Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

…neulich im Einstein

las ich noch einmal die Rede des diesjährigen Büchnerpreisträgers und erinnerte mich dabei an eine merkwürdige Begebenheit, unlängst in einem Billigflieger. Ein Stewart lief konzentriert den Mittelgang entlang, fixierte kurz die Passagiere, wobei seine Hände wie bei einem frühen Parkinson zitterten.

Der Mann zählte mit einem kleinen Ding in den Händen die Leute. Ein leichtes Unbehagen, ja Grauen beschlich mich, denn er praktizierte an uns das Autopsieprinzip… wohl, damit ›nachher‹ unten (runter kommen wir immer) und oben auch die gleiche Menge sei.

Dieses Autopsiegebot (unerlässlich bei Editionen!) scheint neuerdings zum Zentralprinzip beim Verstehen der neueren Geschichte zu avancieren. Wie jener Subalterne laufen diverse Opferzähler das Zivilisationsterrain ab, um dann mit neuen, sozusagen mengentheoretischen Klassenbildungen in Politik- & Geschichtsverläufen Verlustquoten zu bilanzieren (Aufrührer, Abtrünnige, Minderheiten, Städter, Geiseln, Vertriebene, Embryonen, Wale, Wälder, etc.). Ist das das Herunterrechnen der (abstrakten) Geschichte auf den konkreten Menschen? Versteht man so wirklich mehr von Bedingungen und Konsequenzen jener ganz unterschiedlichen Herrschaftsvorgänge? Zumal, wenn, wie eben jüngst auch der Büchnerpreisträger, von einer absoluten Maßkonstante aus gewertet wird: nämlich ›Hitler & die Seinen‹. Wer sich dessen Zahlen nähert, gehört proportional dazu.

Neulich wurden die Jakobiner einer solchen Geschäftsprüfung unterzogen. Natürlich nahe am Ground Zero allen Abscheus kartographiert. Warum aber kam jenem Geschichtsempfinder nicht eher der Lordprotector Cromwell in den Sinn, der doch – wie A.H. – auch mit der Vorsehung im Bunde war (und der mit seiner Majestät nicht glimpflicher umgegangen ist als der Tugendbold Robespierre)? – Will man wirklich wieder, wie schon Kant an Herder monierte, den Leuten »die Köpfe verderben«, indem man »ihnen Muth macht, ohne Duchdenken der Principien mit blos empirischer Vernunft allgemeine Urtheile zu fällen«? Sind wir – Hermeneutiker – etwa Zeitzeugen des Entstehens einer auf Schädelstätten kaprizierten Hermeneumetrie?

Steffen Dietzsch

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