von Omar Akbar

 Unter Kultur wird in der Regel jegliches subsumiert was eine Gesellschaft charakterisiert. Sie durchdringt alle Ebenen der Gesellschaft. Dies beinhaltet den Rollenkodex für Frau und Mann, religiöse Riten bis hin zur Essenszubereitung oder die Bedeutung von Kunst, Literatur und Kritik.

Zugleich ist Kultur ein gesellschaftlicher Bereich, der sich aus überregionalen Überschneidungen zusammensetzen kann. Dies kann konsensbildend sein, aber auch ein Terrain, welches unüberbrückbare Differenzen beinhaltet.

Der Glaube, dass Kultur eine friedliche Begegnung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und Religionen ermögliche, erweist sich mehr und mehr als ein Irrtum. Sie genügt eben nicht als Grundlage, um gesellschaftlich bedingte Grenzen zu überwinden. Insbesondere bei Gesellschaften, die von extremen ideologischen oder religiösen Prinzipien geprägt werden und die Kritik nicht als eine konstituierende Größe gesellschaftlicher Entwicklung annehmen.

Europa hat im Verlauf seiner Geschichte – diese schließt die Überwindung religiöser Dogmen und Diktaturen ein – einen besonderen Umgang mit Differenzen und Streitfragen entwickelt. Es ist selbstverständlich, dass man mit bestimmten Differenzen leben muss. Sie müssen ausgehalten und zugleich nach den Regeln der Konfliktbearbeitung behandelt werden. Diese Bereitschaft zu Kompromissen und zum Aushalten von Spannungen ist keineswegs eine Schwäche, sie ist im Gegenteil eine große Fähigkeit und Stärke.

Das Bemühen um eine Integration des Fremden hat erheblich zum kulturellen Reichtum der europäischen Gesellschaft beigetragen. Auch ihren Individualismus hat sie in einer langwierigen Rebellion gegen genealogische Ordnungen und tradierte Verhaltensnormen errungen. Individualismus ermöglicht und erzwingt eben auch ein Leben in relativer Unabhängigkeit von festen Ordnungen und betont die Bedeutung des irdischen Lebens gegenüber jedem höheren gemeinschaftlichen Rahmen. Diese tendenzielle und prinzipielle Offenheit, die alle Bindungen in Frage zu stellen vermag, ist Segen und Fluch zugleich.

Demokratie und Vielfalt sind heute konstituierende Werte in vielen Ländern der westlichen Welt, in denen sich Prozesse nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig-kulturell realisiert haben. Gleichwohl ist mit der europäischen Idee auch die gewaltsame Unterdrückung und grausame Kolonisierung anderer Zivilisationen verbunden. Es gibt viele Beispiele für Menschenverachtung, Menschenrechtsverletzungen und Kriege, durch die grundlegende Werte der europäischen Kultur verraten wurden und werden.

Dennoch sind diese kulturellen Werte in keinster Weise aufgehoben, denn den aufgeklärten, säkularen Gesellschaften ist die Kritik als Korrektiv inhärent.

In Bezug auf Freiheit, Demokratie und Offenheit gibt es deshalb heute so etwas wie einen Grundkonsens, der aber immer wieder gefährdet und in Frage gestellt wird. Es bleibt ein ständiges Ringen und Streiten darüber, was Toleranz und Respekt bedeuten und verlangen – gerade auch in Bereichen der Künste, wie in der Literatur, der Malerei, der Musik und im Film.

Ein wertvolles Ergebnis unserer Kulturgeschichte ist es, Literatur und Kunst als ein Medium individueller Selbstbestimmung und Selbstvergewisserung anzusehen – ein Prozess, der in der europäischen Renaissance begann. Mehr und mehr begriffen sich die Menschen als Ich-Wesen und die Literaten und Künstler emanzipierten sich zunehmend von der Religion. Seither verhandeln die Künste mit wachsender Freiheit die Auseinandersetzung mit den Grundfragen menschlicher Existenz. Die Wertschätzung und die Freiheit Literatur und Kunst zu erfahren, sind demnach klare Manifestationen einer Gesellschaft, die das freie und verantwortliche Individuum als Ideal in den Mittelpunkt stellt.

