von Arno Klönne

Ich möchte mit zwei Vorbemerkungen beginnen: Zum ersten will ich hier nur einige Beobachtungen zum Thema, auch einige persönliche Erfahrungen und Einschätzungen vortragen und ein paar Fragen auf den Weg in diese Konferenz bringen – als Anregungen zur Diskussion.* Zum anderen erlaube ich mir eine Korrektur des Titels bei meinem Beitrag (»Zur Geschichte und Aktualität des deutschen Linkssozialismus«). Über ›den Linkssozialismus‹ will ich nämlich nicht reden – es gab und gibt ihn nicht, meine ich. Ich rede stattdessen über Ideen und Interventionen von Linkssozialisten, historisch und auch ein bisschen aktuell.

Linkssozialisten als Thema, und nicht Linkssozialismus – für mich ist das keine nur nominale Unterscheidung. Ich will empfehlen, den Blick auf Akteure zu richten, auf ihre politischen Motive, ihre theoretischen und praktischen Versuche, auf ihre Handlungsfelder, auf die Assoziationen, in denen sie sich bewegten, auf soziale Bewegungen, deren Niederlagen und Erfolge. Es wäre, meine ich, gedanklich irreführend, wenn wir nach Linkssozialismus so fragen würden, als gäbe es da, historisch entworfen oder aktuell zu entwerfen, ein Politikmodell, das neben oder zwischen Sozialdemokratismus und Kommunismus zu stellen wäre, sozusagen als Stein der Weisen, den wir dann anbeten könnten. Ich rede also von Linkssozialisten, von denkenden und handelnden Menschen. Organisatorisch war da keine Einheitlichkeit vorhanden, es gab eine Vielzahl von linkssozialistischen Gruppierungen, Publikationen, Netzwerken – es gab auch Linkssozialisten innerhalb der Sozialdemokratie und ebenso innerhalb kommunistischer Parteien. Wenn man das so sieht, liegt die Frage nahe: was machte dann aber – nicht als Einheitlichkeit – die Gemeinsamkeiten der Akteure aus, die wir da als Linkssozialisten bezeichnen.

Um das historisch-konkret zu machen, im Hinblick auf die politische Szene in der Alt-Bundesrepublik, einige Namen, nur beispielhaft genannt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wolfgang Abendroth, Viktor Agartz, Gerhard Gleissberg, Peter von Oertzen, Leo Kofler, Fritz Lamm, Elmar Altvater, Klaus Vack, Helmut Schauer, Willi Scherer – und viele andere: Wo lagen die Berührungspunkte zwischen solchen Akteuren?

Berührungspunkte

Die bestanden, so deute ich das, zunächst im Ungehorsam, in der Weigerung, sich den parteiamtlichen Denkmustern zu unterwerfen, wie sie die Machtzirkel in der SPD oder in der KPD nach 1945 auferlegten – die SPD sozusagen im Managementverfahren, die KPD (wie die SED) im Stil der heiligen Inquisition. Und dieser Widerspruchssinn hatte, bei allen Unterschiedlichkeiten im Detail, einige Übereinstimmungen in der kritischen Substanz. Ich versuche mal, diese knapp zu bezeichnen:

Erstens, Linkssozialisten wussten: Sozialistische Politik versackt ins Opportunistische oder ins Illusionäre, wenn sie nicht mitbestimmt ist durch stetige und gründliche gesellschaftsanalytische Anstrengung – und zwar Analyse mit empirischem Boden, auf die Realität des Konfliktes der Klassen gerichtet. Diese Kritik richtete sich gegen das Fastfood-Programmgeschreibsel der Sozialdemokratie wie auch gegen die Scholastik des Parteikommunismus, in der Marx- oder Lenin-Zitate zum Zwecke innerparteilicher Kommandowirtschaft eingesetzt und verschlissen wurden. Analytische Anstrengung braucht freien Diskurs.

Zweitens: Linkssozialisten dachten im Widerspruch zur dominanten geschichtlichen Praxis von sozialdemokratischen wie auch kommunistischen Parteien. Typisch sozialdemokratisch war die Erwartung, über parlamentarische Mehrheiten bzw. Koalitionen ans Regieren zu kommen und so die kapitalistische Eigendynamik nachhaltig bändigen zu können – ohne Umbrüche im gesellschaftlichen Leben außerhalb des Parlaments- und Regierungsbetriebs, sozusagen über Kabinettsentscheidungen. Typisch parteikommunistisch war, in der Realgeschichte, der Versuch, der eigenen Partei die alleinige, regierende Macht zu verschaffen und dann die gesellschaftlichen Strukturen per Dekret umzuwälzen – ohne Rücksicht auf Volkssouveränität als permanenten Prozess. In beiden Fällen handelt es sich um den Irrglauben an die Machtvollkommenheit des Staates, allerdings ganz unterschiedlich ausgefüllt. Linkssozialistische Kritik zielt ab auf die äußerst unbequeme Überlegung: Was eigentlich kann Demokratie sein – in einem Politikverständnis, das über den Kapitalismus hinausdenkt und ihm im Klassenkonflikt Terrain streitig macht.

