von Gunter Weißgerber

»Am 17. September 1852 fuhren meine junge Frau und ich, nach einer Reise von 28 Tagen, an Bord des prächtigen Paketschiffes ›City of London‹, in den Hafen von New York ein. … Mehrere hundert Auswanderer fuhren im Zwischendeck, aber nur ungefähr zwanzig Passagiere in der Kajüte, unter diesen ein Professor der Universität Yale und mehrere New Yorker Kaufleute. Ich war noch nicht imstande, mich in englischer Sprache zu unterhalten, doch, da der Yale Professor etwas deutsch sprach und zwei oder drei von den New Yorker Kaufleuten ein wenig Französisch verstanden, gab es der lebhaften und erheiternden Unterhaltung genug. … Der Tag, an welchem wir im New Yorker Hafen ankamen, hätte nicht herrlicher sein können. Die Bucht und die sie umgebenden Inseln strahlten förmlich in sonniger Pracht. … Am Ufer von Staten Island entlang segelnd, … fragte ich einen von meinen Mitpassagieren, welche Sorte von Leuten in diesen hübschen Wohnungen lebten. ›Reiche New Yorker‹, sagte er. ›Und wieviel muß ein Mann besitzen, um ein reicher New Yorker genannt zu werden?‹ ›Nun,‹ antwortete er, ›ein Mann, der so ungefähr 150,000 oder 200,000 Dollar oder ein festes Einkommen von 10,000 bis 12,000 Dollar hat, würde als wohlhabend betrachtet werden. Natürlich gibt es Männer, die mehr als das – sogar eine oder zwei Millionen oder gar noch mehr – besitzen.‹ ›Gibt es viele solche in New York?‹ ›O, nein, nicht viele, vielleicht ein Dutzend, aber die Zahl der Leute, die wohlhabend genannt werden könnten, ist groß.‹ ›Und gibt es viele arme Leute in New York?‹ ›Ja, einige, meistens neue Ankömmlinge, glaube ich. Aber in vielen Fällen würde, was man hier als Armut ansieht, in London oder Paris kaum so genannt werden. Es gibt fast keine hoffnungslos Arme hier. Es wird gewöhnlich angenommen, daß niemand arm zu sein braucht.‹«(aus Carl Schurz: Lebenserinnerungen, Zweiter Band, S. 1-3, Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer 1907)

Arthur M. Schlesinger (1917-2007), Sandra Kostner und Paul Nellen mögen mir verzeihen, dass ich mit Carl Schurz beginne. Ich denke, das hat sich der badische 1848er Revolutionär und spätere US-Innenminister (1877-1881) redlich verdient. Der sich das (US-)amerikanische Versprechen auf Teilhabe und Wohlstand tatkräftig im Sinne der Gründerväter erfüllte.

Ohnehin ist er in deutschen Landen leider fast vergessen. Er sollte wieder einmal in die Hand genommen werden. Wie seine oben zitierten Bemerkungen unter Beweis stellen. Wie war das in den Anfängen der heutigen leicht wankenden westlichen Führungsmacht, ohne die ich mir unsere Freiheit, unsere Idee staatlicher Gewaltenteilung nicht gesichert denken kann? Wie war das vor dreißig Jahren zu Schlesingers Zeiten und wie ist es heute zwischen Donald Trump und Joe Biden und vor allem zwischen und in den Blöcken ›alte weiße Männer‹ und ›Black Lives Matter‹? Wären es nur die Vereinigten Staaten, könnte man sich gleichgültig zurücklehnen. Es sind aber nicht nur die Vereinigten Staaten, wir alle hängen mit drin. Früher oder später.

Sandra Kostner stellte ihrer deutschen Ausgabe ein Vorwort voran, welches für sich genommen bereits Stoff für ein weiteres Buch zum Thema USA bietet. Sehr lesenswert geht sie auf die »Identitätslinke Läuterungsagenda« ein. Damit bezeichnet sie

