiegel Online v. 3.2.2016 – »Mehrheit der Deutschen unzufrieden mit der Bundesregierung«).

Als nur meinungsstark aber wirklichkeitsfern erwies sich die Warnung in der Faz vor besonderen Stimmenverlusten der CDU bei Älteren: »Jede Veränderung im Wahlverhalten der Senioren wirkt sich demnach auf die CDU stärker aus als auf alle anderen Parteien. Die AfD wird sich diese Chance nicht entgehen lassen und ganz auf das Flüchtlingsthema setzen« (Faz.net v. 24.1.2016 – Daniel Deckers, »Auf der Überholspur«). Letzteres geschah und die Zuwanderungsoffenheit der Älteren hält sich wohl in Grenzen, aber im Wahlverhalten (gemäß www.infratest-dimap.de) schlägt sich das nicht nieder: In Baden-Württemberg wurden relativ bescheidene 8 Prozent AfD-Anteil der ab 70jährigen gerade in den Altersgruppen 25–44 mehr als doppelt übertroffen (17–18 Prozent). Genau dieses traf auf etwas niedrigerem Niveau auch in Rheinland-Pfalz zu (6 Prozent ab 70, doch 16 Prozent im Alter zwischen 25 und 44) und etwa verdoppelt in Sachsen-Anhalt (14 Prozent ab 70, aber 28 Prozent von 25 bis 44). Dabei ist ein stets anderthalbfacher männlicher Stimmenanteil der AfD gegenüber dem weiblichen zu berücksichtigen. Hinzu kommt der Befund, dass mit deutlichem Abstand (anderthalbfach bis doppelt überrepräsentiert) Arbeiter und Arbeitslose die AfD wählten. Es dürfte sich also um eine ökonomisch-mentale Gemengelage der Unzufriedenheit handeln, die sich mit dem Flüchtlingsthema bündeln ließ und wohl zugleich auf eine besondere Generationserfahrung verweist: Während ältere Arbeiter überwiegend noch (objektiv und subjektiv) ihren respektierten Platz in der Gesellschaft fanden, galt das nicht mehr für schon in frühen Berufsjahren prekärere Existenzen im neuen Zeitalter der ›Globalisierungsverlierer‹. Die neuen und zusätzlichen AfD-Wählerschwerpunkte sind in vorausgegangenen Erhebungen so nicht erkennbar: Es waren zuvor eher insgesamt Männer der Alterskohorte 30–59 und darunter aber besonders die 45–59jährigen (https://www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AP20_AFD.pdf, S. 21 u. 31). Das wird mit der Themenverlagerung der AfD-Kampagnen zusammenhängen; die Anti-Euro-Stimmung erfasste mehr die älteren mittleren Jahrgänge, das Flüchtlingsthema die jüngeren. Bei den Senioren gibt es hingegen noch stärkere Parteibindungen aus früheren Jahrzehnten hoher Wahlbeteiligung.