Drittens: Linkssozialisten hatten begriffen, dass Parlamente Gesellschaften mit beschränkter Wirkung sind, und dass eine Partei keine allmächtige Wunderwaffe ist. Sie setzten, was die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse angeht, vielmehr auf soziale Bewegungen, auf außerparlamentarische Aktion, auf kollektiven Protest, auf Streik – und das alles ohne Instrumentalisierung durch Parteivorstände. Insofern steckte in den Köpfen der meisten Linkssozialisten etwas Antipreußisches – alternativ zu den politischen Kasernenhofgewohnheiten, die in der deutschen Arbeiterbewegung gleich welcher Version ja eine lange Tradition hatten. Um dem Veranstalter dieser Konferenz ein Zuckerstückchen hinzuhalten: Wer Sinn für Theoriebezüge hat, kann in dem Verständnis politischen Agierens, wie es Linkssozialisten hatten, viele jedenfalls, Rosa Luxemburg wiederentdecken.

Soviel zur produktiven Seite der Ideenwelt von Linkssozialisten in Westdeutschland in der Ära Adenauer bis Brandt. Ich will da nicht glorifizieren – deshalb auch kurz etwas zu, so finde ich, weniger produktiven Erscheinungen. Bei manchen damaligen Linkssozialisten stand neben dem theoretischen Vertrauen in die Fähigkeit der Massen die praktische Vorliebe für mitunter skurrile Konspiration. Da ließe sich manche Anekdote erzählen. Einige linkssozialistische Denker, die den Dogmatismus kommunistischer Parteien bekämpften, hatten die Neigung, ihre eigenen Vorstellungen zu dogmatisieren. Und da die Macht der etablierten Großapparate von Sozialdemokratie und Parteikommunismus nicht so leicht zu knacken war, hielten sich manche Linkssozialisten schadlos im kleinen Gerangel mit anderen Linkssozialisten, wie das im Binnenfeld von politischen Minoritäten nicht selten der Fall ist.

Nicht zu verschweigen ist auch, dass die Pathologie geheimer Dienste im Kalten Krieg in einigen Fällen auch Linkssozialisten vereinnahmte – linkssozialistische Kritiker des Parteikommunismus, die sich mit westlichen geheimen Helfern anfreundeten, und linkssozialistische Kritiker der SPD, die östliche materielle Hilfe als Annehmlichkeit ansahen.

Ich will viertens und letztens noch eine produktive Seite des Wirkens von Linkssozialisten in der Alt-Bundesrepublik herausstellen: In Zeiten der intellektuellen Verwüstung nach der Herrschaft des Faschismus in Deutschland und auch durch die Zwänge des Kalten Krieges, haben sie wesentlich dazu beigetragen, dass der ideelle Bestand der Arbeiterbewegung aus den Zeiten vor 1933 nicht völlig verloren blieb.

Wirkungen

Es stellt sich nun die Frage: War das, was ich hier knapp geschildert habe, zwar gedanklich interessant, aber in der politischen Praxis ohne Wirkung? Oder anders formuliert: Sind Linkssozialisten jener Zeit als politisch gescheiterte Existenzen in Erinnerung zu behalten – der Gedanke liegt ja nahe, wenn man sich zum Beispiel eine Biografie wie die von Viktor Agartz ansieht. Ist eine solche Vergeblichkeit politischen Eingreifens generell kennzeichnend gewesen für diejenigen, die damals als Linke weder der Sozialdemokratie noch dem Parteikommunismus Konformität erweisen wollten?

