Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

...neulich im Einstein

wurde ich wieder einmal mit allzubekannten Szenen aus der ›Vernunftehe‹ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit erschreckt, deren Verkehrswert sich nur deshalb weiter fortschreibt, weil diese Mésalliance sowohl den Gang zur Eheberatung als auch zum Scheidungsanwalt scheut.

– Es ging diesmal um den global raunenden Streit um das Phänomen des Klimawandels.

Da kam kürzlich ein Astrophysiker des Racah Institute of Physics (Jerusalem) - Nir Shaviv - mit einem Kollegen - Jan Veizer - ins Gespräch, der sich für paläoklimatische Konstellationen interessierte. Dem fielen dabei Anomalien in der Kohlendioxidentwicklung auf, auf die er sich überhaupt keinen Reim machen konnte. – In solchen kritischen Erkenntnislagen ist es immer nützlich, wenn man sich des Ratschlags eines deutschen Philosophen erinnert, demzufolge Dinge, die noch nie einander in's Gesicht gesehen hatten, plötzlich gegenüber gestellt, aus einander beleuchtet und begriffen werden können.

Im vorliegenden Dilemma hieß das: Wenn also dem Manne mit seinen Daten hier auf Erden nicht zu helfen war, so kam doch Bewegung ins Denken, als sich ihm durch jenen Jerusalemer Kollegen ein sozusagen ›extraterrestrischer‹ Blick eröffnete. Nämlich: Der kosmische Strahlungsrhythmus (den hatte Shaviv kürzlich entdeckt) war in einen kausalen Zusammenhang zu bringen mit klimatischen Schwankungen, für deren Erklärung lediglich terrestrische Gründe nicht hinreichend waren. So konnte man auf neue Weise ein vereinheitlichendes theoretisches Verständnis von Klimasituationen entwickeln; und man begann etwas von der (augenscheinlichen) Asymmetrie natürlicher und künstlicher Faktoren zu verstehen. Das war bis dahin die normale Begriffsarbeit einer Gelehrtenrepublik. Bis sich in diesen Forschungsalltag von trial and error eine ›höhere‹ Instanz einmischte – die öffentliche Meinung. Mit Mitteln demokratischer Meinungsbildung (Bürgerbegehren, Pressekampagnen) wurden jetzt Theoriebemühungen in ihrer Geltung (und wegen des Gefühlshaushalts der Menge) in Frage gestellt. - Wieder einmal eines der vielen unspektakulären Zeichen für den kulturell-geistigen Rückbau sog. moderner Gesellschaften, die sich unmerklich wieder in das verwandeln, wogegen sie einstmals revoltierten.

Denn was unterscheidet denn noch die sogenannten modernen und sogenannten traditionellen Gesellschaften? Hier emotionales, dort rationales Verhalten? Nein, viel gravierender ist die sich global immer mehr angleichende parlamentierende Struktur der Öffentlichkeit beider Welten. – Öffentlichkeit ist natürlich kein numerischer Begriff (etwa eine Art Quersumme aller in sozialen Gruppen versammelten individuellen Werte), sondern ein die Individuen integrierendes Gefühlsnormativ. Dieses Normativ wird in politischen Räumen von hochelaborierten Minderheiten traumatisch konstituiert und medial performativ über die Gesellschaft gezogen. Öffentlichkeit ist das je sozial akzeptierte virtuelle Trauma. Es hat als Verkehrsform den Code ›gefühlt vs. gewusst‹ zur Bedingung.

Noch aber hat natürlich auch Wissenschaft eine Chance – Prof. Shavivs Hypothese wird bald vom CERN in Genf in eine Versuchsreihe einbezogen.

Steffen Dietzsch

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