von Ulrich Siebgeber

Johano Strasser: Kopf oder Zahl. Die deutschen Intellektuellen vor der Entscheidung, 256 S., Frankfurt/M.-Wien-Zürich (Büchergilde Gutenberg) 2005

Wir Hirnwichser. Anmerkungen zu einer Apologie

1. "Wenn Intellektuelle im klassischen Verständnis sich öffentlich zu politischen Themen äußern, so tun sie dies als paradigmatische Citoyens." S. 17

Wenn Intellektuelle im nicht-klassischen Verständnis sich öffentlich zu politischen Themen äußern, so haben sie die Wahl: sie können so tun, als seien sie 'klassische Citoyens', sie können es aber auch lassen. Fragt sich, was sie gewinnen, wenn sie die Clownsmaske des Citoyen vornehmen, die ihnen niemand abzunehmen braucht, weil alle geradewegs durch sie hindurchsehen. Das mag bedauerlich sein, aber es ist der Fall.

Werden sie also dadurch Intellektuelle 'im klassischen Verständnis'? Intellektuelle im Verständnis der Klassiker? Aber was würden die Klassiker dazu sagen? Würden sie bedauernd das Haupt wiegen angesichts von soviel 'falschem Bewusstsein'? Oder heiliger Einfalt? Zur unumgänglichen Einsicht in die Bedingungen, welche die Gegenwart jedem denkenden, handelnden, verantwortenden, schreibenden Kopf aufnötigt, gehört diese: Der Bürger, den es zu öffentlicher Teilhabe an den Angelegenheiten seines Gemeinwesens drängt, sieht sich in eine brutale Privatheit zurückgedrängt. Wer ihn dort abzockt, sind die Vermittlungsinstanzen gerade der Öffentlichkeit, der er sich verpflichtet fühlt: Parteien, Bewegungen, NGOs, mediale Quasselstuben, Rekrutierungsbüros für Fanatiker, Websites halbanonymer Verrückter und Einfaltspinsel. Der Intellektuelle, der ihm, mangels Gehör, stellvertretend die Stimme leihen wollte, erführe nur dasselbe: die Öffentlichkeit der Citoyens, ach, sie ist nicht mehr. Man sehnt sich nach ihr zurück, das ist wahr. Auch nach den Lebensbedingungen, auf denen sie ruhte?

2. "Die Ausdrücke 'Hirnwichserei' und 'Hirnscheiße' sprechen eine deutliche Sprache. Der Angriff gilt dem Kopf, der Vernunft in all ihren Manifestationen, allen Sinnzumutungen, allen Fragen nach dem Warum und Wozu." S. 37

Kopf oder Zahl: Wer sich - unter Konkurrenten um die Gunst öffentlicher Aufmerksamkeit und gegenüber dem Publikum - der alteingesessenen Unterscheidung zwischen dem Kopf und seinem 'klassischen' Widerlager nicht mehr sicher sein kann, kommt in eine prekäre Lage. Man kann auch sagen: Er predigt den Tauben. Es wäre aber ungerecht, so zu reden, die Tauben können nichts dafür. Er muss (und will, darin besteht sein Ethos) sich der Lage stellen. Andererseits stellt die Lage ihn: Er steckt in der Falle. Diese Falle ist oft beschrieben worden, sie ähnelt den mittelalterlichen Prangern resp. Käfigen, in denen man an Kirchtürmen u.ä. Ketzer zur Schau stellte. Die moderne Form der Ketzerbeschimpfung ist das Verständnis. Die Öffentlichkeit hat Verständnis für die Lage der Intellektuellen, sie befragt sie auch gern dazu und spricht ihnen Mut zu. Weitermachen, nicht aufgeben! Währenddessen wechselt sie zu den bösen Buben und Mädels in die Kneipe auf der anderen Straßenseite, wo es hoch her geht. Wehe, sie braucht zu lang. Die Einschaltungs-, also Zustimmungsquoten sinken, das Publikum sitzt schon dort. Der öffentliche Citoyen mag sich entscheiden, wie er will, er wird sich anschließend fragen: Ja wo sind sie denn alle? Das Buch, das gute Buch, als Speaker’s Corner gerne bemüht - was, wenn eine Gesellschaft sich ihre Toleranz darin bescheinigt, dass sie die Intellektuellen erträgt? Wenn sie darin bereits die Einlösung der Versprechen von Liberté, Egalité und Fraternité 'erblickt'? Das wäre, alles in allem und angesichts dessen, dass dort, wo die Bekehrung Andersgläubiger auf der Agenda steht, eher von Coca Cola und Jeans die Rede ist, noch eine feine Sache.

3. "Der lesende Arbeiter ist im Kern nichts anderes als die Ausdehung des Citoyen-Ideals auf die bisher von politischer Mitsprache ausgeschlossenen Proletarier." S. 141

