von Ulrich Siebgeber

Jürgen Riethmüller: Kontrollgesellschaft außer Kontrolle. Perspektiven kritischer Theorie im Zeitalter der Globalisierung, Stuttgart (Merz Akademie) 2005, 777 S.

Zusammenschreibsysteme

 Wirrnis kann, wie das scharf Sortierte, blitzgescheit daherkommen - den Blitz vielleicht etwas schärfer akzentuierend als das ›gescheit‹, aber das ist eher der Zeit geschuldet, dem großen Zusammenschreiber des Disparaten. ›Alles Gleichzeitige bildet ein System‹ - und zwar ein geschlossenes, bei Bedarf zu sprengendes - ein solcher Satz leuchtet ein, wenngleich nicht zwingend, weil der Wille, das Synchrone unter Formeln zu fassen, zwangsläufig in jene vom Verfasser des vorliegenden Buches diagnostizierte »aporetische Lähmung« führt, die als Zeitdiagnose eine Art überzeitliche Geltung beanspruchen darf.

Das Buch enthält, unter dem Rubrum »Unsichtbar/Sichtbar«, deren zwei: »Das Ende der Dialektik« und »Die aporetische Lähmung«. Im ersten legt es der Verfasser darauf an, die theoretischen Kosten des Neoliberalismus (neben den vorausgesetzten handfesten) mitsamt seinem alltagskulturellen Umfeld (»Anstelle einer Poptheorie«) auf den Begriff der ›Paradoxie‹ zu bringen: die Paradoxie herrscht und ihr Kennzeichen ist die »Endlosschleife« (345) der theoretischen Diskurse und eine »zugehörige schleichende Lähmung des politischen Handelns«, wovon sich jeder, der zwischen Satz und Nachsatz kurz aus dem Fenster sieht, mühelos zu überzeugen vermag. Bleibt die Frage, was, neben Deleuze und Luhmann, Karl Marx dazu gesagt hätte. Er hat: »Die Grundidee ist ebenfalls von Karl Marx geborgt, der die Möglichkeit der temporären Aufhebung der gesellschaftlichen Antagonismen in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte als Theorie des Bonapartismus ausführlich untersucht hat. Was Marx hier gewissermaßen als von oben induziert analysiert, versuchen wir von unten, als kulturellen Prozess ohne bestimmendes Subjekt zu deuten.« (ebd.)

Das zweite, der ›aporetischen Lähmung‹ gewidmete Buch enthält eine Reihe von Einzelstudien, die von den »Paradoxien der Kultur« über Andeutungen zur Theorie der Massenmedien und den Paradoxien diverser erkenntnis- und zeichentheoretischer Ansätze in den sicheren Hafen der Kritik der »telematischen« Revolution und der Wissensgesellschaft führen. Hier werden, nach erstaunlich jugendseitigen Urteilen über Popkultur und Feminismus, ebenso erstaunliche Zitat-Breitseiten aus allem abgefeuert, was seit Jahrzehnten an Basistheoretischem dem journalistisch determinierten Kritizismus teuer ist, von Adorno, Deleuze, Foucault, Baudrillard, Derrida undundund bis zum Meister aller Klassen, Luhmann, und dem Altgestein der Modernetheorie, Habermas, der noch einmal (»... sieht das völlig richtig«) die Richtung vorgeben darf: »Wie man es auch dreht und wendet, die Globalisierung der Wirtschaft zerstört eine historische Konstellation, die den sozialstaatlichen Kompromiss vorübergehend ermöglicht hat.« Das mag in der Tat richtig sein, es müsste auch gefragt werden, für wen der sozialstaatliche Kompromiss ausgehandelt wurde und welche Habenichtse dabei vor der Tür blieben. Aber, erneut »in den Worten Habermas': ›Die weiterlaufende Moderne muss weiter geführt werden...‹« (748f.) Dies zumindest, die Sprache, die unsichtbare, macht's möglich, ist doppelsinnig: bei guter Führung muss weniger eng geführt werden. Das freut die Moderne.

