Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

Neulich im Einstein...

war ein Pressefoto aus Khartum zu sehen, auf der Mauer der Deutschen Botschaft stand ein ernster junger Mann im weißen Burnus, in der Linken ein kleines schwarzrotgoldenes Papierfähnchen und in der Rechten ein Feuerzeug. Er war just im (umgangssprachlich) Begriff, seinen Glauben und dessen Ehre zu verteidigen … Irgendwie war es ein rührendes Bild. Als Betrachter würde es mir schwer fallen, diesem Jüngling vorzuhalten, er missbrauche seine Religion und seine Ehre sei gar nicht gekränkt. Er missverstehe das Prinzip der Meinungsfreiheit!? Ist nicht unsere europäische Volksfrömmigkeit mit ihren zivilreligiösen Werten in ähnlicher Weise schnell zu kränken? Wurden nicht gerade wir Deutschen jüngst aufgefordert, unseren Blasphemie-Pegel deutlich zu senken?

Egal ob die jüngste muslimische Empörung organisiert oder spontan verlief (wäre das eine denn besser oder weniger gravierend als das andere?), sie bleibt ein untrüglicher Anzeiger zunehmender physischer Intensität in kommenden spirituellen und politischen Zumutungen, die wir uns noch nicht vorstellen können, aber zu meistern haben werden. Beliebige Anlässe zu solchem Tun – in unseren Ländern, von uns Ungläubigen – wird es immer wieder geben. Wenn der Islam uns im Westen (pauschal) verachtet – das konnten wir schon bei Friedrich Nietzsche lesen –, so hat er tausend Mal Recht dazu: der Islam hat Männer zur Voraussetzung … [Der Antichrist, Nr. 59].

Ich vermute, es hilft nichts, zu sagen, die Brandstifter und Totschläger von Benghasi oder Sanaa seien keine legitimen Repräsentanten ihres muslimischen Glaubens. Dort, wo nach Freitagsgebeten die Betenden sich aufmachen, mit Knüppeln, Dolchen oder Fackeln die frohe Botschaft von dem Einen Gott in sozusagen flammender Bekehrung und im-kurzen-Prozess in die Köpfe einzutrichtern, muss man sich wohl abfinden mit einem erneuerten, verständnisvollen Öffnen im Begreifen dessen, was Religionen und Religionspraktiken der Sache nach sind. Ihr die Integrität des Einzelnen immer zur Disposition stellendes Problem ist es eben, das es in ihnen immer um eine Sache geht, die höher steht als der Mensch.

Der Einwand, man-könne-doch-wohl-nicht-zurück-zu-von-vor-der-Aufklärung, würde eine geschichtsphilosophische Disposition zur Bedingung haben, die schon mit dem Ende der Aufklärung obsolet war! Haben wir bereits vergessen, dass in der bolschewistischen Revolution ebenfalls aufklärerische Standards, etwa in der Rechts- und Freiheitskultur, konsequent negiert worden sind? Sollten wir diese Lektion in Politischer Theologie, wovon Europa immer noch traumatisiert ist, einfach verdrängt haben?

Vernunftreligionen – das musste schon Kant einsehen – sind eben keine praktizierbaren Religionen! Und praktizierbar sind sie eben nur, wenn sie die Gemeinschaft der Gläubigen ursprünglich in ihrem Bestand und Stolz zu verteidigen in der Lage sind. Der Islam beobachtet – mit Schrecken – was mit einer Religion passiert, wenn sie Zeit- oder Modernitätsprozeduren unterworfen wird.

Religionen gewähren nur in sehr engem bedingungsreichem Rahmen Liebe, Verzeihung oder Vergebung! Religionen wollen vor allem Heilskapazitäten wach- und reinhalten, und da ist die körperliche Integrität des Einzelnen, Fremden (vulgo: Ungläubigen), Anderen (übrigens natürlich auch der Glaubenden selber) immer bloß Mittel zum Zweck niemals Selbstzweck (man zerstört, opfert, einen Teil oder den ganzen Körper zum Heil des … ja was?). Wir werden mit blutiger Nase darauf hingewiesen: kein Glaube ohne Einfalt.

(15. September 2012)

Steffen Dietzsch

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