Das Leben, das sich keinem von einem höheren Wesen vorbestimmten Schicksal unterordnen muss, fordert dazu heraus, die Chancen, die es gibt, zu nutzen. Es fördert die Neugier auf das Nächstmögliche, das Lernen und Experimentieren. Nirgendwo wird dieses Ideal des Menschenbildes so deutlich verkörpert und zugleich in seiner Ambivalenz vermittelt wie in der Kunst und der Literatur.

Kunst und Literatur stehen für das Geheimnisvolle, das nie vollständig bestimmbar sein wird. Sie können sich sogar einer Definition verweigern, um ein Mysterium zu bleiben. Sie können dem Paradoxen und dem Außergewöhnlichen Raum geben. Außergewöhnlich auch in dem Sinne, dass es möglich ist Tabus und Normen zu thematisieren und Grenzen zu überschreiten.

Sie verkörpern somit wesentlich die eigentliche Utopie des Individualismus und die Utopien von Kreativität und Gestaltungskraft. Sie können ein Bild des Menschen als eines freien und selbst bestimmten Wesens entwerfen. Sie versprechen Zutrauen in das Individuum.

Somit können Kunst und Literatur auch als Medium für die Kommunikation mit dem Anderen, Fremden und Unbekannten sein. Doch gerade in ihrer Akzeptanz oder Ablehnung zeigt sich die kulturelle Differenz. Diese beginnt in der Regel dort, wo sie wesentlich werden, wo es um den existentiellen Ausdruck menschlicher Befindlichkeiten geht, wo es darum geht, auch Unbehagen und Leid in und an einer Gesellschaft auszudrücken. Sie können unbequem sein, denn sie sind die Stimme einer gesellschaftlichen Kritik.

Wenn Kultur zu einer Brücke werden soll, ist es dem Selbstverständnis entsprechend notwendig, sich auf das unbequeme, schmerzhafte Wesen der Künste, als eines freien Mediums der Selbstreflexion selbst bestimmter Individuen einzulassen. Man muss es ertragen, dass Künstler und Schriftsteller zunächst alles thematisieren und kritisieren dürfen: seien es moralische Prinzipien, Sexualität, Religion oder politische Verhältnisse.

Dabei bedarf es einer fragenden Haltung. Der Dialog benötigt die Neugier. Nur wenn beide Seiten sich weiter entwickeln wollen, weil sie danach streben, eigene Grenzen zu überschreiten, wird ein kultureller Austausch zustande kommen.

Es muss gelingen, nicht nur nach vordergründigen und allgemeinen Ähnlichkeiten zu suchen, sondern nach den Differenzen und diese zur Sprache zu bringen. Es geht um den kulturellen Konsens des offenen Argumentierens. Dabei müssen Dinge thematisiert werden, die in bestimmten Gesellschaften möglicherweise Tabus darstellen oder sogar verboten sind. Natürlich ist solch ein Dialog der ertragenden Toleranz und der ausgehaltenen Spannung ein Ideal, zu dem es in der Realität immer nur Annäherungen geben wird. Es ist aber ein Ideal, das nicht aufgegeben werden darf.

Dies gilt insbesondere dann, wenn es um den öffentlichen Raum und seine Aneignung durch Kunst, Musik, Politik oder Religion geht. Denn er ist der Raum, der als zentrale Institution demokratischer Gesellschaften die unterschiedlichsten Interessen, Meinungen und Positionen zulässt und zulassen muss.

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass Massenmedien – ein Produkt der freiheitlichen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft – von geschickt und perfide agierenden Terroristen genutzt werden, um schlimme, bislang nur als Phantasien modellierte Ängste in brutale Realitäten des Horrors zu verwandeln. Solche Bilder dienen als Botschaften von Gewalt und Gefahr, welche die Universalität der Freiheitsidee mit einer ebenso universellen Bedrohung beantworten.