Hier irrt Strasser oder vielmehr: er wirft Kopf und Zahl willkürlich durcheinander. Der lesende Arbeiter als Realität war immer eine andere Sache als der lesende Arbeiter in den Strategiepapieren der Sozialdemokraten. Deshalb fiel und fällt es so schwer, auf ihn zu setzen. Der lesende Arbeiter des 19. Jahrhunderts, von dem Strasser spricht und den es, zur Rührung der Linksintellektuellen, in Einzelexemplaren immer gegeben hat (nicht von den eifrigen Lesern der Parteiblättchen sei hier die Rede), ist der studierende Nicht-mehr-Arbeiter des 21. Jahrhunderts. So sieht es aus. Wo alle Bildungswege offen sind, sieht es für den 'klassischen Intellektuellen', der seine Aufgabe darin sucht, erzieherisch auf die Arbeiterklasse einzureden, düster aus. Dass die 'Spezialisten', die als Berater der Öffentlichkeit und den Öffentlichen 'zur Verfügung stehen', sich als Erben der Intellektuellen zu präsentieren vermögen, wenn nicht selbst als deren zeitgemäße Variante, hat viel damit zu tun, dass das Studium, der Massendemokratie sei’s geklagt, auch nicht mehr das ist, was es einmal war. Wer will, studiert, wer will, informiert sich, wer will, amüsiert sich. Der Terror des Amüsements ist der Terror der Massen, verübt an sich selbst mit Hilfe von Repräsentanten, die mit dem Herkommen insofern im Reinen sind, als das Wort 'Intellektuelle' seit der Vertreibung aus dem Paradies ein Schimpf- und Ätzwort ist. Dass jede Generation, wenn sie ins Sinnieren, das heißt in die Nähe der Pensionsgrenze gerät, das Paradies bis auf anderthalb Generationen nachrücken lässt, gehört zu den lästigen Begleiterscheinungen des biologischen Lebens. Dass diejenigen, die es heute trifft, in dieser Hinsicht benachteiligt sind, ist eine bekannte Tatsache. Dass deswegen Intellektueller ist, wer von den Zeiten der Frankfurter Wasserwerfer schwärmt, sollte eher zu den Verwechslungen zählen.

4. "Der Intellektuelle, der – wie Bourdieu es ausgedrückt hat - 'zugunsten universeller Werte interveniert', setzt die Geltung dieser Werte immer schon voraus." S. 235

Das Elend der Intellektuellen steckt in diesem Satz. Karl Mannheim hat es gewusst, das allein macht seine Wissenssoziologie heute noch lesbar. Wenn die Intellektuellen als Agenten des öffentlichen Bewusstseins auf den Plan treten, sind die Ideen im Prinzip erkannt. Sie müssen nur noch propagiert werden. Da die Ideen aber nur im Verbund zu haben sind, gibt es seit jeher Intellektuelle jeder Couleur. Farben aber sind dazu da, getragen, d. i. erkannt zu werden. Was voraussetzt, dass jedermann sie kennt. 'Gut gesprochen!' heißt unter solchen Bedingungen: Der hat’s ihnen gegeben! Das war schön! Und das war's dann auch, jedenfalls gelegentlich. Die endlose, durch Generationen weiter geübte Wiederholung von Behauptungen, für deren Begründung man sich für nicht zuständig hält und deren Bedeutung man deshalb im Ernstfall auch gar nicht richtig kennt, bei fortwährender Beteuerung, es sei ungemein wichtig zu argumentieren, mag eine ehrenwerte Tätigkeit sein, gelegentlich auch in Kämpfe, selbst tödliche, führen, aber sie in einem halbwegs friedfertigen Gemeinwesen, wo jeder einigermaßen Aufgeweckte seit seiner Schulzeit mit ihnen vertraut ist, als Kampf zu inszenieren, zeugt von Realitätsverlust oder dem Willen zum Weiterreden um (fast) jeden Preis. Die Katastrophe wird kommen, in der man erneut auf uns hört. Aber so dachten schon die Kirchenvertreter, seit der Katastrophe sind sie klüger.

5. "Es gibt keine Garantie dafür, dass die heikle Balance zwischen Inidividualegoismus und Gemeinwohl, zwischen Können und Sollen, zwischen instrumenteller Rationalität und integraler Humanität, die die klassische Moderne anstrebt, auch in Zukunft gehalten werden kann." S. 249

Hier wird es ernst, denn wo die 'instrumentelle Rationalität' aufhört und wo die 'integrale Humanität' anfängt, das weiß nicht nur keiner zu sagen, das wird allein deswegen umstritten bleiben, weil es einzig als Streitfrage seine Berechtigung hat. Dennoch gibt es diesen Gegensatz, so wie es die Gegensätze von Egoismus und Gemeinwohl, von Können und Sollen zweifellos gibt, übrigens auch den zwischen Gemeinegoismus und Menschheitswohl. Wer den 'Mythos' der einen Vernunft über Bord wirft, wer den 'Mythos' der einen Menschheit verabschiedet, wer den 'Mythos' eines menschlichen Wollens ins Abstruse zieht, der mag sich ruhig weiter Intellektueller nennen, vom Intellectus hat er sich zweifellos verabschiedet, um Rumor zu machen. Wenn, wie man gelegentlich liest, Foucault und Rorty die Götter der Postmoderne sind, dann finden sie womöglich leicht in jedem Kind ihren Nietzsche. Dass man aber die 'klassische Moderne' benötige, von der keiner außer Habermas weiß, worin sie besteht, wann sie beginnt und wo sie endet, um eine 'Balance' 'auch in Zukunft' zu halten, von der gesagt wird, sie werde von jener nur 'angestrebt', das mögen die Götter verstehen, dahinter steht zweifellos ein Mythos. Dass es 'den Intellektuellen' nicht gut ansteht, der Zerstreuungsgesellschaft zu huldigen oder sich aus Selbstüberdruss auf die Seite der Menschheitsfeinde zu schlagen, klingt gut und man liest es gern. Vielleicht sollten sie, eitel und überflüssig, wie sie sind, von allem Stellvertretungsgehabe lassen und, statt anderen vorzudenken, sich selbst aufs Denken verlegen.

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