Was soll nun aus uns werden? »Ginge es nur nach der Vernunft, wären die zu diskutierenden Maßnahmen klar: eine Limitierung des vererbbaren Vermögens auf 100 Millionen Euro pro Einzelperson, eine Verstaatlichung der Gewinne des Bank- und Versicherungssektors oder aber eine mäßige, aber (!) effektive globale Besteuerung aller Kapitaltransfers nach Vorbild der Mehrwertsteuer, wobei das weltweite Einigkeit an diesem Punkt voraussetzte... Die jeweilige ›öffentliche Hand‹ wäre verpflichtet, die zusätzlichen Einnahmen ausschließlich zur Bezahlung von Tätigkeiten im sozialen und ökologischen Bereich usw. und für ihre Verrentung einzusetzen - also für all das, was sozial notwendig, aber nicht profitabel ist.« (743) Das gilt für den ökonomischen Sektor, in den Bereichen Kultur und Medien werden die Vorstellungen schwammiger und die gute alte Tante Utopie muss es wieder richten. Man soll Wunschvorstellungen, die der Verfasser mit vielen teilt, nicht verhöhnen, aber man wüsste schon auch gern, welche ›zu diskutierenden Maßnahmen‹ unter den Bedingungen der herrschenden Unvernunft anstehen. Es lebe der Feind (und sein Begleiter)!

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er

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  • von Don Albino

    Wer schreibt, hat Gegner. Das ist ganz normal. Weniger normal, doch gar nicht selten ist Feindschaft, vor allem dann, wenn sie ins zweite und dritte Jahrzehnt geht: Dann wird sie mehr als lästig, bei manchen sogar gesundheitsbedrohend, vor allem dann, wenn sie sich auf flächendeckende Ignoranz stützen kann. Beschimpft statt gelesen – das trifft häufiger die guten als die miserablen Schriftsteller, weil … nun ja, weil es deutlich einfacher und überdies schneller geht. Es benötigt auch

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Politik / Gesellschaft

  • von Severus Magnos

    Atze ist auch so einer. Kennen Sie Atze? Nein? Dann haben Sie was verpasst! Der Typ ist ein echtes Vorbild – seit Jahren alimentierter Künstler, eigentlich Bürgergeldempfänger, weil seine »kreativen Jahre« schon lange im Museum der Vergangenheit verstauben. Sein einziger Kumpel ist ein kleiner Hund, der ihn komplett an der Leine hat. Wenn Matze vor ihm steht und mit rehbraunen Kulleraugen um Futter bettelt, dann kann er einfach nicht »Nein!« sagen. Gleich denkt er daran, wie

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  • von Jobst Landgrebe

    Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Markt für Mobiltelefonie stetig gewachsen, nach einiger Zeit gab es keine Telefonzellen mehr, und seit zehn Jahren verzichten immer mehr Privatpersonen auf einen Festnetzanschluss, da die meisten ein Mobiltelefon haben – ohne Mobiltelefon ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben deutlich schwieriger. Videoübertragung hat einen sehr hohen Bedarf an Datenübertragung geschaffen, der schließlich zur Einführung des 5G Mobilfunkstandards

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Souverän für Amerika

  • von Ulrich Schödlbauer

    Als Ionas mit einem gewaltigen Rülpser aus dem Bauch des Wals entlassen wurde, da fand er sich nicht, wie oft behauptet, an einem abgelegenen Gestade wieder, sondern im Zentrum einer volkreichen Stadt. Der Wal, geplagt von seinem Gedärme, war die Flüsse hinaufgeschwommen, solange sie ihm passierbar dünkten. Hier aber, vor einer adlergeschmückten Brücke, hatte er den point of return erreicht und verabschiedete sich von der staunenden Menge mit einer gewaltigen Fontäne,

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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