Es gilt als unangemessen, ohne kritische Reflexion über die Leistungen der europäischen Kultur zu reden. Hinzu kommt ein Schuldgefühl hinsichtlich der Verbrechen, die im Kontext des Fortschritts begangen worden sind. Deshalb werden immer wieder Zweifel darüber geäußert, ob man vor dem Hintergrund dieser verhängnisvollen Abschnitte der Geschichte überhaupt das Recht habe, andere Kulturen und Gesellschaften zu kritisieren.

Ja, man darf, man muss sogar kritisieren, denn Europa steht für eine Idee und eine Utopie, die – auch wenn sie nie ganz erreicht wird – zu den bestimmenden Grundlagen der Welt gehört. Es ist ein Gesamtkunstwerk von universeller Bedeutung, für das man sich trotz aller Ungereimtheiten und Rückschläge einsetzen muss.

Der Hass, der den westlichen Ländern gegenwärtig aus vielen ehemaligen kolonialisierten Gesellschaften, insbesondere den islamisch geprägten, entgegen schlägt, scheint Skeptikern, die an der Möglichkeit solcher kulturellen Brücken zweifeln, zunächst Recht zu geben. Wir sehen aber, dass die immer wieder aufbrechende Wut, die mit beschädigten Selbstwertgefühlen in diesen Gesellschaften zu tun hat, instrumentalisiert wird. Wir wissen, dass auch die nicht eingelösten Gleichheitsversprechen eines globalen Sozialstaats und die Gefühle einer als einseitig empfundenen Abhängigkeit den Hass nähren. Es lässt sich beschreiben und erklären, dass es in Gesellschaften, die sich als Verlierer und marginalisiert empfinden, mit geringen Chancen der Menschen soziale Aufwärtsmobilität zu erfahren, zu einer Verschärfung sozialer Kontraste kommt.

Wo es ökonomisch und sozial keine reellen Chancen gibt, erscheinen die kulturelle Abgrenzung und das Nicht-Verstehen-Wollen als erfolgreiche politische Waffe. Wir sehen, wie dabei die eigentlichen ökonomischen und sozialen Probleme ausgeblendet werden.

Viel wird unsererseits davon abhängen, ob es uns gelingt, selbstbewusst zu vermitteln, was eine selbstreflexive, kritische, offene und freie Gesellschaft vermag. Die andere Seite zur Teilnahme einzuladen, ohne sich selbst und die Anderen zu verleugnen. Die europäischen Gesellschaften sollten alles daran setzen, ihr Bewusstsein für die über Jahrhunderte errungenen Menschenrechte und Grundwerte wie Individualismus und Meinungsfreiheit zu schärfen.

Dies gilt außen- wie innenpolitisch. Wir müssen den universalen Anspruch der Menschenrechte durchsetzen, und Europa muss sich in all seinen Handlungen fortwährend selbst daran messen. Wir sollten Migranten die gleichen Rechte bieten, sie aber auch entschieden und kompromisslos mit den gleichen Bürgerpflichten und -ansprüchen konfrontieren und diese einfordern.

Das ist ein Projekt, bei dem viele neue Konflikte zu erwarten sind, aber eines, mit dem Europa perspektivisch seine gewisse Ratlosigkeit und seine momentan eher defensive Haltung gegenüber den eigenen Ideen, Werten und Idealen überwinden könnte, die als nicht zu relativierende Grundlage gelten müssen.

Einen respektvollen Dialog der Kulturen kann es nur geben, wenn wir uns klar und eindeutig dazu entscheiden, unser Ideal der Menschenrechte und der Unverletzlichkeit des Individuums zu vertreten und überall dort, wo wir es vermögen durchzusetzen. Denn nur dort, wo die allgemeinen Menschenrechte gelten, wird es einen kulturellen Dialog geben, der diese Bezeichnung verdient, weil er es ermöglicht, die Differenzen nicht aus falscher Rücksichtnahme zu negieren, sondern auszuhalten und produktiv zu machen.

(Omar Akbar ist Professor für Architekturtheorie. Von 1998 bis 2008 war er Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau.)

 

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