Da ist erst einmal zu bilanzieren: Wenn und insoweit Linkssozialisten dieser Epoche hofften, sie könnten entweder die SPD oder den Parteikommunismus durch inständige Kritik zum inneren Wandel veranlassen, so ist diese Hoffnung gescheitert. Und weiter: Wenn und insoweit Linkssozialisten damals auf den Versuch setzten, eine linke Partei zu inspirieren, jenseits von SPD oder KPD, so ist auch diese Erwartung gescheitert. Aus der Unabhängigen Arbeiterpartei (UAP) ist nichts geworden, und später: Vorüberlegungen des Sozialistischen Zentrums für eine neue linke Partei unter Einschluss auch von Kommunisten wurden gegenstandslos durch die Gründung der DKP. Noch weniger Aussichten hatte zwischendurch der linkssozialistische Parteiinitiativausschuss, der kurzzeitig auch Viktor Agartz interessant erschien.

Das ist aber nur ein Teil dieser Geschichte. Ein anderer ist keineswegs durch Scheitern, sondern durch begrenzten, aber bemerkenswerten Erfolg ausgewiesen: Linkssozialisten haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich ab 1961 in der Bundesrepublik die Ostermarschbewegung – die Kampagne für Demokratie und Abrüstung – zur ersten beständigen, effektiven und von der Kontrolle der SPD wie von der Regie der KPD/SED unabhängigen, außerparlamentarischen Bewegung entwickeln konnte.

Linkssozialisten haben, daran anschließend, wesentlich dabei mitgewirkt, dass eine breite, auch von Gewerkschaftern mitgetragene, gesellschaftspolitisch klärende Bewegung gegen die Notstandsgesetze in Gang kam. Vielfach waren es Linkssozialisten, die anregend wirkten beim Aufschwung der innergewerkschaftlichen Diskussion und der gewerkschaftlichen Bildung in den 1960er/1970er Jahren.

Linkssozialisten organisierten mit dem Offenbacher Sozialistischen Büro ein Netzwerk von Initiativen für antikapitalistische Arbeit in Berufsfeldern und für die öffentliche Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Vorgängen – in Differenz zu den damaligen Revolutionsphantastereien sowie den irrwegigen neokommunistischen Organisationskonzepten mit ihren Anleihen von Nordkorea bis Albanien. Das Sozialistische Büro hatte seine Funktion nur für einige Jahre – aber das macht seine Tätigkeit nicht sinnlos. Linke Politik wurde hier verstanden als Lernprozess, nicht als Verselbstständigung von Organisationsinteressen.

Aktualität

Soweit meine Hinweise auf die Geschichte von Linkssozialisten in der Bundesrepublik. Und heute?

Die historischen Bedingungen haben sich auf massive Weise verändert. Der sozialdemokratische Entwurf zur Zähmung des Kapitalismus ist vor der Geschichte blamiert, der parteikommunistische Versuch, dem Kapitalismus ›Systemkonkurrenz‹ zu machen, ist historisch auf schlimme Weise gescheitert. Nach meinem Eindruck ist die Tragweite dieser Niederlagen in der Linken insgesamt keineswegs hinreichend bewusst und bedacht. Da ist das Nachdenken über bittere historische Erfahrungen und Erinnern an konzeptionelle Alternativen sehr nützlich.

Aber es geht auch darum, sich in die gegenwärtigen Diskussionen auf der Linken einzumischen. Aus der Tradition der Theorie und Praxis von Linkssozilisten lässt sich heute manches produktiv machen für eine gründliche Auseinandersetzung mit sozialdemokratischen oder auch linksgrünen Illusionen staatlicher ›Mitgestaltung‹. Das gilt ebenso für die Debatte innerhalb der Partei, die sich DIE LINKE nennt und, so sehe ich es, in Versuchung ist, sich denselben illusionären Politikmustern anzuschließen. Der Begriff ›links‹ wird zur leeren Hülse, wenn er sich nicht mit der entschiedenen Kritik stetiger Demontage von Demokratie und der Anstrengung verbindet, Volkssouveränität überhaupt erst einmal zu entwickeln. Von ›oben‹ ist nichts zu erhoffen – selbst dann nicht, wenn es mal von rosa-roten Ministern wimmeln sollte.

Und angesichts dieser Situation der Linken vermute und hoffe ich: Die Geschichte der Linkssozialisten, ihrer analytischen Anstrengungen, ihrer Kritik an der – sozusagen – institutionellen Linken und die Geschichte politischer Interventionen von Linkssozialisten ist nicht zu Ende.

* Eröffnungsvortrag zu einer zweitägigen wissenschaftlich-politischen Konferenz über die Problemgeschichte, Programmatik und Aktualität des Linkssozialismus, die die Rosa Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen im Dezember 2009 in Duisburg veranstaltete. Die Beiträge der Konferenz sind soeben in Buchform im Hamburger VSA-Verlag erschienen, in dem von Christoph Jünke herausgegebenen Band »Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus?«