»eine spezifische Form der Identitätspolitik, die von Personen vorangetrieben wird, die sich selbst politisch links verorten, aber im Kern rechte Politik verfolgen. … Anders gesagt: Menschen werden in dieser linken Form der Identitätspolitik weiterhin nicht als Individuen, sondern als kollektive Merkmalsträger behandelt.« (S.7).
»Ein früher Diagnostiker… war der Historiker Arthur M. Schlesinger Jr., der 1991 in seiner so hellsichtigem Schrift The Disuniting of Americavor der ethnischen Spaltung der USA gewarnt hat … Heutzutage sind die USA auf eine Art und Weise gespalten, die wahrscheinlich selbst einen so weitsichtigen Analytiker wie Schlesinger mit Erstaunen erfüllen würde.« (S.8). …
»Zur Illustration nur ein Beispiel: Wenn in den USA ein Afroamerikaner bei einem Polizeieinsatz sein Leben verliert und der kanadische Premierminister Justin Trudeau deshalb auf die Knie geht, tut er dies nicht, weil er mit dieser Demutsgeste seine Schuld für eine von ihm begangene Tat ausdrücken möchte, sondern er tut dies einzig und allein aufgrund seiner Hautfarbe und einer vermeintlich daran gekoppelten Kollektivschuld. Eine solche Geste heißt und soll heißen: Alle Weißen sind schuld am Tode George Floyds, denn ohne Rassismus wäre er noch am Leben.«

Der Übersetzer Paul Nellen nutzt seine Vorbemerkungen um auf die Verständnisprobleme des Begriffs ›Rasse‹ über die Zeiten hinweg aufmerksam zu machen. Für das Verständnis des Stoffs ist das sehr wichtig. Das US-amerikanische ›race‹ ist nicht der Begriff ›Rasse‹, wie er in Deutschland verwendet wird. Auch sind ›Rassentrennung‹ oder ›rassistische Konflikte‹ in den USA keine intendiert diskriminierenden Formulierungen. Sie werden zur Verdeutlichung von Missständen gebraucht. (S. 17).

Nun zu Schlesinger. In seinem Vorwort auf Seite 21 schreibt er

»Die Ära der ideologischen Konflikte läuft inzwischen aus. Damit tritt die Menschheit jedoch ein – vielmehr aufs Neue tritt sie ein – in eine vielleicht noch gefährlichere Epoche ethnischer, herkunftsbezogener Animositäten. Feindseligkeiten der eigenen Ethnie einer anderen gegenüber gehören zu den am meisten instinktgesteuerten menschlichen Reaktionen. Dennoch war die Geschichte unseres Planeten zu weiten Teilen die Geschichte der Vermischung von Völkern. Von Anbeginn haben Massenmigrationsbewegungen Massenfeindseligkeiten hervorgerufen. … Die Welt schrumpft zusammen, ihre Bevölkerung ist heute durchmischt wie nie zuvor. Die Schrumpfung unterwirft die Welt einer Art Schrotsäge, die sie in entgegengesetzte Richtungen reißt – … In dem dunklen vor uns liegenden Jahrhundert steht die Zivilisation vor einer kritischen Frage: Was hält eine Nation eigentlich zusammen? (S.22).

Auf Seite 26 schreibt Schlesinger »E pluribus unum – Eines werden aus Vielen« und meint damit die Vereinigten Staaten in ihrer »brillanten« Ursprungsidee: »die Schaffung einer gänzlich neuen nationalen Identität durch Individuen, die ihre alten Loyalitäten hinter sich ließen ...«. Soweit zur Idee. Die Realität wich und weicht oft genug davon ab. Wie im richtigen Leben halt.

»Neue Einwanderungswellen brachten Menschen ins Land, die nur sehr schwer in die Gesellschaft hineinpassten … Für lange Zeit dominierten die Angloamerikaner die amerikanische Kultur und Politik. Sie schlossen jene aus, die nach ihnen kamen. Anglo-Amerika assimilierte nur schwer die Einwanderer aus Irland, aus Deutschland oder aus Süd- und Osteuropa. Hinsichtlich der nichtweißen Menschen … verwies ein tief verwurzelter Rassismus alle, ob rote, schwarze, gelbe oder braune Amerikaner, hinter die Grenzen ihres jeweiligen Grundstücks. Wir müssen uns einer beschämenden Tatsache stellen: Historisch gesehen war Amerika eine rassistische Nation. … Doch auch nichtweiße Amerikaner, obwohl miserabel behandelt, trugen zur Ausgestaltung der nationalen Identität bei. (S.27/28).

»Der Eindruck verfestigte sich, dass der Schmelztiegel nur ein Mittel war, um anglozentrische Vorstellungen und Werte auf glücklose Migranten zu übertragen … Der Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 machte die Amerikanisierung schließlich zu einer zwingenden Angelegenheit. Sogar einwanderungsfreundliche Präsidenten wie Theodore Roosevelt und Wodrow Wilson waren besorgt, ob ›Bindestrich-Amerikaner‹in einer Krise womöglich stärkere Loyalitäten zu ihrem Herkunftsland empfinden mochten als zu ihrer neuen Heimat.
Drei Tage nach der Versenkung der RMS Luisitania durch ein deutsches U-Boot sprach Wilson in Philadelphia vor einem Publikum von frisch Eingebürgerten. ›Man kann kein vollständiger Amerikaner sein‹, so sagte er, ›wenn man sich selbst nur in Gruppen betrachtet.‹« (S.48/49).

Mehr als zwei Jahrzehnte später formulierte es Franklin D. Roosevelt so: »Das Prinzip, auf das dieses Land gründet und durch das es immer regiert wurde, … , besteht darin, dass der Amerikanismus eine Sache des Herzens und des Verstandes ist, er ist und war niemals eine Sache der Rasse und der Herkunft. Ein guter Amerikaner ist einer, der loyal zu seinem Land steht und zu unserem tiefen Glauben an Freiheit und Demokratie«. (S.51). Präsident Joe Biden mit seiner Förderung der Black Lives Matter Bewegung hat sich aktuell wohl von seinen demokratischen Vorgängern Wilson, Roosevelt und Kennedy (›Frage nicht was dieses Land für dich tut, frage, was Du für dieses Land tun kannst‹) abgenabelt. Wie dieser Großversuch ausgehen wird, werden wir und die US-Amerikaner noch erleben. Good luck, Mr. President!

»Edle Ideale waren als gültig für alle Amerikaner propagiert worden; doch in der Praxis galten sie nur für die Weißen. … Tocqueville war hier insofern eine Ausnahme, als er farbige Menschen in seine amerikanische Gleichung mit einbezog. … ›Die atemberaubendste Nation auf diesem Globus‹ habe den roten Menschen nahezu ausgerottet, die Existenz einer scharzen Population sei der ›schrecklichste all jener Mißstände, die die Zukunft der Union‘ bedrohen. (S.51)

An dieser Stelle würde ich gern Schlesinger und Tocqueville fragen, ob die Ausrottung der roten Menschen und die Existenz der schwarzen Population vielleicht nicht doch eher den europäischen Zuwanderern seit der Wiederentdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus anzulasten wäre als der frühestens nach 1776 langsam zusammenwachsenden Nation? Ab wann wäre denn redlich von einer US-Nation zu reden, die als Nation ihre Werte mehrheitlich vertrat? Wurde die Sklaverei nicht in den langen Geburtswehen der Nation mittels eines blutigen Bürgerkriegs abgeschafft und wurden den roten Menschen nicht auch erst von der entstehenden Nation – wenn auch zögerlich – die Menschenrechte zuerkannt?

›Eines werden aus vielen‹ (siehe oben) und › … die ihre alten Loyalitäten hinter sich ließen ...‹. (ebenfalls siehe oben) bedeutet doch im Grunde nichts anderes, als dass alle Zuwanderer ihre alte Lebenswelt und Lebenswirklichkeit mit in die Neue Welt brachten. Diese Menschen und ihre Nachkommen waren noch länger Träger der alten europäischen feudalen und halbfeudalen Gesellschafts- und Menschenbilder. Diese Muster gibt man nicht an der Garderobe ab, was wir gerade in Europa vor allem mit den muslimischen Zuwandern der dritten Generation dramatisch bemerken.

Als Europäer, der die Missetaten seiner europäischen Auswanderer durchaus kritisch sieht, denke ich, die US-Amerikaner geben sich hier eine Schuld, wo sie sich eher rühmen könnten: Sie fügten sich in auch gewalttätigen Konflikten selbst Schmerzen zu, um allen Mitgliedern ihrer Nation die Menschenrechte zukommen zu lassen. Einen solchen Selbsthäutungsprozess können nicht viele Nationen dieser Erde von sich behaupten! Mir fällt keine ein. Ich bin stolz, im Herzen auch Amerikaner zu sein. Weder Joe Biden noch Donald Trump vermögen das in mir zu ändern.

»Gestärkt durch das amerikanische Credo, begannen die Schwarzen, sich für gleiche Chancen in der Arbeitswelt einzusetzen, bekämpften die Rassentrennung in den Streitkräften und kämpften in ihren eigenen Einheiten an vielen Fronten. Nach dem Krieg stärkte die lang aufgeschobene Bürgerrechtsbewegung das schwarze Selbstvertrauen. … Überall in Amerika begannen Minderheiten, ihren Stolz zu bekunden und ihre Rechte einzufordern.(S.54)

– eine Entwicklung, die notwendig und überfällig war. Chapeau!

Doch kam es, wie kommen musste. Oft liegt im Erfolg der Keim des Misserfolgs. Es entstand die Identitätspolitik. Michael Novak (US-amerikanischer Philosoph 1933-2017) »bekräftigte die Notwendigkeit einer Identitätspolitik. Gegen die Vorstellung von Amerika als einer Nation aus Individuen begrüßte Novak das, was er ›die neue ethnische Politik‹ nannte, die so Novak, ›besagt, dass Gruppen die Regeln, Ziele und Verfahren des amerikanischen Lebens strukturieren können‹.
Die Leidenschaft für ›Wurzeln‹ wurde unterstützt durch den ›Dritte-Genertionen-Effekt‹, auch als ›Hansens Gesetz‹ (Marcus Lee Hansen, Pionier der Einwanderungsgeschichte – 1892-1938) bekannt.

An dieser Stelle beende ich meine Rezension und hoffe, neugierig gemacht zu haben. Vor dem Hintergrund der Wechsel von George W. Bush zu Barack Obama, dann zu Donald Trump und jüngst zu Joe Biden lohnt sich die Lektüre Schlesingers. Arthur M. Schlesinger kann es uns nicht mehr beantworten, er kann es uns nicht mehr erläutern, was in den Vereinigten Staaten gerade passiert. Sicher ist, er würde ein kluger Ratgeber und Diskutant sein in schwierigen Zeiten. Sandra Kostner sei Dank, uns das noch einmal nahegebracht zu haben.

Schlesingers klare Sicht auf seine gefährdete Nation ist dreißig Jahre später aktueller denn je. Trotz allen Pessimismus' betont er helle Punkte im scheinbaren Dunkel:

»Was immer ihre selbsternannten Sprecher (gemeint sind die Diversen – GW) behaupten mögen – die meisten in Amerika geborenen Mitglieder von Minderheitengruppen, gleichgültig, ob von weißer oder nichtweißer Hautfarbe, sehen sich, auch wenn sie ihre Herkunft in Ehren halten, primär jeweils als Amerikaner und nicht in erster Linie als Iren oder Ungarn, Juden, Afrikaner oder Asiaten. … Der Glaube an eine einzige amerikanische Identität ist alles andere als ausgestorben.« (S.33)./div> Aus meiner Sicht eine äußerst wichtige Feststellung! Bietet sie doch Anlass zu der begründeten Hoffnung, den US-Amerikanern noch eine lange Zukunft in ihrem System von Checks and Balances zutrauen zu können. Für die Welt wäre es gut.

God Bless America! Sage ich als Agnostiker.

Das Inhaltsverzeichnis:
Vorwort von Sandra Kostner, S.7
Vorbemerkung des Übersetzers, S. 17
Vorbemerkungen zur amerikanischen zweiten Ausgabe, S.19
Vorwort, S. 21
1 »Eine neue Rasse«? , S. 37
2 Geschichte als Waffe, S. 57
3 Der Kampf der Schulen, S. 85
4 Der Zerfall Amerikas, S. 113
5 E Pluribus Unum, S. 135
Schlesingers Bücherecke – ein gutes Dutzend Bücher oder: Unerlässliche Lektüre zum Verständnis Amerikas , S. 175
Quellenangaben, S. 189

Korrespondenz zur Rezension:

Richard Schröder am 26. März 2021:

Lieber Gunter, die Sklaverei in Amerika ist tatsächlich durch Europäer importiert worden, aber nicht durch Briten oder Niederländer, sondern durch die Spanier und Portugiesen. Die Südstaaten der USA waren ja z.T. anfangs spanisch. Da gibt es ein irres Detail. Las Casas hat erfolgreich Karl V. davon überzeugt, die Versklavung der Indios zu verbieten (wie wirksam das Verbot war, steht auf einem anderen Blatt) und erklärt, sie seien für die harte Feldarbeit und als Lastenträger physisch nicht geeignet. Man solle lieber Arbeitskräfte aus Schwarzafrika holen.

Herzlichen Gruß, Dein Richard.

Gunter Weißgerber an Richard Schröder:

Lieber Richard, jetzt wo du es schreibst, fällt es mir auch wieder ein. Mark Twain erwähnte Las Casas u.a. in seinem "Leben auf dem Mississippi", welches ich als 12jähriger verschlang. Das Buch war für DDR-Verhältnisse mit 18,- Ostmark ziemlich teuer gewesen. Aber meine Eltern teilten meine Obsession für Mark Twain und kauften es mir.
Hier eine Internetquelle zu Las Casas:
»... Einzelne Stimmen, die sich gegen die Indianersklaverei stark machten, darunter Bartolomé de las Casas, empfahlen hingegen die Zwangsarbeit von afrikanischen Sklaven. ....« (https://www.lai.fu-berlin.de/.../lexikon/sklaverei.html)